KAPITEL 2

 

Weyland Industries, Bodenstation für Zielverolgungs-

und Datensteuerungssatelliten, New Mexico, heute

 

Francis „Fin“ Ulibeck pfiff unmelodiös vor sich hin und tippte zum Gruß an seine Boston Red Sox-Baseballkappe, als er an dem gelangweilten Wachposten vorbeiging. Dann zog er seine Zugangskarte durch das Lesegerät, gab seinen Code ein und wartete auf die Freigabe. Als die Sicherheitstüren sich zischend öffneten, zwängte Fin seine beträchtliche Körpermasse durch die Öffnung und schlenderte den klimatisierten Gang entlang.

Auf der anderen Seite der großen, getönten Fenster, die den Betontunnel säumten, schimmerte die Hochwüste New Mexicos unter dem erbarmungslosen Angriff der Nachmittagssonne. Ein Wald aus Satellitenschüsseln erstreckte sich Kilometer weit über die sandigen Ebenen und rotbraunen Hügel, ihre Antlitze dem Himmel entgegengereckt. Da draußen im Wüstensand stiegen die Temperaturen auf 42 Grad an, bei beinahe null Prozent Luftfeuchtigkeit, aber auf dieser Seite, abgeschirmt von Glas und Beton, lag die Temperatur bei gleichbleibend kühlen 22 Grad.

Fin grinste, als er eine schlaksige Gestalt mit langen Gliedmaßen ausmachte, die ihm aus der anderen Richtung entgegenkam.

„Headley, Alter. Du gehst schon? Dann verpasst du ja den Maestro bei der Arbeit.“

„Schicht ist um“, entgegnete Ronald Headley gelangweilt.

Anders als bei Fin, dessen Kopf auf seinem kurzen, runden Körper eher klein erschien, war Headleys kennzeichnendes Merkmal auf seinem Fahnenstangen-Körper ein übergroßer Schädel. Ironie des Schicksals, in Anbetracht seines Namens. Folglich war Headley auch der einzige Techniker in der Abteilung für Telemetrie und Datenüberwachung, der keinen Spitznamen hatte. Jeder war der Meinung, dass „Headley“ schon mehr als perfekt war.

„Also, Headley… Hast du’s geschafft, dieses Luft- und Raumfahrtmuseum aus dem Orbit meines guten, alten Babys zu schmeißen?“

Headley nickte müde.

Fin blinzelte mit vorgetäuschter Überraschung. „Du meinst, das olle Relikt ist tatsächlich auf dein Kommando angesprungen?“

„Komm schon, Fin, GO7 ist jetzt nicht so alt.“

„Headley, Alter, als GO7 gestartet wurde, war Miami Vice die heißeste Sache im Fernsehen und ich hab meine Hausaufgaben auf nem C64 gemacht.“ Er klopfte Headley auf die Schultern. „Keine Sorge, du bekommst schon noch deine Chance auf einen Sportwagen – eines Tages, wenn du mal ganz groß bist.“

Headley ignorierte den Seitenhieb. Aus seiner Sicht kam Fin Ullbeck hauptsächlich deswegen gut durchs Leben, weil er den Anschein selbstgefälliger Überlegenheit mit einem Schuss „fröhlicher“ Verachtung aufrechterhielt. Headley hatte schon vor Jahren beschlossen, solch unausstehliches Verhalten wie eine Art genetischen Defekt zu behandeln – so wie Wolfsrachen oder verkürzte Arme.

„Hey, Fin. Vergiss nicht die große Show um vierzehnhundert…“

„Ich weiß, ich weiß! Behalt’s doch für dich, Alter“, würgte Fin ihn ab und beäugte besorgt die Sicherheitskamera über sich.

„Also dann, ich muss los“, rief Headley über die Schulter. „Fröhliches Überwachen.“

Fin kraulte sich den dünnen Bart, der sein Doppelkinn bedeckte, und ging weiter durch den Tunnel, bis er das zweite Paar klimatisierter Automatiktüren erreichte. Hinter dieser Barriere klärte ein umständliches Filter-, Kühlungs- und Reinigungssystem die Luft, um die Computer vor Sand, Pflanzenpollen und ganz gewöhnlichem Staub zu schützen. Die gesamte Anlage war auf einem anderthalb Meter dicken Betonfundament errichtet, das so erdbebensicher war, wie es die menschliche Ingenieurskunst zuließ. Isolierte, schalldichte Wände verschluckten das Flüstern des Windes auf dem Sand und das gelegentliche Anheulen des Mondes eines Kojoten.

