Erotikmesse
»Unter dem Begriff Non Erotik bietet die Venus Anbietern erotikfreier Produkte eine Ausstellungsplattform, die es ihnen ermöglicht, ihre Geschäftsfelder auszuweiten.«
»Ich glaube, ich bin seekrank«, ist das Erste, was ich einige Stunden später von Papa höre. »Wo ist denn die Toilette?«
Ich deute grob in irgendeine Richtung, er versucht sich aus dem Kanu zu rollen, lässt es aber stattdessen kentern, wobei ich mit dem Kopf auf das Parkett schlage, und verschwindet. Die Welt schwummert um mich herum, und ich schwöre mir, dass dies das letzte Mal war. Kein Alkohol mehr, kein Rausch, kein … meine Güte, ist mir schlecht. Kaum habe ich mich aufgerichtet und neben meinem Kleiderhaufen wieder gesetzt, fummle ich mein Handy aus der Tasche, um zu kontrollieren, ob ich etwa betrunken telefoniert habe. Auf dem Display entdecke ich eine Nachricht von Jessi, gesendet um 5:34 Uhr. »Ruf mich an.«
Die Anrufliste ist, Gott sei Dank, leer. Es ist kurz nach neun, und sicher wäre es schlau, erst mal den verdammten Wellengang um mich herum abzustellen und Jessi dann gegen Mittag anzurufen. Vorher sollte ich auch noch meinen Zeitplan überprüfen. Wegen meiner neuen Beschäftigung als Buchhalterdarsteller und der Abende bei Hip FM werde ich mich darauf konzentrieren müssen, einen Vertreter für meinen Messejob zu finden, was allerdings nicht allzu schwer sein sollte. Ich kenne die meisten anderen Moderatoren, die dafür infrage kommen, recht gut. Bleibt nur zu hoffen, dass sie nicht schon bei anderen Anbietern zugesagt haben.
Tatsächlich habe ich nach nur drei Absagen Tommy an der Strippe. Wir haben in der Vergangenheit schon einige Jobs zusammen erledigt und begegnen uns regelmäßig in den Hallen, die für unsere Kunden die Welt bedeuten. Unser Lebensstil ist recht ähnlich: unregelmäßige Jobs, die unverhältnismäßig gut bezahlt sind. Irgendwie schaffen wir es fast immer, auf die monatlichen zwei- bis dreitausend Euro zu kommen, die man heute in einer Stadt wie München als Auskommen benötigt. Gut, mit zwei ist es schon ein wenig eng, wenn allein die Miete mit knapp eins-drei zu Buche schlägt. Aber durch den Verzicht auf eine Krankenversicherung bin ich damit bisher auch zurechtgekommen. Ich muss ja nicht jeden Tag bei Tiffany’s frühstücken.
»Logisch spring ich für dich ein«, sagt Tommy also, und mir fällt ein Stein vom Herzen. Allerdings landet er auf meinem Magen – mir ist schon durch das Scrollen in meinen Kontakten etwas übel geworden, und die beim Telefonieren entstandene Notwendigkeit, ganze Sätze sprechen zu müssen, gibt mir den Rest. Trotzdem, meine Stelle als Scheinbuchhalter beim Bülander ist gesichert. »Ruf doch einfach meinen Agenten an, der macht dann die Details mit dir aus.«
»Seit wann hast denn du einen Agenten?«
»Knapp zwei Jahre. Ist doch normal.«
»Aber der nimmt dann doch Geld von dir.«
»Ja, und? Dafür verhandelt er besser als ich und treibt die Rechnungen ein.«
»Okay, dein Bier. Aber den Job kriegst du jetzt ja durch mich, und verhandelt ist das auch schon.«
»Ach so. Dann willst du jetzt die zwölf Prozent? Stimmt eigentlich. Muss ich aber mit meinem Agenten klären.«
»Nein, Mann. Ich bin doch kein Abzocker. Du hilfst mir doch. Ich meine nur, dass der Arsch dann nichts davon bekommen sollte.«
»Doch, der macht jetzt den Vertrag für mich klar.«
»Der ist klar. Alles ganz normal, ich geb denen deinen Namen und die Adresse, und dann passt das.«
»Was willst du eigentlich? Ich meine, was ich mit meiner Kohle anstelle und wem ich sie gebe, das ist mein Ding. Danke auf jeden Fall.«
Und damit war das Thema für Tommy vom Tisch. Nicht so für mich. Ich will sofort auf meinem Handy seinen Agenten googeln, muss jedoch feststellen, dass mein vom Suff und Scrollen lädierter Schädel den kleinen Bildschirm nicht länger als vier Sekunden aushält, ohne bedrohliche Schwummrigkeit und Schmerzen zu signalisieren. Meine Anfrage beim feinen Herrn Agenten, mir doch bitte zwölf Prozent seiner zwölf Prozent für die Vermittlung des Auftrags zu überweisen, muss bis morgen warten.
