KAPITEL 6
Die Piper Maru,
500 Kilometer vor der Insel Bouvetoya
Noch bevor Charles Weyland seine Privatkabine erreichte, begann er zu keuchen. Mit tränenden Augen presste er sein Kinn auf die Brust und unterdrückte ein Husten. Weyland bezweifelte, dass er wieder damit aufhören könnte, wenn er jetzt damit anfing. Also kämpfte er den Drang unter größter Beherrschung nieder. Er torkelte und ging beinahe zu Boden. Das Neuner-Eisen fiel klappernd auf das Stahldeck.
Dann griff ein starker Arm um seine Hüfte und eine tiefe Stimme raunte in sein Ohr: „Stützen Sie sich auf mich.“
„Ich bin okay, Max“, schnaufte Weyland.
Etwas ruhiger schob er Max beiseite und richtete sich wieder zu voller Größe auf. „Reichen Sie mir meinen Schläger und öffnen Sie die Tür, bevor mich jemand so sieht.“
Weyland benutzte den Schläger als Gehstock und humpelte in seine Kabine. Schnell schloss und verriegelte Max die Tür hinter ihnen und half Charles Weyland in einen gepolsterten Ledersessel. Max lehnte das Neuner-Eisen gegen die Wand und reichte seinem Chef eine durchsichtige Sauerstoffmaske. Weyland machte ein paar lange, tiefe Atemzüge und sein Gesicht gewann wieder etwas an Farbe.
„Danke“, sagte er zwischen den Zügen.
Als er seine Kräfte wiedererlangte, legte Weyland die Maske ab und sah sich in der Privatkabine um, die eher einer Krankenstation glich. Seine Nase kräuselte sich, wegen des medizinischen Gestanks dieses Krankenzimmers.
„Den Spiegel, bitte.“
Max rollte einen mobilen Waschtisch mit einem Spiegel an Weylands Sessel heran und trat zurück. Weyland starrte einen Moment lang auf sein fahles Spiegelbild und sank dann wieder in seinen Sessel und noch tiefer in seine Erinnerungen.
Mit einundzwanzig hatte Charles Weyland bereits einen Harvardabschluss in Wirtschaft und Verwaltung und eine kleine Satellitenüberwachungsfirma gehabt, die er von seinem Vater geerbt hatte. Zwei Jahre später hatte er die Konzession für eine Kabelfirma im Mittleren Westen und dann ein Telekommunikationsnetz in Nevada erworben. Innerhalb eines Jahrzehnts scharfsinniger, wohl kalkulierter Expansion war Weyland Industries das größte Unternehmen für Satellitensysteme in der Welt geworden, mit einem Wert von über dreihundert Milliarden Dollar. Nachdem er sein finanzielles Imperium in Sicherheit wusste, hatte sich Charles Weyland aufgemacht, die Welt zu verändern.
„Die Grenzen des menschlichen Strebens erweitern“ war nicht nur der Wahlspruch von Weyland Industries, sondern die Essenz von Charles Weylands Weltanschauung. Seine Mutter war gestorben, bevor er zwei Jahre alt war, und er wurde von diversen Kindermädchen aufgezogen, immer unter dem kalten Blick seines strengen, agnostischen Vaters. Elterliche Liebe oder der Glaube an eine höhere Macht blieben Weyland von jeher versagt. So hatte er im Fortschritt seine Religion gefunden und geschworen, seinen Reichtum für die Ausweitung der Grenzen der menschlichen Zivilisation einzusetzen.
Zu diesem Zweck hatte er begonnen, ein Doppelleben zu führen. Der öffentliche Charles Weyland schmiss verschwenderische Parties, erschien zu Eröffnungen und Benefizveranstaltungen und kaufte Luxushotels in San Francisco, Paris und London. Der Milliardär Charles Weyland baute ein Kasino in Las Vegas und war fester Bestandteil der High Society-Seiten, ein oberflächlicher Playboy, der immer eine wunderschöne Frau im Arm hatte und sein typisches Neuner-Eisen über der Schulter. Aber ebenso wie die Hotels, das Kasino und der Golfclub waren diese Frauen bloß Staffage. Teil einer ausgeklügelten und sorgfältig berechneten Illusion, die es Charles Weyland ermöglichte, seine wahren Ziele hinter den Kulissen und unbemerkt von allen zu verfolgen.
