KAPITEL 3
Mount Everest, Nepal
Für Bergsteiger gab es zwei Möglichkeiten, um den Khumbu-Eisfall hinaufzukommen. Der praktische Weg, den 1200 Meter hohen, gefrorenen Wasserfall zu erklimmen, wurde von den „Icefall Doctors“ der Sherpas geebnet. Diese meisterhaften Bergsteiger erkundeten den Weg im Voraus, legten Aluminiumleitern über tiefe Spalten, setzten Eishaken und verankerten Halteleinen, sodass die Bergsteiger, mit der gebotenen Vorsicht, gut vorankamen – selbstverständlich begleitet von ihren erfahrenen Sherpa-Führern.
Der tollkühne Weg, den wohl gefährlichsten Ort des Everests zu bezwingen, war, das Eis alleine zu betreten, am Fuß des Eisfalls loszulegen und den Aufstieg zu beginnen, indem man seine eigenen Eishaken setzte und unterwegs selbst die Halteleinen auswarf, in der Hoffnung, dass es keine tiefen Spalten zu überbrücken galt. Bei dieser Art des Aufstiegs würde jeder, der in einen Eisrutsch geriet, von einer Lawine begraben oder von einer Spalte, die sich ohne Warnung auftat und wieder schloss, verschluckt werden (alles recht alltägliche Vorkommnisse am Khumbu) und solange an Ort und Stelle eingefroren bleiben, bis die globale Erwärmung den ganzen Planeten auftauen würde.
Für diese Art des Aufstiegs hatte sich Alexa Woods entschieden.
Nach stundenlanger Kletterei erschien die einsame, schlanke Gestalt der jungen Frau nur als kleiner Fleck in der breiten, schimmernden Wand aus Eis. Der Wind peitschte jetzt mit hundertdreißig Stundenkilometern in ihr Gesicht, während sie knapp dreißig Meter unter dem Gipfel des Eisfalls baumelte.
Mit einem kontrollierten Schwung ihres schmalen, muskulösen Arms trieb Lex die Spitze ihres Grivel Rambo-Eispickels in den gefrorenen Wasserfall. Als sich das Metall im Eis verbiss, sickerte Wasser hervor und erinnerte Lex daran, dass unter dieser eisigen Schale Tonnen frischen Wassers aus dem Berg quollen. Nahezu die Hälfte aller tödlichen Unfälle auf dem Everest ereigneten sich hier auf den sich verschiebenden Wänden des Khumbu, aber dieser Gedanke konnte den Rhythmus ihres Aufstiegs weder verzögern noch aufhalten. Für Lex war das Universum mit all seinen aufreibenden Unwägbarkeiten auf einige wenige sparsame Bewegungen zusammengeschmolzen: Eispickel schwingen, Steigeisen festtreten, das Seil fassen und sich hinaufziehen. Jede Bewegung erfolgte ruhig, vorsichtig und durchdacht.
Lex war von Kopf bis Fuß in einen Extremwetteranzug gehüllt. Sie stieß die Spitzen der Steigeisen, die an ihre Stiefel geschnallt waren, in die eisige Wand und befestigte, als ein Strom frischen, kalten Wassers aus dem Loch, das ihr Pickel geschlagen hatte, sprudelte, ihre Sicherheitsleine mit einem Eishaken. Dann machte sie eine Pause. Obwohl sie dabei Erfrierungen riskierte, zog sie die Maske, die ihre feinen Züge bedeckte, herunter und näherte ihren Mund dem zum Eis.
Das klare, fast gefrorene Wasser erfrischte und belebte sie. Nachdem sie ihren Durst gelöscht hatte, stopfte Lex ihre langen, dunklen Locken wieder unter die Thermomaske und zog sie über ihr Gesicht. Sie hing am Seil, der Haltegurt drückte gegen ihre Brüste und Lex lauschte dem steten Wind und dem Schlagen ihres Herzens.
Von ihrem eisigen Standort aus sah die prächtige und rohe Topografie dieses zerklüfteten Ökosystems unbewohnbar aus. Eine unberührte Weite aus Schnee und Eis, die nur von schwarzen Granitbergen durchbrochen wurde, die so hoch waren, dass ihre Gipfel selbst die Wolken überragten. Und doch wusste Lex, dass diese scheinbar unwirtliche Landschaft bewohnt war. Es war die angestammte Heimat der Sherpas, dem „Volk des Ostens“, dessen Gesellschaft und Kultur so alt waren wie Tibet selbst. Tausende Sherpas lebten in dem bedrohlichen Khumbu-Tal, pflanzten Kartoffeln und hüteten Yaks im Schatten des Berges, den sie verehrten.