Hinter diesen Türen lag die mit Computern gesäumte Telemetrie- und Datenüberwachungsabteilung, die mit einem Dutzend Wissenschaftlern und Technikern besetzt war. Sie alle sahen auf, als Fin den Raum betrat. Er lächelte und spreizte seine rundlichen Finger.

„Papa ist da. Dann lasst uns die Show mal auf die Gleise bringen!“

An den Wänden und auf den Schreibtischen flimmerten hochauflösende Bildschirme und zeigten digitale Daten, die von einem Dutzend Überwachungssatelliten gesammelt wurden. Diese Daten, eingefangen mittels Radar, Mikrowellenübertragung, ultraviolettem Licht, Wärmebildern oder simpler Fotoausrüstung, wurden von Multimillionen Dollar Kraycomputern gesammelt, ausgewertet und sortiert.

Fin tippte an seine Kappe, um Dr. Langer zu grüßen. Der Leiter der Tagesschicht erwiderte den Gruß mit böser Miene und wandte ihm den Rücken zu.

Fin warf seine Kappe auf die Konsole, ließ sich in einen knarrenden Bürostuhl fallen und machte eine halbe Drehung, um sich der größten, fortschrittlichsten Workstation des gesamten Komplexes zuzuwenden. Auf jeden noch so kleinen Datenfetzen, der von den Scannern des Big Bird eingesammelt wurde, konnte von diesem Platz aus zugegriffen werden. Was noch wichtiger war: Die ergonomische Tastatur, mit dem Joystick in der Mitte der Konsole, steuerte das Antriebssystem des PS 12.

Fin ließ seine Fingerknöchel knacken und leerte seine Taschen, um einen Berg aus Snickers, Milky Ways, Wunderbares und Twix zu errichten. Mit einem einzigen Tastendruck aktivierte er die Konsole und begann zu tippen. Minuten verstrichen, dann Stunden, während Fin unablässig Informationen in den Telemetriecomputer von Big Bird fütterte. Schließlich aktivierte er einen großen HDTV-Schirm über der Workstation und stülpte sich ein Headset über den Kopf.

„Hier ist Waystation Eins, Waystation Eins, beginnen geplante Telemetrieabänderung für den Satelliten P wie Peter, S wie Santa, Eins-Zwei. Das wäre PS 12, eintreffend fünf Minuten von rechts… Jetzt. Bereithalten für Datenübertragung.“

Fin legte einen Schalter um und schickte die geänderten Koordinaten an die Computer Dutzender Raumfahrtbehörden, Observatorien und Satellitenüberwachungseinrichtungen in der ganzen Welt.

„Bestätige Daten, Waystation Eins. Viel Glück“, verkündete eine Stimme in Fins Ohr.

Jetzt war alles bereit und Fin fasste zum Joystick und umklammerte den Aktivierungsschalter. Tausende Kilometer über der Erdoberfläche erwachte das Antriebssystem an Bord des Satelliten PS 12 zum Leben. Unten auf der Erde reckten die Techniker von Weyland Industries die Hälse hinter ihren Workstations, um dem selbsternannten „Meister der Telemetrie“ bei der Arbeit zuzusehen.

Es ging das Gerücht um, dass sowohl Microsoft Game Studios als auch Lucas Arts Fin hofiert hätten, um Spielesysteme für sie zu entwerfen, aber der „Game Shark“, Fins Spitzname, bevor er bei Weyland Industries eingestiegen war, hatte in seiner Zeit bei M. I. T. eine neue Leidenschaft entdeckt: Satellitentechnologie. Am Ende hatte sich der größte High Score-Champion in der Geschichte der National Video Gaming League für eine schlechter bezahlte Position in Weylands TDMC-Abteilung entschieden, weil er im Management die Gelegenheit hatte, sich in einem völlig neuen Level den absoluten Kick zu holen, indem er mit seinem Joystick riesige Satelliten lenkte.

Fin hatte die Fähigkeiten, die er sich als hingebungsvoller Spielezocker erarbeitet hatte, nie verloren. Jetzt bugsierte er mit kaum wahrnehmbaren Bewegungen seiner Hand zweieinhalb Tonnen an orbitaler Masse Zentimeter genau aus ihrer derzeitigen Umlaufbahn in eine neue – einen Orbit, der den Big Bird über der Unterseite der Welt schweben lassen würde. Jeder feinen Bewegung von Fins Hand folgte ein minutenlanges, gebanntes Starren auf die Gebilde, die über den Zielverfolgungscomputer tanzten, um zu überprüfen, ob der Satellit einer neuen Einstellung bedurfte. Schweiß trat auf seine Stirn, während sich Fin über die Konsole beugte, den Blick starr auf die stetig hereinströmenden Telemetriedaten geheftet. Gelegentlich zuckten seine verkrampften Finger und lenkten den Joystick in diese oder jene Richtung. Während der gesamten anstrengenden Tour nahm Fin den Blick nicht vom Bildschirm.