Während er als Gastgeber zur Eröffnung des Weyland West Hotels in San Francisco lud, hatten seine Repräsentanten insgeheim eine Firma für Nanotechnologie im Silicon Valley gekauft. Als er die Theatersaison in London besuchte, schlossen Weylands Anwälte ein Geschäft über eine Robotikanlage in Pittsburgh ab. Seine Teilnahme an den Feierlichkeiten zur Modewoche in Paris täuschte über die feindliche Übernahme eines pharmazeutischen Konzerns in Seattle hinweg und den Kauf eines genetischen Forschungslabors in Kioto durch eine von Weylands Tarnfirmen. Als er die Vierzig erreicht hatte, war Weyland der wichtigste Finanzier der neuesten wissenschaftlichen Forschung auf der ganzen Welt.
Vier Jahre zuvor hatte Weyland Max Stafford erzählt, dass die wissenschaftliche Forschung, die sein Unternehmen finanzierte, es Weyland Industries in etwa vierzig Jahren ermöglichen würde, einen Firmenzweig auf einer Mondbasis im Meer der Ruhe zu eröffnen. Das war allerdings gewesen, bevor man bei ihm ein Bronchialkarzinom diagnostizierte. Jetzt, da der Krebs seine Lungen auffraß, hatte Charles Weyland keine vierzig Jahre mehr. Mit etwas Glück blieben ihm noch vierzig Tage.
Deshalb waren dieser bemerkenswerte Fund in der Antarktis und diese Expedition auch so wichtig. Es war Charles Weylands letzte Chance, der Menschheit seinen Stempel aufzudrücken. Und deshalb war Weyland auch dem einen Mann in seiner Organisation, der diese letzte Chance überhaupt erst ermöglichte, so dankbar. „Nur eine Viertelstunde, dann schlüpfe ich wieder in mein… Kostüm… und gehe rüber in mein Büro.“
„Sind Sie sicher? Vielleicht wäre es besser, sich für die Nacht zurückzuziehen.“
„Wieso? Ich würde sowieso nicht schlafen können.“ Weyland holte tief Luft und zwang sich zu einem Lächeln. „In den letzten drei Monaten sind Sie mir unentbehrlich geworden, Max. Das richtige Personal zu finden, diese gesamte Expedition auf die Beine zu stellen…“
„Ich tue nur meinen Job.“
Angewidert von seinem Spiegelbild, schob Weyland den Spiegel beiseite. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde…“
Max durchquerte das Zimmer und legte Weyland seine schwere Hand auf die Schulter. Die Berührung des Mannes war erstaunlich sanft. „Wenn Sie sich so anstrengen, wird das den Krebs nur beschleunigen…“ Er zögerte, als würde es ihm widerstreben, die immer gleichen Argumente vorzubringen, aber er spürte, dass er es tun musste. „Vielleicht sollten Sie es sich noch einmal überlegen, ob Sie uns begleiten wollen. Sie könnten hierbleiben. Unsere Fortschritte über Funk verfolgen…“
Mit der Nervosität eines gefangenen Tieres beäugte Weyland das Krankenbett, die Sauerstoffflaschen, die Medikamente und schüttelte den Kopf.
„Ich sterbe, Max. Und ich will verdammt sein, wenn ich es hier tue.“
Sebastian De Rosa folgte den Anweisungen des ersten Offiziers und fand seine Kabine. Er schloss die Tür auf, ging hinein und stellte erleichtert fest, dass sein Quartier mehr einer Privatkabine auf einem Luxusliner glich als einer Koje auf einem Eisbrecher. Für einen Augenblick fragte sich Sebastian, ob er wohl den falschen Schlüssel bekommen hatte, aber dann bemerkte er, dass sein Gepäck – das bisschen, das er mit sich führte – bereits in der Mitte des Zimmers abgestellt worden war.
