KAPITEL 11

 

Bouvetoya- Walfangstation,

Insel Bouvetoya

 

Als Lex und Miller die eingefrorene Messe verließen, hörten sie lautes Rufen.

„Hier drüben! Das werdet ihr nicht glauben.“

Es war Sebastian. Quinn und Connors ließen alles stehen und liegen, als sie ihn hörten. Weyland rannte ebenfalls hinzu, mit Max Stafford an seiner Seite.

Lex’ Blick folgte dem Milliardär, als er über das schneebedeckte Eis lief. Sie bemerkte, dass er Schwierigkeiten hatte, sich zu bewegen. Er schien außer Atem zu sein und stützte sich schwer auf seinen Eisstock. Als er sprach, klang seine Stimme jedoch so energisch wie immer. „Was gibt’s, Dr. De Rosa?“

Sebastian führte sie alle um die Ecke einer verfallenen Weiterverarbeitungsanlage und deutete in den Schnee. Dort, mitten im Eis, gähnte ein vier Meter breites Loch. Es war kreisrund und wenn es einen Boden haben sollte, lag dieser tief unten im Schatten verborgen.

Weyland sah verwirrt zu Quinn und dann zu den mobilen Bohrplattformen, die noch immer ausgepackt und montiert wurden.

„Wie zum Teufel ist das hierher gekommen?“

Quinn kniete sich nieder und untersuchte das Loch. „Es ist in einem perfekten Fünfundfünfzig-Grad-Winkel gebohrt.“ Er zog seine dicken Handschuhe aus und strich mit der Hand über die Wand des Schachtes. Die Eiswände waren spiegelglatt, als wären sie abgeschliffen.

Lex blickte Quinn über die Schulter. „Wie tief geht’s da runter?“

Sven zündete eine Signalfackel an und warf sie in das Loch. Sie sahen zu, wie sie von den glatten Wänden abprallte und mehrere Sekunden lang fiel, bis das phosphoreszierende Leuchten der Fackel von der Dunkelheit verschluckt wurde.

„Mein Gott“, sagte Weyland leise.

Max Stafford sah zu Dr. De Rosa. „Werden wir erwartet?“

Weyland tat diese Bemerkung mit einer Handbewegung ab. „Es muss ein anderes Team sein. Ich bin nicht der einzige mit einem Satelliten über der Antarktis. Vielleicht die Chinesen… die Russen…“

„Da war ich mir nicht so sicher“, sagte Lex und starrte dabei in den Abgrund.

„Was für eine Erklärung könnte es sonst dafür geben?“, beharrte Weyland.

Lex schaute auf die Geisterstadt und die kahlen Eisfelder drumherum. „Wo ist ihr Basislager? Ihre Ausrüstung? Wo sind sie?“

Max Stafford zuckte mit den Achseln. „Vielleicht sind sie schon da unten.“

Quinn beugte sich wieder hinunter, um die Öffnung des Schachtes zu inspizieren. „Sehen Sie sich das Eis an. Da sind keine Kerben, keine Bohrspuren. Die Wände sind absolut glatt – das wurde nicht gebohrt.“

„Wie wurde es dann gemacht?“, fragte Lex.

Quinn sah zu Lex auf. „Irgendein Hitzestrahler.“

Weyland nickte. „So wie Ihrer.“

„Weiter entwickelt“, entgegnete Quinn. „Unglaublich stark. Ich habe so etwas noch nie gesehen.“

Quinn schaltete seine Taschenlampe ein und richtete den Strahl auf ein Gebäude in der Nähe des Schachtes. Ein großes, rundes Loch war hineingeschnitten worden, hatte die starken Holzwände versengt und die Metallmaschinen im Inneren schmelzen lassen. Anhand der Flugbahn war zu erkennen, dass sich das, was immer sich durch das Eis geschnitten hatte, auch durch das Gebäude gebrannt hatte.

„Ich sagte Ihnen ja, dass ich nicht der Einzige mit einem Satelliten bin. Es muss ein anderes Team sein“, wiederholte Weyland. Er blickte zu Quinn. „Wer immer das sein mag, sie sind eindeutig besser ausgerüstet als wir.“

„Hören Sie“, gab Quinn zurück und stellte sich vor den Milliardär. „Wer immer auch dafür verantwortlich ist. Er hat das Packeis in Stücke geschnitten, das Gebäude, die Balken und die ganzen massiven Maschinen. Wir sollten herausfinden, was das verursacht hat, bevor wir weitermachen.“

Max Stafford und Quinn fixierten einander. „Und ich dachte, Sie wären der Beste.“

Quinn wurde wütend. Er streckte sich und baute sich herausfordernd vor Stafford auf.

