KAPITEL 21

 

Im Labyrinth

 

Der lange, breite Korridor hinter der Sarkophagkammer erstreckte sich tief in die Finsternis. Lex und die anderen folgten dem Durchgang etwa einhundert Meter, bis sie sich auf einer Steinbrücke wiederfanden, die aus gehauenen Steinblöcken, so groß wie Häuser, erbaut war.

An den Seiten der Brücke war nichts zu erkennen, nur gähnende, schwarze Leere. Kühler Wind stieg aus der Tiefe empor. Lex richtete ihre Taschenlampe in die Dunkelheit, aber der Lichtstrahl verlor sich im Abgrund. Aus Neugier zerbrach sie einen chemischen Leuchtstab und warf ihn hinunter.

Eine ganze Weile sahen alle zu, wie das Licht hinabfiel. Als es schließlich erlosch, fiel es immer noch.

„Wie weit könnte es da runtergehen?“, fragte Connors.

Sebastian rang sich ein ironisches Lächeln ab. „Vielleicht bis in die Hölle? Falls wir nicht schon da sind.“

Miller starrte auf den riesigen Stein unter seinen Füßen. „Wir stehen auf einem einzigen, massiven Felsstück, das größer ist als ein Wal-Mart – und diese Leute haben eine Brücke daraus gebaut. Wie können so primitive Menschen sie nur hierher bewegt haben?“

„Offensichtlich…“

„Hatten sie Hilfe“, beendete Stafford den Satz. „Das sagten Sie bereits, Dr. De Rosa. Aber wer hat ihnen geholfen?“

„Eine außerirdische Intelligenz einer anderen Zivilisation“, sagte Miller.

„Aber warum?“, fragte Max. „Wenn vor Urzeiten ein weltraumfahrendes Volk auf die Erde gekommen wäre, warum sollte es dann hier herumhängen? Dieses uralte Volk mag ja eine Art Zivilisation besessen haben, aber verglichen mit einer außerirdischen Rasse, die ganze Galaxien bereist, waren es nur Primitive.“

„Genau wie wir“, gab Sebastian zurück.

Weyland humpelte an ihnen vorbei, eine Sauerstoffflasche um die Schulter geschlungen. Der Industrielle schien nicht länger an ihren Spekulationen interessiert zu sein. Max Stafford brach seine Unterhaltung mit Sebastian ab und beeilte sich, seinen Arbeitgeber einzuholen.

Am anderen Ende der Brücke stießen sie auf eine weitere Tür, eingerahmt von Platten, die noch mehr kunstvoll gearbeitete Hieroglyphen zierte.

„Das sieht bedeutend aus“, sagte Sebastian.

Die Dunkelheit hinter dem Durchgang war undurchdringlich. Lex zückte eine starke Sturmfackel und zündete sie. Das flackernde Licht hoch erhoben, führte sie die Gruppe in einen langen, breiten Gang, an dessen Seiten auf quadratischen Steinsockeln riesige, mit Jade besetzte Statuen thronten. Jede der Statuen war ein Abbild eines humanoid anmutenden Wesens, etwa zweieinhalb bis drei Meter groß, mit unglaublich breiten Schultern und Haaren, die zu langen Dreadlocks zusammengeflochten waren. Ihre Gesichter waren unterschiedlich – manche waren breit, flach und ohne bestimmte Merkmale, während andere schmale, nahe beieinander stehende Augen hatten und Münder, umrahmt von Kieferknochen, die aussahen, als gehörten sie einem Krustentier.

„Die grünen Männchen sind gar nicht so klein“, bemerkte Lex.

„Sie haben unterschiedliche Köpfe, unterschiedliche Gesichter“, fügte Staribird hinzu und sah Sebastian an. „Meinen Sie, es sind halb menschliche, halb tierische Götter, wie sie die Ägypter angebetet haben?“

Sebastian schüttelte den Kopf. „Ich denke, diese flachen Gesichter sind eigentlich Masken, vielleicht Zeremonienmasken. Diese… Krabbengesichter… könnten auch Masken sein.“

„Das hoffe ich mal“, sagte Bass.

Sebastian bemerkte, dass ein paar der Statuen in königlichen Posen dargestellt waren, aber die meisten hatten eine dynamischere Haltung und waren in einen Kampf verwickelt. Meistens gegen eine seltsame, schalentierartige Kreatur, mit langem, schmalem, augenlosem Kopf und einem knochigen, segmentierten Schwanz. Trotz des überirdischen Stils und Kunstgespürs, war es offensichtlich, dass bei jeder Skulptur die Humanoiden die zentrale Figur darstellten.

„Wie der heilige Georg“, staunte Stafford.

„Der englische Ritter, der den Drachen erschlagen hat?“, fragte Miller und starrte an der Statue hoch.

„Der heilige Georg war Türke… nun, eigentlich Kappadokier“, meinte Sebastian. „Er wurde in Kleinasien geboren, aber später, im vierzehnten Jahrhundert, wurde er tatsächlich der Schutzpatron von England.“

„Erkennen Sie das auf ihren Schultern?“, fragte Lex.

Die Kreaturen trugen eine Art Schulterfassung – die Kanonen waren eine exakte Nachbildung der Geräte, die Weyland und seine Männer aus dem Sarkophag geplündert hatten. Durch seine dicken Brillengläser blinzelnd, untersuchte Miller die Statuen.

„Diese Waffen sind ungefähr in Lebensgröße gemeißelt“, flüsterte er und blickte dabei in die blinden Steinaugen einer der Plastiken. „Das macht unsere Freunde hier zu ziemlich großen Kerlen.“

Sebastian führte sie zu einem großen Wandgemälde, auf dem Menschen abgebildet waren, die sich flehend vor den Riesen niederwarfen. Max Stafford schaute ihm über die Schulter.