Sebastian öffnete seinen zerbeulten Koffer und nahm einen Arm voll Kleidung heraus. Als er die Tür des Wandschranks öffnete, stellte er jedoch überrascht fest, dass darin schon Kleidung hing – Freizeitkleidung, die seinem unausgegorenen Geschmack entgegenkam, zusammen mit Kaltwetterkleidung und weiterer Ausrüstung. Er fand wasserdichte Hosen und Jacken, wollene Sweater und Socken, Thermounterwäsche, Skihandschuhe, Stiefel, Wollmützen und ein paar knallgelbe Polartec-Pullover, die das allgegenwärtige Weyland-Logo trugen. Nach kurzer Inspektion stellte er fest, dass alles die richtige Größe hatte.
„Mr. Charles Weyland, wo sind Sie mein ganzes Leben lang gewesen?“ rief er aus.
Sebastian fühlte sich noch immer berauscht von der Besprechung mit Weyland. Endlich hatte er die Chance, der archäologischen Gemeinschaft zu beweisen, dass die Geschichte der Welt, wie sie derzeit von den Gelehrten und Akademikern gelehrt wurde, nichts als eine Ansammlung von Annahmen, Vermutungen, Halbwahrheiten und Erfindungen war. Die Entdeckung einer Tempelanlage in der Antarktis strafte die vorgefertigten Meinungen der modernen Archäologie Lügen, weshalb die sogenannten objektiven Wissenschaftler die Wahrheit auch ablehnten – trotz der Beweise. Dieses Phänomen hatte Sebastian schon früher in seiner Karriere am eigenen Leib erfahren.
Als er noch Hochschuldozent war, hatte er Zugang zur Kongressbibliothek erhalten und der dortigen Sammlung alter Portolane – Karten, anhand derer die Seeleute des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts von Hafen zu Hafen segelten. Eine der Karten, die er untersucht hatte, war 1531 von Oronteus Finaeus geschaffen worden. Es war eine genaue Abbildung des antarktischen Kontinents, wie sie die moderne Wissenschaft heute aus dem Weltall zuließ. Jede Bucht, jeder Meeresarm, jeder Fluss, jeder Berg – das ganze Land, das sich unter Tonnen von Eis und Schnee verbarg, war beinahe fünfhundert Jahre zuvor auf dem Finaeus-Portolan peinlich genau verzeichnet worden.
„Aber wie?“, hatte sich Sebastian gefragt.
Von Kartographen hatte er erfahren, dass die meisten Portolane, die im Zeitalter der Entdeckung verwendet wurden, eigentlich Kopien viel älterer Karten der Römer und Ägypter waren. Aber auch zur Blütezeit der ägyptischen Kultur, die etwa viertausend Jahre zurücklag, war der Südpol vollständig von bis zu tausend Meter dickem Packeis bedeckt gewesen. Selbst wenn die Ägypter in die Antarktis gesegelt wären – was absurd war, denn sie hatten keine Flotte besessen, bis Cheops’ Vater 2000 v. Chr. eine erbauen ließ –, hätten die antiken Seeleute nichts als Eis vorgefunden. Erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hatten moderne Wissenschaftler die wirkliche Topografie des unter dem Eis verborgenen Kontinents entdeckt und dafür hochentwickelte Sonartechnologie angewendet.
Wer hatte also die Gebietsmerkmale der Antarktis in früheren Zeiten kartographisch so genau verzeichnen können, und wie?
Sebastian war zu dem Schluss gekommen, dass zwei Theorien in Frage kamen: Die erste hatte Erich von Däniken 1968 in seinem Buch Erinnerungen an die Zukunft entwickelt. Von Däniken war der Auffassung, dass Außerirdische vor Tausenden von Jahren die Erde besucht und den noch primitiven Menschen geholfen hatten, Karten zu zeichnen, Pyramiden zu bauen, Kalender zu entwerfen und Ritualstätten zu errichten, an denen Menschen und Außerirdische zusammenkamen.