Somit wäre der Rest der Woche eingetütet, was bedeutet, dass ich mich in Ruhe auf den Anruf bei Jessi vorbereiten kann. Als Erstes brauche ich einen Kaffee und schlurfe dafür in die Küche. Dort sitzt mein Vater bereits vor einer Tasse und unterhält sich angeregt mit Aylin, die ihn, für meinen Geschmack, etwas zu aufmerksam betrachtet. Hondos Halterin trägt zur Abwechslung richtige Kleidung, ein seidiges Gewand, das sich zärtlich an ihre Kurven schmiegt. Als sie mich entdeckt, wendet sie mir werbewirksam den Kopf zu, und ihr dunkles Haar schwingt eindrucksvoll mit. Wäre ich eine Frau in ihrem Alter, würde ich sofort jedes Shampoo kaufen, das sie empfiehlt.
»Guten Morgen«, haucht sie in meine Richtung.
»Tag. Wie geht denn die Kaffeemaschine?«, frage ich.
»Wie alle. Tasse reinstellen, Knopf drücken, fertig.«
»Danke.«
Vielleicht stelle ich mich gerade so dämlich, weil ich sie aus ihrer Unterhaltung mit meinem Vater lösen möchte. Mir wird bei der Vorstellung unbehaglich, dass Hondo hereinkommen und die Situation vollkommen falsch interpretieren könnte.
»Wo ist eigentlich Hondo?«, frage ich vorbeugend.
»Der ist oben bei Malea. Brauchst du ihn dringend?«
Ich brauche Hondo überhaupt nicht, sondern bin im Gegenteil froh, dass er nicht hier ist.
»Ich wollte nur klären, ob es in Ordnung ist, wenn mein Vater hier ein paar Tage bleiben will«, erkläre ich, unsicher, ob das ein richtiger Satz war. »Ich bin eh schon dankbar, dass er so großzügig ist und mich hier schlafen kann.«
Da war nun definitiv ein Fehler drin, vor meinem inneren Auge erscheint das, was ich gesagt habe, in Schrift, und ich muss mich bei dem Versuch, es zu lesen, fast übergeben.
»Dann frag doch einfach mich. Ist schließlich meine Wohnung. Oder hat Hondo etwa behauptet, dass er hier das Sagen hat?«
»Nein, natürlich nicht. Ich war nur davon ausgegangen, dass er hier Miete zahlt.«
»Das stimmt. Aber nicht so, wie du dir das vorstellst.«
Aylin lächelt mich zweideutig an, obwohl, eigentlich recht eindeutig. Ich soll mitbekommen, dass sie von meinem Freund begehrt wird, und mir am besten auch gleich ausmalen, wie großartig es mit ihr im Bett wäre. Das fällt mir allerdings schwer, da mich eine Frau wie sie höchstens einschüchtern würde. Ich käme mir vor wie ein kleiner Junge, ein Schüler, der von seiner strengen Mathelehrerin in die Kunst des Liebens eingeweiht werden soll. Mein Leben lang habe ich nie Fantasien gehabt, in denen ich eine reife Frau verführe, geschweige denn von einer verführt werde. Nur einen Albtraum in der neunten Klasse, in dem meine damalige Lateinlehrerin Frau Gschwendt vorkam, die sich für ähnlich attraktiv hielt wie Hondos Allerwerteste.
»Bei dir im Haus ist nicht noch zufällig eine kleine Wohnung frei?«, wendet sich mein Vater an Aylin.
»Wieso? Willst du jetzt doch daheim ausziehen?«, mische ich mich dazwischen, um der scharfen Schabracke jede Antwortmöglichkeit abzuschneiden.