„Ich bin der Beste.“

Weyland ging an Quinn vorbei und starrte in das Loch. „Sie müssen da unten sein.“

Lex untersuchte das Eis am Rand des Loches. „Nein. Sehen Sie sich das Eis an. Keinerlei Kerben… da ist niemand runter.“

Weyland verzog das Gesicht. „Wann kommt der Big Bird-Satellit wieder vorbei?“

Max Stafford sah auf seine Uhr. „Vor elf Minuten.“

„Holen Sie New Mexico ans Rohr. Ich brauche die Daten.“

Während Max mit dem Download des Computerberichts begann, bewegte Quinn einen der Hägglunds nach vorn und richtete dessen Suchscheinwerfer auf den gähnenden Schlund.

Miller und ein paar Roughnecks versammelten sich um das Loch, um hinunter zu sehen, aber Connors winkte sie fort.

„Dass mir da bloß keiner reinfällt. Euch da wieder rauszuholen, war eine verdammte Zeitverschwendung.“

Weyland lehnte gerade an dem Fahrzeug, als Max Stafford mit Computerausdrucken und Satellitenbildern in der Hand auftauchte. Er breitete die Ausdrucke auf der Haube des Hägglunds aus und Quinn, Sebastian, Lex, Miller und Verheiden bildeten einen Kreis drumherum.

„Da ist es, klar und deutlich.“ Weylands Finger folgten einer roten Linie quer über die Karte und direkt zu den überlappenden Quadraten.

„Und gestern um diese Zeit?“

Max breitete einen zweiten Ausdruck aus. Weyland sah ihn sich genau an. „Nichts.“

Sebastian schielte auf die Karte. „Wer immer dieses Loch gegraben hat, er hat es in den letzten vierundzwanzig Stunden getan.“

„Das ist einfach nicht möglich“, meinte Quinn.

„Tja, möglich oder nicht. Es ist da. Es ist getan worden“, sagte Sebastian.

Sebastian und Quinn starrten einander an und auf Quinns gebräunter Stirn trat eine Ader hervor.

„Ich versichere Ihnen: Es gibt auf der ganzen Welt kein Team und keine Maschine, die in vierundzwanzig Stunden so tief graben könnte.“

Charles Weyland trat zwischen die beiden. „Der einzige Weg, sicher zu sein, ist hinunterzugehen und es herauszufinden.“

Dann wandte sich Weyland an den Rest der Gruppe. „Also, Gentlemen“, sagte er laut genug, um von allen gehört zu werden. „Es sieht so aus, als würden wir bei einem Rennen mitmachen. Sollte das ein Wettstreit sein, habe ich nicht vor, ihn zu verlieren…“

Weyland hustete. Auf einmal beugte er sich vor und presste die Hände auf den Magen. Sein Körper wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt. Max hielt seine Schulter, als Weyland den Reiz unterdrückte und wieder Kontrolle über seine Atmung bekam.

„Okay, an die Arbeit. Ich will wissen, was da unten ist und ich will es innerhalb der nächsten Stunden wissen.“ Weylands Stimme war schwächer geworden, aber in seinen Augen leuchtete noch dasselbe Funkeln wie zuvor.

Als Weyland zu der Tür des Hägglunds stapfte, streckte er seine Hand aus und drückte Max Staffords Arm. „Für den zweiten Platz gibt’s keinen Preis“, krächzte Weyland. „Verstehen Sie das, Max?“ Max nickte nur kurz. „Meine Männer sind bereit, Sir.“

In dem Bereich um das Loch herrschte jetzt rege Geschäftigkeit. Weitere Hägglunds waren herangefahren worden und ihre Scheinwerfer machten die nicht enden wollende Dunkelheit zum Tag. Die Roughnecks luden Seile ab und bauten ein System aus mehreren Winden und Flaschenzügen zusammen, das direkt über dem Schacht auf einen metallenen Dreifuß montiert wurde.

Lex schlug gerade Haken ins Eis, als Miller ankam, der eine Palette mit seiner Chemieausrüstung mit sich schleppte.

„Was machen Sie da?“, fragte er.

„Sicherheitsleinen“, antwortete Lex. „Ist ein weiter Weg da runter… ich will keinen von euch verlieren.“

Miller packte seine Ausrüstung aus, nahm dabei seine Wollmütze ab und kratzte sich am Kopf.

