KAPITEL 1
Bouvetoya – Walfangstation,
Antarktis 1904
Zu Beginn der Walfangsaison von 1904 segelte die Emma zur Insel Bouvetoya, an Bord Matrosen, Harpunierer, Boote und Tranverarbeitungsausrüstung – genug, um ein Jahr lang im antarktischen Eis Wale abzuschlachten und ihren Tran zu gewinnen, bevor es im darauffolgenden Jahr zurück nach Norwegen ging.
Der neue Kapitän und Miteigentümer der Emma, Sven Nyberg, hatte vor, bei seiner ersten und letzten Reise als Walfänger einen ordentlichen Profit abzuschöpfen. Svens Bruder Björn hatte die Emma neunzehn Saisons als Kapitän geführt, aber Björn war im letzten Jahr auf der Heimreise am Fieber gestorben, was seinen Bruder dazu gezwungen hatte, das Kommando bei dieser letzten kommerziellen Unternehmung der Nyberg Brothers Oil Company in Oslo zu übernehmen. Sven hatte fest vor, nach seiner Rückkehr nach Norwegen das Familiengeschäft an den Meistbietenden zu verkaufen.
Der Anbruch des neuen Jahrhunderts brachte auch das Ende des traditionellen Walfangs mit sich. Der Magnat Christian Christensen hatte in Grytviken eine moderne Weiterverarbeitungsanlage eröffnet, die kleinere Walfangfirmen wie jene der Brüder Nyberg, die ihren Lebensunterhalt in der Antarktis bestritten, vom Markt verdrängte -Männer, die Arbeitsmethoden anwandten, wie sie die Norweger schon seit den Zeiten der Wikinger praktizierten. Wie die Robbenjagd, ein Geschäft, das damals in der 70ern des neunzehnten Jahrhunderts vielen Familien enormen Reichtum bescherte, wurde auch der Walfang zu einem unrentablen Unternehmen. Sinkende Tierbestände und immer größere Konkurrenz durch britische und schottische Walfänger – seit neuestem sogar die Japaner – setzten, zusammen mit riesigen Konglomeraten wie der Christensen-Gesellschaft, der Ära der autarken, unabhängigen Walfänger ein Ende.
Trotzdem wollte Sven Nyberg die Nyberg Brothers Oil Company noch ein wenig länger am Leben erhalten. Es war der einzige Weg, einen lohnenden Verkauf des Familienunternehmens sicherzustellen. Zu diesem Zweck hatte Sven Oslos erfahrenstem Waljäger, Karl Johanssen, den Posten des ersten Maats angeboten, mit fünf Prozent Anteil am Profit der Expedition. Sollte sie erfolgreich verlaufen, würde die Reise der Emma zum Südpol aus Karl einen reichen Mann machen.
Für Karl Johanssen hätte das Angebot zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Seit seinem zwölften Lebensjahr war er siebenundzwanzig Saisons als Waljäger im Eis gesegelt und hatte alle mit gesunden Gliedmaßen, Fingern und Zehen überlebt. Keine schlechte Leistung in einer Region, in der die Temperaturen fünfzig Grad unter Null erreichen konnten. Aus vergangenen Reisen mit Bruder Björn kannte Johanssen auch die Ölverarbeitungsanlage der Brüder Nyberg auf der Bouvetinsel, einem der entlegensten Orte der Welt.
Ein paar Jahre zuvor, 1897, hatte Karl noch geglaubt, er hätte endgültig mit der See abgeschlossen. Von den Versprechungen seines Bruders nach Nordkalifornien gelockt, hatte er seine mageren Ersparnisse beim Versuch, unendlichen Reichtum zu erlangen, im Goldrausch von Alaska verprasst. Aus finanzieller Verzweiflung musste er wieder zum Walfang zurückkehren und er wäre sogar bereit gewesen, für einen armseligen halben Prozent Anteil auf einem von Christensens Schiffen anzuheuern, als das Angebot von Sven Nyberg kam. Eine Koje als erster Maat mit ganzen fünf Prozent Anteil war Karls glückliche zweite Chance für einen behaglichen Lebensabend.