Sebastians Theorie war nicht ganz so unerhört. Er glaubte, dass die ursprüngliche Karte, die Finaeus kopiert hatte, wahrscheinlich zu einer Zeit entstanden war, als die Antarktis noch warm und bewohnbar und Heimat einer inzwischen vergessenen Zivilisation gewesen war. Die Existenz des Finaeus-Portolans und der Karte von Piri Reis, die in Istanbul gefunden wurde, waren stichhaltige Beweise für Sebastians Theorie.
Als er seine Entdeckung seinen Kollegen vorstellte, wurde seine Arbeit allerdings umgehend abgelehnt, trotz der Tatsache, dass handfeste Beweise für seine Theorie, für jedermann einsehbar, in der Kongressbibliothek auslagen.
Nach dieser ernüchternden Begebenheit war Sebastian zu dem Schluss gekommen, dass seine Kollegen entweder seine Abhandlung gar nicht gelesen hatten oder es schlichtweg ablehnten, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Wie dem auch war, der Pyramidenkomplex, den Weyland in der Antarktis entdeckt hatte, würde die sturen Schubladendenker des akademischen Pöbels schon in die Schranken weisen.
Sollten sie doch versuchen, das abzutun!
Als er sich rasierte und für das Abendessen umzog, pfiff Sebastian unmelodisch vor sich hin. Er konnte nur noch daran denken, dass jetzt, nach Jahren des Streits, der Verachtung und Vernachlässigung, all seine Arbeit bald bestätigt, all seine Theorien bald bewiesen sein würden.
Lex schloss die Augen und spürte das heiße Wasser über ihren Körper strömen. Nach zwei Wochen in der Wildnis, gefolgt von einem anstrengendem Reisetag, glich die Dusche beinahe einer religiösen Erfahrung.
Sie suchte auf dem Bord nach einem Stück Seife und fand ein Päckchen Savon de Marseille, eine teure, handgemachte Ölivenöl-Seife aus dem Süden Frankreichs. Sie roch daran und runzelte die Stirn. Wahrscheinlich die gleiche Seife, die Charles Weyland in die Präsentkörbe seines Pariser Hotels legen ließ. Sie war nicht überrascht. So wie die High-End-Klamotten und die teure Ausrüstung, die sie in ihrem Wandschrank gefunden hatte, und die lächerlich feudale Unterbringung, war alles, was Weyland zur Verfügung stellte, erste Klasse. Trotzdem vertrug Lex es nicht, gekauft zu werden – ein goldener Käfig war immer noch ein Käfig. Und dem zog sie ein Zelt, in 4500 Metern Höhe an der Nordseite des Everest aufgeschlagen, allemal vor.
Andererseits musste sie sich waschen. Also riss sie die Packung auf, ergriff die Seife und überdachte ihre Meinung über Weyland, jetzt, wo sie ihn tatsächlich getroffen hatte. Bisher kam sie nur zu einem Schluss: noch ein exzentrischer Milliardär. Und diese teure Expedition: reine Zeitverschwendung und gefährlich obendrein, konnte sie doch die meisten Beteiligten – wenn nicht sogar allen – das Leben kosten.
Typen wie Weyland waren ihr schon oft untergekommen – zu reich, zu gelangweilt, zu sehr von sich eingenommen. Dilettanten, die sich kurzfristig für eine Sache interessierten, nur um dann, wie eine Elster, der nächsten funkelnden Idee, die auf CNN ausgestrahlt wurde, hinterher zu jagen. Lex verachtete diesen Menschenschlag. Nicht weil sie ihn beneidete, sondern weil Menschen wie Weyland Geld und Macht besaßen und beides vergeudeten. Sie trieben ziellos durchs Leben und brachten nichts zuwege, außer Aktienpakete von der Größe Godzillas zu horten, während Wissenschaftler und Forscher, die ihre gesamte Karriere und ihren Ruf einer edlen Sache verschrieben, gezwungen waren, den Bückling zu machen und die Krümel aufzulesen, die man ihnen nachträglich zuwarf, weil das Steuervergünstigungen mit sich brachte.