Schließlich, nach zweistündigem Herumwerkeln mit dem Joystick, setzte sich Fin seufzend auf und blinzelte, als wäre er gerade aus einem langen Schlaf erwacht. Er streckte seine Arme und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Mission erledigt“, verkündete Fin in sein Headset. „PS 12 befindet sich in seinem neuen Orbit. Alle Systeme laufen normal. Jetzt heißt es nur noch herumsitzen und warten.“

Fin warf sein Headset auf den Schreibtisch und sah auf seine Uhr. Es war beinahe soweit. Er ließ seine Finger über die Tastatur fliegen und aktivierte Big Birds Bordsensoren. Während der Satellit mit der ihm übertragenen Aufgabe, den antarktischen Kontinent abzutasten, begann, stützte Fin seine Füße an der Konsole ab, griff sich einen Schokoriegel vom Haufen und riss die Verpackung mit den Zähnen auf.

Auf klebrigem Nougat und knusprigen Erdnüssen kauend, drückte er einen weiteren Knopf. Ein Fernsehschirm neben seinem Fuß erwachte zum Leben.

„Grade noch pünktlich“, sagte Fin mit einem erleichterten Seufzer. Auf dem Bildschirm zog soeben der schwarzweiße Titel des Universal-Klassikers Frankenstein Meets the Wolf Man von 1943 herauf.

Sechsundzwanzig Minuten später – Bela Lugosi wollte sich gerade als Frankensteins Monster in den Ruinen von Frankensteins Schloss mit dem von Lon Chaney jr. dargestellten Wolfsmenschen anlegen – unterbrach ein blinkendes rotes Licht Fins heiß ersehnte Pause. Er schoss in seinem Stuhl hoch, schaltete den Fernseher aus und den HDTV-Schirm über der Konsole ein. Eine von Big Bird aufgenommene digitale Echtzeit-Übertragung füllte den Bildschirm. Eine gute Minute studierte Fin das flimmernde Bild und versuchte zu verstehen, was er da sah.

„O mein Gott“, keuchte er schließlich und seine legendäre Coolness löste sich in Nichts auf. Dann drehte er den Kopf halb herum und rief über die Schulter: „Dr. Langer! Kommen Sie schnell rüber. Sehen Sie sich das an!“

„Was gibt’s?“ fragte der Leiter der Tagesschicht.

Fin nahm nicht den Blick vom Schirm, als er antwortete: „Das ist die Datenübertragung von PS 12.“

„Wo steckt er gerade?“

Fin checkte die Navigationsdaten des Satelliten dreimal, bevor er antwortete: „Er sitzt genau über Sektor 14.“

Dr. Langer blinzelte. „Aber in Sektor 14 gibt es nichts.“

Fin deutete auf das Bild auf seinem Monitor. „Tja, jetzt schon.“

Dr. Langer blickte über Fin Ullbecks Schulter und sah eine Reihe überlappender Quadrate – absolut symmetrisch und, falls die Sensoren von PS 12 in Ordnung waren, sehr groß. Zu groß, um sich auf natürliche Weise gebildet zu haben.

„Was sehen wir uns da an?“ fragte Langer. „Wärmeabtastung“, lautete Fins sofortige Antwort. „Irgendeine geologische Aktivität hat die wärmeempfindlichen Sensoren aktiviert und die haben die Kamera angeschaltet. Dann hat Big Birds Computer mich alarmiert.“

Dr. Langer untersuchte das Bild. Die Formen sahen genauso aus, wie die von Menschenhand erschaffenen Strukturen, die man aus orbitaler Höhe erkennen konnte. Aber das war natürlich unmöglich. In Sektor 14 existierte nichts, es sei denn man rechnete Eisbären und Pinguine dazu. Wenn diese überlappenden Formen also tatsächlich Bauwerke waren, dann wären sie vor langer, langer Zeit errichtet worden – was sie zu dem bedeutendsten archäologischen Fund des einundzwanzigsten Jahrhunderts, wenn nicht sogar aller Zeiten machen würde. „Wecken Sie sie“, sagte Dr. Langer Fin griff zum Telefon, dann hielt er inne. „Wen?“

„Alle…“

Während er sprach, ließ Dr. Langer den Bildschirm keinen Moment mehr aus den Augen.