Natürlich würde Karl hart für sein Geld arbeiten. Sven Nyberg war ein mittelmäßiger Seemann und hatte noch nicht eine Saison im antarktischen Eis verbracht. Glücklicherweise war Sven während der zwölf Monate dauernden Knochenarbeit schlau genug gewesen, sich in beinahe jeder Situation auf Karls Urteil zu verlassen. Unter dieser Vormundschaft des Harpuniers hatte der jüngere Nyberg-Bruder von Geheimnissen des Walfanggeschäfts erfahren, deren Entdeckung ihn selbst Jahre gekostet hätte. Nach einem Jahr war das Ergebnis dann auch eine erstaunlich erfolgreiche Jagd und die Emma schleppte über dreihundert Kadaver in die Bucht von Bouvetoya. Hier wurden die Überreste der Blau-, Mink- und Spermwale zerschnitten und ihr Blubber, wie der Speck genannt wurde, zu Öl verarbeitet.
Es geschah während dieses schmierig-schmutzigen Verarbeitungsprozesses, bei dem die Männer lange Zeit im Freien verbrachten und sich um das riesige Eisenfass kümmerten, das über dem Hafen thronte, dass die Waljäger begannen, seltsame Lichter am Himmel zu sehen. Und es war nicht der vertraute Anblick der Südlichter.
Über der Lykke-Spitze und der größeren, über neunhundert Meter hohen Olav-Spitze, die die Ölverarbeitungsanlage überschattete, erhellten Explosionen den Himmel wie entferntes Kanonenfeuer und in der Ferne hörte man ein Knallen auf dem Eis. Dann erschien ein merkwürdiges, rötliches Glühen am Horizont, das das nicht enden wollende Zwielicht mit der Helligkeit von tausend Schmelztiegeln erfüllte. Das Licht tanzte blutrot auf dem Eis und ließ die Millionen von Walknochen, die den Strand bedeckten, widerwärtig schimmern. Oftmals, aber nicht immer, wurden die gespenstischen Lichter von einem Beben tief unter dem Boden zu ihren Füßen begleitet.
Auch wenn vulkanische Aktivitäten auf der Insel nichts Ungewöhnliches waren – 1896 war ein Teil der Insel sogar von einem Vulkanausbruch zerstört worden –, beunruhigte das Phänomen die Walfänger, die, ganz gleich was auch geschah, bis zur Schneeschmelze im Frühling auf der Insel Bouvetoya gefangen waren. Um die Ängste der Walfänger zu beschwichtigen und die Ursache für das gespenstische Feuerwerk zu erfahren, führte Karl also ein paar Tage nach diesen seltsamen Vorkommnissen eine Gruppe von Seeleuten von den heruntergekommenen Holzbaracken des Hafens fort und auf das Gletschereis, das die 58 Quadratkilometer große Insel bedeckte.
Auf der weiten, gefrorenen Ebene entdeckten sie ein großes metallenes Objekt, das wie der Sarg eines Riesen aussah. Das Objekt lag in der Mitte eines großen Kraters ins Eis eingebettet. Seine silbrige Oberfläche war glatt, ähnelte von der Form her einer Gewehrkugel und besaß keinerlei sichtbare Verbindungsnähte oder Öffnungen. In das Metall waren Zeichen eingekerbt – seltsame, fremdartige Gravuren, die kein Waljäger der Truppe lesen oder verstehen konnte. Der metallene Sarg schien zwar hohl zu sein, aber niemand fand heraus, wie er zu öffnen wäre oder was sich darin befand.
Karl Johanssen hielt es für das Beste, das Ding dort zu lassen, wo es war, aber in diesem Fall setzte sich der Skipper durch. Kapitän Nyberg brannte darauf, einen weiteren Weg zu finden, aus der Reise Profit zu schlagen, deshalb befahl er, das Objekt auf einen Schlitten zu laden und es von Hunden zurück zum Camp ziehen zu lassen. Fünf Männer und fünfzehn Hunde brauchten einen ganzen Tag, um dem Wunsch des Kapitäns gerecht zu werden. Dann wurde der glänzende Metallsarg zwischen Fässern mit Waltran in einem Lagerhaus untergebracht, wo er auf seine Verladung in den Schiffsrumpf wartete. Innerhalb weniger Wochen würden gemäßigte Temperaturen die Emma langsam aus ihrem eisigen Gefängnis in der gefrorenen Bucht befreien. Dann konnte die Crew nach Norwegen zurückkehren und ihre Belohnung für zwölf Monate harter Arbeit einstreichen.