Während Lex die teure Seife zu einem cremigen Schaum verrieb und auf ihrer straffen Haut verteilte, hörte sie fast die Stimme von Gabe Kaplan, dem Vermögensverwalter der Stiftung, wie einen nicht enden wollenden Nike-Werbespot in ihrem Kopf: „Komm schon, Lex, halt dich ans Programm. Den Bückling zu machen und Krümel aufzulesen kostet uns nichts und bringt der Stiftung alles. ,Just do it.’“
Lex akzeptierte das Geld, das Weyland versprochen hatte, um der Stiftung der Wissenschaftler für den Umweltschutz zu helfen, aber sie wollte auf keinen Fall bei dem kollektiven Selbstmord dieser Expedition mitmachen.
Bestenfalls, so dachte Lex, würde Weyland mit seinen Leuten nach Bouvetoya segeln; Quinn und seine Kumpane – allesamt wandelnde Naturkatastrophen – würden ein Loch ins Eis stechen und die ganzen Archäologen, die nur über Pyramiden quasselten, würden einen Haufen Quarz, verformtes Eis, eine Vulkanspalte oder ein Dutzend andere natürliche Formationen finden, die irgendwie einer Tempelanlage ähnelten.
Das Schlimmste, das geschehen konnte, wollte sie sich lieber gar nicht erst ausmalen.
Lex konnte sich noch gut an ihre Klettertouren zum Gipfel des Everest erinnern. Luft, so dünn, dass es sich anfühlte, als atme man durch einen geknickten Strohhalm. Temperaturen unter minus 40 Grad. Wind, der mit 160 Stundenkilometern dahinfegte. Der qualvolle Schmerz, den Körper 1000 Meter am Tag hinaufzuhieven, und der Versuch, oberhalb der 8000-Meter-Marke zu atmen oder gar zu essen oder zu trinken.
Das alles war ein Picknick im Vergleich zu dem, was Weyland und seine Expedition erleben würde, falls etwas schief ging. Ohne Lex hatten sie keine Chance. Als sie den Seifenschaum von ihrer kakaofarbenen Haut spülte, versuchte Lex sich einzureden, dass ihre Chancen auch nicht besser stünden, wenn sie mitginge. Einen Moment lang hielt sie unter dem heißen Wasser inne. Die Dusche mochte die Scham abgewaschen haben, die sie verspürt hatte, weil sie Weylands Angebot überhaupt in Betracht gezogen hatte, aber sie konnte nicht die Schuld wegspülen, die sie verspürte, weil sie dieses Team im Stich ließ.
Lex zog sich ein Paar Levis und einen Sweater aus dem reich gefüllten Wandschrank an und ließ den Rest der Kleidung unberührt. Sie selbst hatte ja keine sauberen Sachen, sonst hätte sie gar nichts genommen.
Als sie ihre dürftigen Habseligkeiten zusammenpackte, klopfte es an der Kabinentür.
„Ich habe mit Mr. Weyland gesprochen“, eröffnete ihr Max Stafford. „Das Geld ist auf das Konto der Stiftung überwiesen worden. Der Helikopter wird gerade aufgetankt, um Sie wieder nach Hause zu fliegen.“
Max machte kehrt, um davonzugehen.
„Wen haben Sie bekommen?“
Er hielt im Türrahmen inne, drehte sich aber nicht um.
„Gerald Murdoch“, sagte er und schloss die Tür.
Fünfzehn Minuten später trommelte Lex an die Tür von Charles Weylands Bordbüro.
„Treten Sie…“
Lex stürmte hinein.
„… näher.“
Weyland saß in einem Ledersessel hinter einem Eichenholzschreibtisch. Das Büro war nicht sehr luxuriös, aber es war groß und geschmackvoll eingerichtet. Bevor Lex hereingekommen war, hatte der Industriebaron Personalakten gewälzt. Ironischerweise las er gerade ihre Akte.
„Gerry Murdoch hat erst zwei Saisons auf dem Eis hinter sich. Er ist noch nicht so weit.“
Weyland sah sie nicht an. „Machen Sie sich darüber keine Sorgen.“
Lex lehnte sich über den Tisch. „Was ist mit Paul Woodman und Andrew Keeler?“
„Haben wir angerufen.“
„Und?“
„Sie haben die gleiche Schrott-Antwort gegeben wie Sie“, sagte Max Stafford, der zur Tür hereinkam.