»Das habe ich dir doch gestern Abend erklärt. Ich muss noch mal leben, bevor ich auf dem Sterbebett liege und wie neunundneunzig Prozent der Menschen bedaure, meine Zeit auf Erden vergeudet zu haben.«
»Aber das hast du nicht«, setze ich dem entgegen. Ich kenne die Facebook-Meldung, in der die fünf am häufigsten bereuten Fehler Sterbender aufgezählt werden: Sie haben statt der eigenen nur die Erwartungen anderer erfüllt, zu viel gearbeitet, den Kontakt zu ihren Freunden nicht gepflegt, es sich nicht erlaubt, glücklich zu sein, und es nie geschafft, ihre Gefühle auszudrücken. Ich habe das nur belächelt, weil ich von den genannten Punkten lediglich meine Freundschaften vernachlässige, was ich zwar bedaure, aber einfach nicht besser hinbekomme. Was jedoch nicht nur an mir liegt, sondern auch an den Freunden, die mich nach und nach aufgegeben haben. All die anderen Punkte mache ich offenbar richtig – bloß glücklich bin ich trotzdem nicht.
»Wenn du was vergeudet hast, dann ist es ja wohl das Leben von Mama, wenn du sie jetzt verlässt.«
»Oder er gibt ihr die Chance, auch mal nachzuholen, was sie in den letzten zehn Jahren verpasst hat«, mischt sich nun Aylin ein.
»Entschuldige, Aylin, aber du kennst meine Mutter nicht.«
»Du genauso wenig«, knurrt mein Vater.
»Das ist voll egal«, sagt Aylin und lehnt sich zurück. »Bei mir ist nichts frei.«
Der Automat ist zum Glück mit dem Austropfen meines Kaffees fertig, und ich lasse die beiden in der Küche alleine. Vielleicht überrascht Hondo sie ja doch noch und schüttelt meinen Vater wieder zur Vernunft. Wenn die Erziehung, die er genossen hat, noch bei ihm wirkt, sollten ihm ein paar Schläge auf den Hinterkopf nicht schaden.
Ich schlurfe mit dem Kaffee in meiner leicht zittrigen Hand zurück in mein Zimmer. Dort studiere ich erneut Buchtitel in Aylins Bibliothek, in der stillen Hoffnung, doch noch einen gebundenen Lebensberater zu finden, der mir helfen kann. »The Secret«, »Einfach mehr Charisma«, »Unglücklichsein« – allein die Vorstellung, einen derartigen Titel einer Kassiererin beim Hugendubel in die Hand zu drücken, übertrifft alles, was mir an peinlichen Shoppingsituationen durch den Kopf springt (Sexshops ausgenommen, da würde ich schon beim Betreten des Ladens vor Scham erstarren). Ich erinnere mich nur zu gut daran, wie ich Jessi auf ihren Wunsch hin »Shades of Grey« besorgt habe, nicht wissend, dass es neben dem Buch von Jasper Fforde auch noch eine Hausfrauensoftsadomasotrilogie gibt, auf die mich die Verkäuferin mit einem durchschauenden »Ich glaube, Sie suchen das da« nebst einem Fingerzeig auf einen Riesenstapel Bücher aufmerksam machte. Ich konnte gar nicht glauben, dass Jessi den aktuellen Frauenbestseller lesen wollen würde, legte aber trotzdem eingeschüchtert und peinlich berührt Ffordes Werk zurück und bezahlte den weichgespülten Folterschinken, nur um ihn zwei Tage später wieder umzutauschen. Jessi hatte nicht umsonst den Namen des britischen Schriftstellers auf den Zettel geschrieben, den ich unterwegs verloren hatte. Leider hatte die Kassiererin frei, sodass ich die E. L.-James-Käufer-Schande nicht von meinen Händen waschen konnte.
Kurzentschlossen greife ich mir nun »Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest«, um es heute Abend zum Thema meiner Probesendung zu machen, und habe mich gerade gesetzt, als ich plötzlich ein Stöhnen höre, nein, ein Schreien.
Sofort lege ich Buch und Tasse zur Seite und werfe mich zu Boden, um zu horchen, ob die rhythmischen, lautstarken Lustbekundungen aus dem Zimmer unter meinem kommen. Doch vergebens, mein auf den Boden gepresstes Ohr hört nichts mehr, während das der Decke zugewandte nun umso deutlichere Hinweise auf wildes Gesexe im Obergeschoss empfängt. Das muss Malea sein. Es darf bloß nicht.
Mit drei Sätzen bin ich im Treppenhaus, nehme die Stufen in die nächste Etage im Flug und klingle, ohne auf das Namensschild zu achten, Sturm. Das scheint die beiden Liebenden in der Wohnung vor mir allerdings nur noch mehr anzustacheln.
Schließlich hämmere ich gegen die Tür, worauf die der Nachbarwohnung aufgeht und ein schweißgebadeter Hondo in Trainingshose herausspäht.