Nur wenige Stunden, nachdem das Objekt ins Camp gebracht worden war, schreckte Karl jedoch durch laute Schreie in seiner engen Koje auf. Er sprang in seine Stiefel, ließ seinen Mantel am Haken und jagte über die eisige Straße zum Lagerhaus. Die Türen waren nur angelehnt und eine war aus den Angeln gerissen. In der Mitte der Halle fand Karl vier tote Männer – mehr als tot, sie waren auseinandergerissen und ihre Köpfe und Rückgrate abgetrennt und entfernt worden. Noch unheilvoller wirkte das sargähnliche Gebilde, das jetzt weit geöffnet und leer war und im Inneren des zugigen Lagerhauses hing, vermischt mit dem Geruch frisch vergossenen Blutes, ein nasskalter, reptilischer Gestank.
Wieder im Freien und vor Kälte schlotternd entdeckte Karl riesige, blutverschmierte Fußabdrücke, die vom Lagerhaus auf die andere Straßenseite führten. Die blutrote Fährte bildete einen Pfad, der direkt zu der schäbigen Holzbude führte, in der die Matrosen untergebracht waren. Dort sah er an der Tür eine gespenstisch schimmernde Gestalt in der eisigen Luft. Bevor er noch einen Warnschrei loslassen konnte, sah Karl, wie eine unsichtbare Macht die Tür einriss und in das Quartier der Seeleute stürmte. Er hörte überraschte und panische Schreie aus dem Gebäude, dann die von Angst und Schmerz. Ein einzelner Schuss fiel, dann flog eine abgetrennte, menschliche Hand aus der Tür, die immer noch eine kleine Pistole umklammerte.
Schließlich sah Karl, wie einer der Matrosen an ein Fenster geworfen wurde, sein Nachthemd blutverschmiert und sein Gesicht vor Angst verzerrt. Für einen kurzen Moment trafen sich die Blicke des Mannes und Karls. Dann fuhr ein silbriger Schimmer über seine nackte Kehle und frisches, helles Blut schoss auf die Glasscheibe, sodass Karl nichts mehr sehen konnte.
Karl schluckte seine Furcht herunter und rannte zurück zum Lagerhaus, um nach einer Waffe zu suchen – irgendetwas, mit dem er sich verteidigen konnte. Aber er fand nichts und musste sein Heil in der Flucht suchen. Karl wusste, dass es den sicheren Tod bedeutete, wenn er ohne jeden Schutz vor den Elementen hinausgehen würde, aber als er versuchte, den toten Männern ihre Mäntel abzunehmen, musste er feststellen, dass sie zerrissen und mit Blut getränkt waren - Blut, das draußen sofort gefrieren würde. Schließlich hüllte Karl sich in eine schmutzige Persenning, stolperte durch die Hintertür und rutschte den eisigen Abhang hinunter, der auf den mit Walknochen übersäten Strand führte. Hier, zwischen den Skeletten der Sperm-, Mink- und Blauwale hoffte er ausreichend Schutz zu finden, bis das, was auch immer in dem silbernen Sarg geruht hatte, wieder in die Hölle zurückgekehrt war, aus der es stammte.
Ein Beben unter dem Eis weckte Karl Johanssen aus einem traumlosen Schlaf. Durch das fortwährende Zwielicht am Himmel über ihm konnte er nicht sagen, wie lange er bewusstlos gewesen war. Aber die schwere Plane, mit der er sich zugedeckt hatte, glitzerte vor Eis und seine Glieder wollten den Befehlen seines Gehirns nicht gehorchen. Noch unheilvoller war die Tatsache, dass Karl nicht einmal die Kälte spüren konnte, die während der Bewusstlosigkeit in seinen Körper gesickert war. Stattdessen schien es beinahe so, als wäre er in einen dumpfen Kokon aus Wärme gehüllt – ein sicheres Zeichen, dass er am Erfrieren war.
Es erforderte seine ganze Willenskraft, aber dann rappelte Karl sich auf. Ohne einen ordentlichen Mantel bot auch die Leinwand der Persenning nicht genügend Schutz, um die Wärme in seinem Körper zu halten. Ein Feuer hätte ihn retten können, aber er wollte nicht das Risiko eingehen, den unsichtbaren Dämon, der das Camp niedergemetzelt hatte, auf sich aufmerksam zu machen. Und außerdem hatte er sowieso nichts, das er hätte verbrennen können. Karl wusste, dass er sterben würde, sollte er nicht binnen einer Stunde eine Wärmequelle finden. In dieser Zeit würde er es niemals über die gefrorene Bucht zum Schiff schaffen. Also musste er zum Camp zurückkehren, in der Hoffnung, dass das Ding, das seine Mannschaft umgebracht hatte, verschwunden wäre.