„Mr. Weyland. Was ich Ihnen da drinnen erzählt habe, war kein Schrott. Wenn Sie diese Sache überstürzt angehen, werden Leute verletzt werden, vielleicht sogar sterben.“
Weyland sah sie wieder an. Wut flackerte in seinen Augen. „Ms. Woods, ich verstehe Ihre Einwände nicht. Wir besteigen hier nicht den Everest. Wir brauchen Sie, um uns vom Schiff zur Pyramide zu bringen und dann wieder zurück zum Schiff. Das ist alles.“
„Was ist mit dem Inneren der Pyramide?“
„Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Vor Ort haben wir die beste Ausrüstung und Technologie und die besten Experten, die man für Geld bekommen kann.“
Lex begegnete seiner Wut mit ihrem eigenen Zorn. „Sie verstehen nicht. Wenn ich ein Team führe, dann verlasse ich mein Team niemals.“
Weyland schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ich bewundere Ihre Leidenschaft ebenso wie Ihre Fähigkeiten. Deshalb wünschte ich ja auch, dass Sie mit uns kommen würden.“
Aber Lex schüttelte den Kopf.
„Sie begehen einen Fehler“, sagte sie.
Weyland ließ den Wetterbericht auf den Tisch fallen. „Die Windverhältnisse sind im Moment noch recht bedenklich. Kapitän Leighton hat mir versichert, dass wir schon aus dem Gröbsten raus sind, aber er meint, Sie sollten Ihren Abflug noch um ein paar Stunden verschieben.“ Er stand auf und ging um den Tisch herum, dann streckte er seine Hand aus und berührte ihren Arm.
„Denken Sie über mein Angebot nach. Setzen Sie sich beim Abendessen zu den anderen und wenn Sie Ihre Meinung nicht ändern, wird sie der Helikopter in ein paar Stunden zurückfliegen.“
„Das mit dem Essen hat er wirklich ernst gemeint“, rief Miller mit weit aufgerissenen Augen zwischen zwei Bissen saftigen Krabbenfleisches aus.
„Noch etwas Wein? Chateau Lafitte 77, ein exzellenter Jahrgang.“
Miller nickte und Sebastian schenkte nach. Dann erhob der Archäologe sein Glas. „Ein guter Jahrgang für einen Franzosen. Und nur für die Akten: Er schmeckt aus dem Plastik sogar noch besser.“
Sebastians erste Mahlzeit an Bord der Piper Maru war ein Exempel des Widerspruchs. Feinste Speisen und erlesener Wein, serviert wie in einer Cafeteria, auf zerdellten, genormten Blechtellern und in Plastikbechern. Der Lärmpegel in der Messe erinnerte ihn ans College.
Es sah nicht so aus, als würde Mr. Weyland heute Abend mit ihnen zusammen essen, auch nicht dieser Stafford-Typ. Aber glücklicherweise machte Sebastians Tafelgesellschaft jede Enttäuschung wieder wett.
„Der Typ, der das Futter auftischt. Ich glaub, ich hab ihn schon mal in einer Kochsendung gesehen“, meinte Miller.
„Großer Glotzengucker, was?“, fragte Sebastian.
„Gibt sonst nicht viel zu tun in Cleveland… Nicht seit meiner Scheidung.“
„Sie kommen also aus Cleveland?“, stellte Thomas fest.
„Ja, richtig. Ich wurde in Cleveland geboren. Hab meinen ersten Chemiekasten in Cleveland gekauft. Da habe ich auch die Garage meiner Eltern in die Luft gejagt. Nach meinem Abschluss fand ich in Cleveland einen Job, hab da geheiratet und jetzt lebe ich dort.“
„Sie kommen nicht gerade viel rum, was, Miller?“, stichelte Lex.
„Nein, nein! Das stimmt nicht… Ich hab Cleveland verlassen, um aufs College zu gehen.“
„Sie haben in Übersee studiert?“
„Columbus.“
Lex bemerkte, dass Sebastian zusammenzuckte und sich dann das Knie rieb.