„Setzen Sie Ihre Mütze wieder auf.“

„Hä?“

„Ihre Mütze“, sagte Lex. „Los, wieder aufsetzen.“

„Sie juckt.“

Lex machte eine Pause und ließ ihren Hammer sinken. „Ich habe einen Mann gesehen, dem beide Ohren abgefroren sind“, sagte sie trocken. „Wenn der Gehörgang freiliegt, kann man direkt in den Kopf hineinsehen… bis zum Trommelfell.“

Lex lächelte süßlich, steckte den Hammer in ihren Gürtel und spazierte davon. Miller zog sich seine Mütze über die Ohren.

Lex kämpfte sich an den Roughnecks vorbei, überquerte den hell erleuchteten Bereich und ging zum vordersten Hägglund. Als sie die Tür öffnete, fand sie Charles Weyland in der Kabine vor. Er war allein und atmete Sauerstoff aus einer tragbaren Flasche. Lex stieg in das Fahrzeug und Weyland ließ die durchsichtige Plastikmaske sinken.

„Ich bin gerade etwas… unpässlich“, krächzte er kleinlaut.

Lex schloss die Tür und setzte sich neben ihn.

„Wie schlimm ist es?“

Weyland sah auf, der Blick trübe vom chronischen Schmerz. „Schlimm.“

„Auf dieser Expedition ist kein Platz für Kranke.“

„Meine Ärzte versichern mir, dass das Schlimmste bereits überstanden ist.“

Lex schüttelte den Kopf. „Sie sind kein besonders guter Lügner, Mr. Weyland. Bleiben Sie auf dem Schiff. Wir werden Sie zu jeder vollen Stunde auf dem Laufenden halten.“

Weyland ging durch die Kabine und versorgte die Sauerstoffflasche in einem Fach. Als er sich wieder Lex zuwandte, brannte bereits etwas von dem alten Feuer in seinen Augen.

„Wissen Sie“, begann er, „wenn Sie krank werden, fangen Sie an, über Ihr Leben nachzudenken und darüber, wie man sich an Sie erinnern wird. Und wissen Sie, was ich begriffen habe? Was passieren wird, wenn ich abtrete, was recht bald geschehen wird? Ein zehnprozentiger Abfall der Weyland Industries Aktienwerte… möglicherweise auch zwölf, obwohl ich mich damit selbst lobe…“

Weyland ließ sich auf einen Sitz fallen. Sorgenfalten legten sich auf seine hohe Stirn.

„Dieser Sturz der Aktienpreise dürfte etwa eine Woche anhalten, bis die Mitglieder im Ausschuss und die Wallstreet bemerkt haben, dass auch ohne mich alles reibungslos läuft. Und das wär’s dann. Vierzig Jahre auf dieser Erde und nichts vorzuweisen.“

Weyland wies mit dem Kopf auf das geschäftige Treiben draußen. „Das ist meine letzte Chance, etwas zu hinterlassen. Ein Zeichen zu setzen…“

„Selbst, wenn es Sie umbringt?“

Der Milliardär streckte seine Hand aus und drückte ihren Arm. In seinem Griff spürte Lex die schwindende Kraft eines sterbenden Mannes.

„Das werden Sie nicht zulassen“, sagte er.

„Sie können nicht mit“, erwiderte Lex.

„Ich brauche das.“

Lex seufzte. „Ich habe diese Rede schon mal gehört. Mein Dad hatte sich das Bein gebrochen. Zweihundert Meter unterhalb vom Gipfel des Mount Rainier. Er war wie Sie – er wollte nicht zurück oder dass wir anhalten…“

Sie machte eine Pause, als die Erinnerungen in ihr hochkamen und mit ihnen die Traurigkeit.

„Wir erreichten den Gipfel und er öffnete eine Flasche Champagner. Den ersten Schluck mit meinem Vater trank ich in viertausendvierhundert Metern Höhe… Auf dem Weg hinab bildete sich ein Blutgerinsel in seinem Bein, das in seine Lungen wanderte. Er quälte sich über vier Stunden, bevor er zwanzig Minuten vom Basislager entfernt starb.“ Lex wischte sich eine Träne von der Wange.

Weyland legte seine Hand auf ihre Schulter. „Glauben Sie, das war das Letzte, was Ihrem Vater durch den Kopf ging? Der Schmerz? Oder der Gedanke daran, in viertausend Metern Höhe mit seiner Tochter Champagner zu trinken?“