Bevor die Menschen aus dem Westen kamen, hatten die Sherpas ihre Yak-Herden über die Berge geführt, entlang gefährlicher, ständig wechselnder Routen, um mit den Völkern Tibets Wolle und Leder zu handeln. Heute riskierten ihre Nachkommen routinemäßig ihr Leben, um internationalen Touristengruppen, die herbeiströmten, um den Everest zu besteigen, als Führer zu dienen – und diejenigen zu retten, die in Gefahr gerieten.
Die Sherpas, dieses kleine, stämmige Volk mit mongolischen Zügen, waren das Rückgrat jeder Bergsteigerexpedition, die im Himalaya angegangen wurde. Ihre Fertigkeit und ihr Stehvermögen waren legendär und man nannte sie die „Götter des Berges“. Und obwohl sie ständigen Kontakt mit der modernen Welt hatten, behielten die Sherpas ihre traditionellen Werte und Gebräuche bei; dafür bewunderte sie Lex.
Als tibetische Buddhisten der Nyingmapa-Sekte sorgten die Sherpas noch immer selbst für ihre Nahrung. Yak-Herden boten Wolle für die Kleidung, Leder für die Schuhe, Knochen zur Werkzeugherstellung, Dung als Brennmaterial und Dünger und Milch, Butter und Käse zur Stillung des Hungers.
Die meisten Sherpas, die in den Bergen arbeiteten, sprachen Englisch und Lex hatte schon viele Mahlzeiten, sei es Daal Bhaat – Reis mit Linsen – oder den schmackhaften Shyakpa genannten Yak-Kartoffel-Eintopf, mit den kühnen Icefall Doctors und Pfadfindern, Trägern und Führern und Helfern in der Not geteilt, die am Fuße des Everest lebten. Als offenes und selbstloses Volk waren die Sherpas mit ihren Geschäftsgeheimnissen ebenso freigiebig wie mit dem stark gezuckerten Tee, den sie aus westlichen Thermosflaschen tranken, oder dem Reisbier namens Chang, das in jedem Sherpa-Haushalt gebraut wurde.
Ein Großteil der Verwandtschaft, die Lex zu den Sherpas verspürte, beruhte auf ihrem gemeinsamen Beruf. Ihre Arbeit – Survival-Trainingskurse und Führungen auf wissenschaftlichen Expeditionen in die antarktische Wildnis – war das moderne Gegenstück zu dem uralten Gewerbe der Sherpas. Und wie jene der Sherpas war auch die Tätigkeit, mit der Lex ihren Lebensunterhalt fristete, nicht frei von Risiken. Wenn sie einen Fehler beging, ja sogar, wenn sie keinen machte, war der Tod im extremen Klima des Himalayas ein ständiger Begleiter und konnte jederzeit zuschlagen.
Auch wenn er jetzt zahmer war als je zuvor in seiner grausamen Geschichte, war der Mount Everest noch immer ein unberechenbarer Killer und würde es für alle Zeit bleiben. Hunderte Leichen lagen auf den zackigen Spitzen und höheren Gipfeln verstreut oder unter Tonnen von Eis und Schnee begraben, wo sie niemals gefunden werden würden. Die meisten dieser Körper gehörten zu den Sherpas.
Für Lex bot der eigene Tod nur wenig Schrecken. Sie hatte andere sterben sehen, darunter Personen, die sie geliebt hatte, und viele Male wäre sie beinahe selbst umgekommen. Dem Tod so oft ins Auge zu blicken hatte irgendwie seine Macht geschwächt und die Angst vor ihm verringert. Der eigene Untergang war etwas, das Lex hinnehmen und akzeptieren konnte. Was sie jedoch nicht ertragen und niemals hinnehmen konnte, war der Tod eines anderen Menschen unter ihrem Kommando.
Ein plötzlicher, heftiger Windstoß und der folgende Staubregen aus Schnee setzten Lex’ Adrenalinreserven frei. Sie zog ihren Kopf ein und lauschte nach dem verräterischen Grollen, das eine Lawine ankündigte. Als diese ausblieb, holte sie tief Luft und machte sich daran, ihren Aufstieg fortzusetzen.
In diesem Moment klingelte das GSM-Handy an ihrem Gürtel und brach wie eine mechanische Explosion in die epische Landschaft dieser natürlichen Welt herein.