»Was geht denn mit dir ab?«, will er wissen.
»Die sind sehr laut«, stammle ich.
»Ja, und?«
»Ich dachte …«, setze ich an, bringe aber meine Vermutung, ihn und Malea gehört zu haben, nicht über die Lippen. »Ich dachte, das stört.«
»Bist du krank, oder was? Ist doch geil, wenn die noch Sex machen.«
»Wieso?«
Die Antwort kann sich Hondo sparen, denn plötzlich öffnet sich die Tür vor meiner Nase. Ein mindestens sechzigjähriger Mann starrt mich an. Er trägt einen glänzenden Satinbademantel, der im Lendenbereich noch deutlich ausgebeult ist.
»Guten Tag?«
»Tag, ich, äh …«
»Falls Sie ein Abo verkaufen wollen, muss ich Sie enttäuschen.«
»Nein, nein, ich wollte mich nur vorstellen«, stammle ich. »Ich wohne für ein paar Tage unter Ihnen. Also, unter Ihrem Schlafzimmer.«
»Oh. Haben wir Sie gestört?«
»Nein«, schaltet Hondo sich ein. »Er hat Sie gestört, und dafür muss ich mich entschuldigen. Wenn Sie wollen, schmeiß ich ihn raus.«
»Nein, nein, Hondo. Ich –«
Der rüstige Rentner – eine Alliteration, die sich, dank RTL, immer ungewollt in meine Gedanken schleicht, wenn ich einen älteren Herrn sehe, der offenbar noch ganz gut im Saft steht – bricht mitten im Satz ab und starrt an Hondo vorbei in Maleas Wohnung. Sein Blick wandert zu Hondo und wieder zurück in den Flur, dann räuspert er sich, dreht sich um und verschwindet wortlos in seiner Wohnung. Wir beide haben seine plötzliche Irritation bemerkt und wagen nun auch einen Blick in den Flur, sehen jedoch nichts und niemanden. Leicht verwundert über den plötzlichen Abgang des Alten, aber vor allem tief beschämt entschuldige ich mich für meinen Auftritt, und Hondo zischt, ob ich überhaupt wisse, wer das sei. Ich verneine und erfahre, dass es sich bei dem verständnisvollen Mann mit der lauten Partnerin um Ariel Abrahams handelt, ein sehr einflussreiches Mitglied der Jüdischen Gemeinde.
»Soll ich mich irgendwie bei ihm entschuldigen?«
»An besten, du verpisst dich ein bisschen. Ich klär das. Und wenn ich jetzt wegen dir Stress mit ihm hab, bleibst du besser verpisst. Oder ich –«
»Bitte keine Drohungen.«
»Doch, sonst nimmst du mich nicht ernst.«
»Mach ich! Echt.«
»Ja, machst du besser.« Hondo mustert mich für eine lange Sekunde. »Oder ich werd übel sauer.«
»Wie?«, frage ich leicht enttäuscht. »Das ist alles? Du willst mich nicht vierteilen, hängen, kaputt schlagen oder mir die Finger abbrechen?«
»Nein, weil dann bin ich sauer, und da hab ich halt keine Kontrolle, was ich mach. Vielleicht bind ich dich dann an mein Auto und schleif dich zu Ikea.«
Endlich mal ein Ikea-Spruch, der weder lustige Möbelnamen noch fehlende Schrauben beinhaltet. Bleibt die Frage, wie ich nun mit dem neu einquartierten Vater verfahren soll. Dass Aylin schon ihren Segen erteilt hat, behalte ich jedoch für mich, denn es wäre unklug, Hondo jetzt auch noch in dieser Hinsicht zu kompromittieren.
»Okay. Das Problem ist, dass mein Vater gerade zu Hause rausgeflogen ist, und, na ja, ich dachte, vielleicht kann er mit mir im Kanu, nur für ein, zwei Nächte …«
»Ey, was geht mit deiner Familie? Dass du prall bist, weiß ich ja, aber dass dein Vater auch so prall ist. Mann! Hast du das von ihn geerbt, oder was?«
»Wahrscheinlich.«
»Ja, gut. Ich folge Abraham, und deswegen ist mein Haus auch für deinen Vater offen«, sagt Hondo extra laut. Vielleicht hofft er, dass der berühmte Nachbar uns belauscht.
»Danke.«
Ich will mich gerade umdrehen, da sehe ich hinter Hondo eine komplett nackte Malea durch den Flur huschen.