„Wir haben diese Dinger angebetet?“

„Dem hier zufolge haben wir das getan.“

„Das waren sicher nur heidnische Götter“, sagte Weyland, der über all den Spekulationen plötzlich die Geduld verlor. Er ging weiter, aber Miller holte ihn ein.

„Diese Erwärmung, die ihr Satellit entdeckt hat, ergibt jetzt natürlich mehr Sinn“, sagte der Ingenieur.

„Was meinen Sie damit?“, fragte Weyland.

„Eine so fortschrittlich gebaute Anlage müsste über eine gewaltige Energiequelle verfügen. Das ist es, was Ihr Satellit aufgespürt hat – das Kraftwerk für diese Pyramide heizt auf… wird vorbereitet.“

„Vorbereitet worauf?“

Weyland und Miller gingen weiter. Sebastian blieb zurück, um eine verzierte Platte zu begutachten. Bald waren alle, außer Connors und Stafford, den Gang hinuntergegangen.

„Versuchen Sie, Schritt zu halten, Professor De Rosa“, warnte Max.

Während sie weitergingen, bewegte sich die Gruppe in der Mitte des langen Korridors, der mit Statuen gesäumt war. Sebastian zählte über sechzig von ihnen, bevor er schließlich aufgab. Weitere Steinplastiken säumten den Gang, so weit das Auge reichte – und der Gang erschien endlos.

Plötzlich spürte Lex einen kalten Schauer. Sie schnellte herum und hob ihre Taschenlampe. Der Lichtkegel erforschte die Finsternis.

„Haben Sie etwas gesehen?“, fragte Miller nervös.

Lex spähte ins Dunkel. „Ich dachte, ich hätte etwas Verschwommenes gesehen, einen Schatten oder so. Aber wenn, dann ist es jetzt fort. Der Gang ist leer.“

„Ich kann gar nicht glauben, wie detailliert manche dieser Figuren sind“, sagte Sebastian. „Manche der Skulpturen sollen wohl naturgetreue Nachbildungen sein, während andere nur angedeutete, ja abstrakte Züge tragen. Ich vermute, der Kunststil hat sich über die Jahrhunderte verändert.“

Während sie weiter vordrangen, fielen Stone und Bass ans Ende der Gruppe zurück, während Lex und Verheiden die Spitze bildeten.

Sebastian, Charles Weyland, Max Stafford, Miller und Connors blieben in der Mitte der Gruppe, geschützt von den Söldnern und deren Maschinenpistolen.

Sobald die Menschen weitergezogen waren, durchquerte der Predator, der hinter ihnen her geschlichen war, den Durchgang und näherte sich seiner Beute.

Auf der anderen Seite des Korridors, den Menschen weit voraus, wurde ein anderer Predator sichtbar. Sein Gesicht überlagerte kurz die Züge einer Steinstatue, dann löste er sich wieder auf.

Die Falle war bereit zuzuschnappen und im undeutlichen Licht der flackernden Signalfackel konnten die Menschen unmöglich ahnen, dass sie in den sorgfältig vorbereiteten Hinterhalt der Predatoren liefen.

 

 

Die Piper Maru

 

Auf der Brücke brannten die Lichter und trotz der Tatsache, dass das Schiff vor Anker lag, arbeitete eine ganze Offiziersmannschaft an Deck. Der Radarspezialist startete unzählige, vergebliche Versuche, die dichte Schneewand zu durchdringen, während der Bordmeteorologe versuchte, die Dauer des Sturms anhand bruchstückhafter Daten zu errechnen.

„Schon ein Ende in Sicht?“, fragte Kapitän Leighton.

„Vermutlich noch vier Stunden. Allerhöchstens sechs“, sagte der Meteorologe. „Aber das ist nur eine Schätzung.“

Kapitän Leighton durchquerte die Brücke und ließ eine schwere Hand auf die Schulter des Funkers fallen.

„Irgendein Signal? Irgendetwas?“

„Nichts, Kapitän… nichts mehr seit der ersten Nachricht. Der, die der E. O. aufgefangen hat.“

Leighton wandte sich an seinen ersten Offizier. „Was genau haben Sie gehört, Gordon?“

„Nicht viel“, antwortete der Erste. „Die Übertragung wurde vom Sturm unterbrochen. Es gab eine Menge atmosphärischer Störungen. Ein paar panische Stimmen… nichts Zusammenhängendes.“

„Sind Sie sicher, dass der Ruf von der Walfangstation kam?“

„Sie haben sich als Mitglieder von Quinns Mannschaft identifiziert. Sagten, etwas hätte sie angegriffen… oder ein paar von ihnen… den Rest konnte ich nicht wirklich verstehen. Ich habe versucht zu antworten, aber ich glaube nicht, dass sie mich gehört haben. Danach bekam ich nur noch statisches Rauschen.“

„Ein Angriff? Lächerlich“, schnaubte Leighton. „Wer könnte da unten denn einen Angriff starten. Mitten in einem katabatischen Sturm?“

„Vielleicht waren es die, die über unser Schiff hinweggerauscht sind“, entgegnete der E. O.

Leighton starrte in den Sturm hinaus. „Wir haben zu viele Fragen und zu wenig Antworten. Und wir werden auch keine Antworten bekommen, solange dieser Sturm nicht aufhört und wir nicht über das Eis zur Walfangstation gehen und selbst nachsehen können.“ Der Kapitän unterbrach sich und rieb sich die müden Augen. „Und dann kommen wir vielleicht zu spät.“