Mit bleischwerem Gang überquerte er das Feld aus Knochen. Splitter zerbrochenen Walbeins knirschten bei jedem Schritt unter seinen Füßen, dann erreichte er endlich den eisigen Hang, der zum Camp führte. Mit wunden Armen, aus denen blaue Venen hervortraten, und schwarzen Fingern, die zu der Größe von Würsten angeschwollen waren, zog sich Karl aus dem Knochenfriedhof. Er kroch über den Schnee und erhob sich erst, als er sich in der Deckung der Häuser befand.
Vorsichtig näherte er sich dem Treibhaus, in dem er Wärme und Nahrung zu finden hoffte, aber er fand nur ein weiteres Blutbad vor. Zuerst bemerkte er, dass fast alle Fenster zerschlagen und die armseligen Reihen mit Gemüse und Kräutern steif gefroren waren. Dann stieß er auf einen blutigen, gefrorenen Handabdruck auf einer Glasscheibe. Und schließlich sah er den nahezu gefrorenen Körper eines Wal-Jägers. Der Mann lag in der Mitte des Treibhauses zwischen Splittern zerschlagener Scheiben. Wie bei den anderen Leichen, die Karl im Lagerhaus gefunden hatte, fehlten auch bei diesem Mann Kopf und Rückgrat.
Karl drehte sich um und ging den schmalen Pfad zwischen zwei Anbauflächen entlang. Am Ende des Wegs stolperte er über einen Schlitten und stürzte in einen Haufen Hundegeschirr.
Knurrende Kiefer schnappten nach seinem Gesicht und Karl sprang zurück. Die Kette des hysterischen Hundes spannte sich gerade noch, bevor sich die Reißzähne in seine Kehle bohren konnten. Mit schwarzen, angstverzerrten Augen heulte das Tier auf und zerrte an seiner Leine.
Karl rappelte sich auf und torkelte zur Messe. Er warf sich mit der Schulter gegen die Tür, sodass sie mit einem Knall aufflog. In Inneren brannte noch immer ein Feuer im Kamin, Tranfunzeln flackerten und auf dem gusseisernen Ofen köchelte und dampfte es in ein paar Töpfen. Die langen Tische waren für eine Mahlzeit gedeckt, aber die Messe war leer – Hals über Kopf verlassen, so wie es aussah. Karl drehte sich um, schlug die Tür zu und taumelte zu einem der Tische.
Er wollte sich gerade in einen der groben Holzstühle fallen lassen, als er hörte, wie sich hinter ihm etwas bewegte. Er schnellte herum und glaubte, eine schwarze Gestalt zu sehen, die durch die Messe huschte. Vorsichtig blinzelte er in den Schatten.
Mit einem zischenden Fauchen trat die Gestalt jetzt etwas hervor. Karl erspähte die geifernden Kiefer und den augenlosen Kopf, wankte zurück und fiel über eine Bank. Wimmernd sah er den schwarzen Alptraum auf sich zu schreiten, dessen langer Schwanz vor und zurück sauste, wie der einer wütenden Katze.
Die Augen starr auf dieses gemeine Biest gerichtet, kroch Karl rücklings über den Boden. Dann stieß er mit dem Rücken gegen einen anscheinend unbeweglichen Gegenstand. Langsam drehte sich Karl um und sah auf, nur um einen weiteren Dämon über sich aufragen zu sehen. Die Kreatur, menschenähnlich, aber nicht menschlich, war von Kopf bis Fuß in eine Rüstung gekleidet und sein Gesicht bedeckte eine metallene Maske. Mit einer mächtigen Rückhand schlug das humanoide Monster den Menschen beiseite.
Karl krachte in die Tische und spürte, wie seine Rippen brachen und die Knochen in seinem erfrorenem Arm zersplitterten. Die Schmerzen und die Gewissheit des Todes ließen ihn aufstöhnen und er kroch in eine Ecke, wo er vergessen liegen blieb, während die beiden Höllengeburten begannen, einander zu zerreißen – Stück für blutiges Stück.