„Alles in Ordnung?“
„Hab mir vor ein paar Jahren das Knie kaputt gemacht. Jetzt wird es von einer Metallschraube zusammengehalten. Tut sauweh bei der Kälte.“
„Ist das bei einem Ihrer halsbrecherischen archäologischen Abenteuer passiert?“
Thomas kicherte und nahm noch einen Schluck Wein.
„Die Sierra Madre.“
Lex war überrascht. „Die Bergkette?“
„Die Tex-Mex-Kneipenkette in den Vereinigten Staaten. Denver. Hab einen Tequila zuviel getrunken und bin vom mechanischen Bullen gefallen.“
Lex lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und lachte. Sebastian ebenfalls.
Auf der anderen Seite der Messe saß Quinn unter den Arbeitern und beobachtete Lex am Tisch mit den Beakern. Sein Partner Connors hielt inne, die Gabel mit einem saftig tropfendem Stück Steak nur Zentimeter vor seinem Riesengebiss. „Denkst du, sie ist hier, um uns abzuservieren?“
Quinn schnaubte. „Sie kann uns gar nicht abservieren. Weyland ist unser Auftraggeber. Ms. Woods und dieses Bauernteam aus Umweltbeakern haben nicht den nötigen Einfluss, um Weyland aufzuhalten.“
„Naja, in Alaska hat sie uns ganz schön abserviert. Die mit ihrer Stiftung…“
Quinn ignorierte seinen Partner und starrte weiter durch den Saal.
„Ich glaube, ich habe alle meine Versicherungen aufgebraucht“, fuhr Connors fort. „Wenn dieser Job flach fällt, muss ich Sozialhilfe beantragen.“
„Schieb’s dir doch in den Arsch, Connors.“
Connors gluckste und goss noch mehr Wein in Quinns Becher. „Ich glaub, Sie brauchen noch nen Drink, Chef.“
Quinn schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Und wie!“, brüllte er. „Aber nichts mehr von diesem schwulen französischen Traubensaft. Geh runter in den Laderaum und hol uns ne Kiste Coronas. Verdammt, lieber zwei. Wir wollen uns mal richtig die Kante geben!“
„Wer ist der Typ?“, fragte Sebastian, als er den unmissverständlich wütenden Blick in ihre Richtung bemerkte.
Lex nippte an ihrem Wein, bevor sie antwortete: „Ich bin mit Quinn in Alaska aneinandergeraten. Er und seine Jungs wollten da oben die Erdölförderung ausweiten. Hatte sogar eine Menge Einheimische auf seiner Seite. Aber wir haben ihn fertig gemacht – die Umweltgruppe, für die ich arbeite. Ich nehme an, das nimmt er mir immer noch übel.“
„Ich würd’s tun“, sagte Miller. „Ich meine, wenn mir jemand den Job vermiesen würde.“
„Diese Pyramide…“ Lex wechselte das Thema. „Glauben Sie wirklich, dass sie unter dem Eis liegt?“
„Das nehme ich stark an. Es wäre die Entdeckung des Jahrhunderts. Und es würde auch einige meiner Theorien bekräftigen. Ich glaube, dass vor viertausend Jahren…“
Sebastians Stimme entfernte sich. Lex schenkte ihm keine Aufmerksamkeit mehr. Stattdessen starrte sie auf etwas hinter seiner Schulter.
„Langweile ich Sie?“
Lex schob ihren Stuhl vom Tisch und packte Miller und Sebastian an den Armen. „Kommen Sie mit nach draußen… Alle zusammen. Sie auch, Thomas.“
„Was ist denn?“
Aber sie war schon aufgestanden und zur Tür hinaus. Sebastian erhob sich und folgte ihr und Thomas heftete sich an seine Fersen. Miller schluckte den letzten Bissen seines Filets, spülte ihn mit etwas Chateau Lafitte 77 hinunter und eilte ihnen hinterher.
Lex führte sie durch ein schweres, wasserdichtes Schott und dann hinauf an Deck. Der eisige Wind versetzte ihnen einen Stich und raubte ihnen die Körperwärme. Aber als sie das Spektakel am Firmament sahen, vergaßen sie jedes Unbehagen.