Les fluchte eine leise Tirade von Schimpfworten. Dann hängte sie ihren Eispickel ums Handgelenk und griff hinunter, um auf die Digitalanzeige des Telefons zu sehen. Lex erkannte die aufleuchtende Nummer nicht und wollte den Anruf schon ignorieren, aber das Gerät klingelte weiter. Also zog sie ihre Maske ab und stülpte sich ein Headset über.
„Wer ist das?“ fragte sie fordernd.
Die Stimme am anderen Ende war samtweich, bestimmt und hatte einen ausgeprägten britischen Akzent.
„Miss Woods? Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen.“
Lex stopfte ihre Maske in eine Tasche und kletterte weiter, ohne zu antworten.
„Mein Name ist Maxwell Stafford“, schnurrte der Mann. „Ich handle im Auftrag von Weyland Industries.“
„Lassen Sie mich raten“, fauchte Lex, während sich ihr Pickel ins Eis bohrte. „Ihr verklagt uns schon wieder?“
„Sie missverstehen mich. Ich spreche für Mr. Weyland selbst.“
„Was will einer der größten Umweltverschmutzer der Welt von uns?“
„Mr. Weyland interessiert sich für Sie persönlich, Ms. Woods.“
Lex stemmte ihre Steigeisen ins Eis und ergriff mit beiden Händen die Sicherheitsleine.
„Er bietet an, die Stiftung, mit der Sie assoziiert sind, für ein ganzes Jahr zu finanzieren“, sagte Maxwell Stafford. „Wenn Sie sich mit ihm treffen.“
Lex zögerte für einen Moment. Als professionelle Führerin und Forscherin hatte sie sich schon vor langer Zeit der Stiftung der Wissenschaftler für den Umweltschutz verschrieben, einer internationalen Gruppierung, die sich für den Erhalt allen Lebens – menschlich oder nicht – auf der Erde einsetzte. Überall auf der Welt verschwanden Spezies in alarmierend hohen Zahlen. Lex stimmte mit den Mitgliedern der Stiftung überein, die fest daran glaubten, dass der Verlust einer jeden Spezies die Überlebenden einem größeren Risiko aussetzte.
Wie das Seil, an dem Lex baumelte, war auch die Stiftung für viele eine Rettungsleine – der entscheidende Faktor zwischen der Gewissheit des Lebens und der Endgültigkeit des Todes. Und auch wenn sich dieses Angebot wie ein Geschäft mit dem Teufel anhörte, begann sie doch zu grübeln, was für ein Geschäft das sein könnte. Mit Weylands Geld wäre die Stiftung, die sie so liebte und die Gefahr lief selbst auszusterben, in der Position, ein paar wirklich bemerkenswerte Dinge zu bewegen.
„Wann?“
„Morgen.“
„Ich nehme an, Sie wissen, wie sehr wir dieses Geld brauchen“, entgegnete Lex. „Aber Morgen könnte ein Problem werden. Ich werde eine Woche brauchen, um wieder in die Zivilisation zurückzugelangen.“
Während sie sprach, kletterte Lex weiter hinauf. Nur wenige Meter über ihr lag der Gipfel des Khumbu, der höchste Punkt des Eisfalls – ein gefrorener Fluss, der eine eisige Fläche von der Größe eines Tennisplatzes bildete.
„Das habe ich Mr. Weyland bereits mitgeteilt“, sagte Staribird.
Lex schwang ihren Eispickel, trat in das Steigeisen und zog sich am Seil hoch.
„Was hat er gesagt?“, fragte sie zwischen zwei Zügen.
„Er sagte, dass wir keine Woche haben.“
Lex warf ihren Arm über die Kante des Eisfalls und zog sich auf den Gipfel – und starrte plötzlich auf ein sauberes Paar brauner Oxford Brouges. Immer noch baumelnd, blickte Lex auf und sah in das Gesicht eines gut aussehenden Schwarzen in leichter Winterkleidung. Hinter ihm stand ein Bell 212-Helikopter mit offenen Türen in Wartestellung.
Lex löste ihre Sicherheitsleine und ergriff die Hand, die ihr der Mann entgegenstreckte. Erstaunlich mühelos hob er sie über die Kante und stellte sie aufs Eis.
„Hier entlang, Ms. Woods“, sagte Maxwell Stafford und deutete auf den Helikopter, der den Motor aufheulen ließ.
Stafford nahm Lex’ Arm, führte sie zum Hubschrauber und schrie, um unter dem Motorengebrüll gehört zu werden.
„Mr. Weyland brennt darauf loszulegen.“