„Mein Gott!“, stieß Thomas hervor.
Die Nacht hatte sich in eine Kaskade gleißender Strahlen verwandelt. Senkrechte Farbbänder aus Licht wanden sich über den südlichen Himmel, ein kunterbuntes optisches Wirrwarr. Aufeinanderfolgende Streifen aus helleren Farben flammten auf, während dunklere Schwaden rhythmisch pulsierten. Der breite Vorhang aus Rot, Grün und Violett schien sich zu bewegen, als kräuselten ihn interstellare Winde.
Lex breitete die Arme aus, als wolle sie das Panorama umarmen. „Das ist ein Klasse-X Flare, begleitet von einem koronalen Plasmaauswurf. Auch bekannt als Aurora Australis… die Südlichter.“
Sebastian stand da wie angewurzelt. „Ich glaube, ich habe noch niemals etwas so Schönes gesehen.“
Miller schob seine Brille zurecht und zog dann seine Digitalkamera aus der Jackentasche.
„Es spielt sich in der oberen Schicht der Erdatmosphäre ab“, erklärte er. „Ströme aus Elektronen und Protonen treffen von der Sonne auf das Magnetfeld der Erde und verursachen einen solaren Strahlungssturm.“
„Wie auch immer… Es ist wunderschön“, entgegnete Sebastian, „sogar auf die Art, wie Sie es beschreiben, Doktor.“
„Danke“, gab Miller zurück. Dann schoss er ein Foto. „Da stimme ich Ihnen zu.“
Lex lehnte sich an die Reling und blickte hinauf zum Himmel. „Shackleton nannte die Antarktis ,die letzte große Reise auf Erden’. Es ist der letzte Ort auf der Welt, der keinem gehört, an dem völlige Freiheit herrscht…“ Dann setzte sie ein Grinsen auf. „Ich? Ich hab eine Schwäche für Pinguine.“
„Ich wünschte, Sie würden es sich noch einmal überlegen, mit uns zu kommen“, sagte Miller.
Lex sah ihn an und lächelte. Aber sie schüttelte den Kopf.
„Natürlich nicht meinetwegen“, setzte Miller hastig hinzu. „Aber ich denke, einige der anderen Jungs könnten Sie wirklich brauchen.“ Er knuffte Sie in den Arm. „Na los, geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß. Oder soll ich schon wieder Fotos von meinen Kindern rausholen?“
„So süß sind Ihre Kinder doch gar nicht.“
Jetzt mischte sich Sebastian ein. „Wie wäre es dann mit Fotos von den Kindern anderer Leute? Würde das helfen?“
Lex sah sie beide an. „Wollen Sie meinen Rat? Bleiben Sie auf dem Schiff.“
Jetzt war es Sebastian, der sich sträubte. „Wir bleiben nicht auf dem Schiff.“
„Jungs, die erste Regel in diesem Geschäft lautet, keinen an einen Ort zu bringen, dem er nicht gewachsen ist.“
„Hören Sie“, wandte Sebastian ein. „Ich wäre schon längst auf dem nächsten Flug nach Mexiko. Mein Team wartet auf mich. Aber wenn Weyland auch nur halbwegs richtig liegt, könnte dieser Fund den Lauf der Geschichte verändern.“
„Weyland sorgt sich mehr darum, noch eine Milliarde zu scheffeln, als um alles andere,“ entgegnete Lex. „Einschließlich Ihrer Sicherheit.“
Sebastian trat nahe an sie heran. „Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen. Sie sind jetzt hier. Sie kennen diesen Ort. Haben wir mit Ihnen eine bessere Überlebenschance als mit der zweiten Wahl?“
Lex erwiderte nichts, aber ihr Gesicht verriet die Antwort.
„Wenn es nämlich so ist und Sie nicht mit uns kommen, werden Sie dann damit leben können, wenn etwas schief geht?“
Lex öffnete den Mund, stutzte aber und die Antwort blieb aus. Plötzlich kam eine große blonde Frau an Deck.
„Ms. Woods? Ihr Helikopter ist aufgetankt und bereit zum Abflug. Man wartet auf Sie.“