KAPITEL 16

 

Lex hielt im Eingang der Pyramide inne und lauschte. Sie hätte schwören können, etwas gehört zu haben – einen verstörenden Schrei, wie das Heulen eines wilden Tieres. Sie sah sich unter ihren Kameraden um, aber niemand schien etwas bemerkt zu haben.

Nach einem Augenblick beschloss Lex achselzuckend, dass es wohl ihrer Einbildung entsprungen sein musste.

„Perfekt erhalten“, staunte Thomas. „Diese Hieroglyphen wirken noch genauso wie an dem Tag, an dem sie in den Stein gehauen wurden.“

„So etwas habe ich noch nie gesehen“, murmelte Sebastian. „Als wären sie ein Sprachhybrid, der sowohl aztekische als auch ägyptische Merkmale in sich trägt. Vielleicht eine Art Ur-Esperanto – eine verlorene Sprache, die die Mutter aller Ausdrucksweisen war.“

Miller holte seinen Spektralanalysekoffer hervor und fing sogleich mit der Arbeit an. Er sah auf die digitale Anzeige seines tragbaren PC.

„Diese Werte zeigen an, dass die Steine mindestens zehntausend Jahre alt sind.“

Sebastian schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich. Prüfen Sie das noch mal nach.“

„Das hab ich schon.“

„Erstaunlich“, sagte Weyland.

„Wenn Ihnen das gefällt, werden Sie das hier lieben“, rief Lex und schwenkte ihre Taschenlampe, um ihre Aufmerksamkeit zu erwecken. Sie stand an der Türschwelle zu einem stockfinsteren Korridor, der noch tiefer in die riesige Pyramide führte.

Weyland humpelte vorwärts, wobei sein Stock auf den Steinplatten des Bodens klickte. Sebastian und Thomas rannten zu Lex hinüber, ihre Gesichter voller Erwartung. Bevor sie jedoch den Tunnel betreten konnten, winkte Lex sie zurück. Die anderen warteten, während Lex hinter sich ein kleines Stroboskoplicht auf den Boden stellte und ein weiteres auf ein in den Stein gehauenes Bord.

„Die blinken sechs Stunden lang. So können wir wieder unseren Weg hinaus finden.“

Dann führte sie sie weiter in eine kurze Passage, die mit kunstvoll gravierten Oberschwellen und komplizierten Piktogrammen geschmückt war. Am Ende der Passage lag eine zweite Tür – noch eindrucksvoller als die Eingangshalle. Die Türpfosten waren mit tausenden hieroglyphischen Figuren übersät und wurden von massiven Reliefsäulen umrahmt.

„Das ist offensichtlich die Hauptritualkammer“, flüsterte Sebastian in ehrfurchtsvollem Ton. „Der Grund dafür, warum diese Pyramide gebaut wurde.“

Ihre Taschenlampen erforschten die Dunkelheit und erhellten eine riesige, kreisrunde Steinkammer, deren Decke sich weit in den Schatten über ihnen erhob. Die Wände lagen hinter Terrakotta-Säulen, in die wieder die gleichen Hieroglyphen gekerbt waren, und auf dem Boden standen sieben aufrechte Steinblöcke. Jeder hatte die Größe eines kräftigen Mannes und auf jedem saß ein mumifizierter Körper. Die Blöcke waren einander zugewandt und bildeten einen Kreis, wie die Blütenblätter einer Blume. In der Mitte des Kreises lag ein gemeißeltes Steingitter. Unter diesem Rost lag endlose Finsternis.

Weyland berührte einen der kalten Steinblöcke. „Das sind…?“

„Opferblöcke“, sagte Sebastian.

„Wie bei den Azteken und den alten Ägyptern. Wer immer diese Pyramide gebaut hat, hat auch an rituelle Opfer geglaubt“, vermutete Thomas.

Lex richtete den Strahl ihrer Lampe auf einen zwei Meter hohen Berg aus menschlichen Schädeln an der Wand gegenüber. „Das können Sie laut sagen.“

„Mein Gott“, flüsterte Max Stafford.

Miller beugte sich über einen der Toten. „Beinahe perfekt erhalten.“

Wie die anderen auch war dieser Leichnam in der rauhen Umgebung gefriergetrocknet. Fleisch und Sehnen hafteten noch an den Knochen. Der Tote trug einen rituellen Kopfschmuck und ein Juwelenhalsband, dessen Steine und kostbares Metall unter dem Staub der Jahrtausende hervorglitzerten. Obwohl außer einem Loch unterhalb des Brustkorbes keinerlei Verletzungen zu sehen waren, war das Gesicht der Mumie schmerzverzerrt. Ihr Mund war weit geöffnet, als wäre sie unter unerträglichen Qualen eingefroren.

„Hier haben sie ihre Auserwählten den Göttern geopfert“, sagte Thomas.

Behutsam berührte Miller die Überreste. Das Fleisch war wie Leder und die Knochen waren kalziniert und hatten die Beschaffenheit von Stein.

Währenddessen ließ Sebastian seine Taschenlampe über einen der Blöcke wandern. Die Oberfläche trug dunkle Flecken – stummes Zeugnis des rituellen Blutbades, das diese Kammer mit angesehen hatte.

„Hier liegen diejenigen, die auserwählt wurden“, erläuterte er den anderen. „Sie wurden nicht gefesselt oder sonstwie festgehalten. Sie gingen bereitwillig in den Tod… Männer und Frauen. Es wurde als große Ehre angesehen.“

„Welch ein Glück für sie“, sagte Lex. Sie strich mit dem Finger über eine runde, schüsselförmige Einrückung am Fuß des Blockes. „Wofür ist diese Schüssel?“

Sebastian zuckte mit den Achseln. „Da gehen die Meinungen auseinander. Manche Archäologen glauben, dass dort das Herz hineingelegt wurde, nachdem es aus dem Körper gerissen wurde… dem lebenden Körper.“

Weyland leuchtete mit seiner Taschenlampe durch das Gitter in der Mitte. „Sehen Sie sich das an!“

Max entzündete eine Signalfackel und ließ sie durch das Gitter fallen. Über das Loch gebeugt sah er zu, wie sie hinunterfiel. Alle konnten hören, wie sie auf etwas prallte.

„Wie tief geht’s da runter?“, fragte Weyland.

„Ich kann es nicht richtig erkennen“, antwortete Stafford. Er war auf die Knie gegangen und presste sein Gesicht an das Gitter. „Vielleicht dreißig Meter. Sieht aus wie ein weiterer Raum.“

Weyland stellte die Helligkeit seiner Lampe höher und ließ das Licht über die Wände streifen. Der Strahl beleuchtete noch mehr Berge menschlicher Knochen. Viele der Skelette waren nach wie vor vollständig. Weyland holte tief Luft. „Das müssen Hunderte sein.“

„Mindestens“, entgegnete Max.

Als Weyland sich von der Hauptgruppe entfernte, blieb Adele Rousseau an seiner Seite, eine Hand an der Pistole in ihrem Gürtel. Wie die anderen starrte auch sie in entsetzter Faszination auf die Berge gebleichter Knochen.

Rousseau untersuchte den Brustkorb eines der intakten Skelette. Wie bei den Mumien auf den Blöcken war ein Loch durch die Rippen gebohrt.

„Was ist hier passiert?“, fragte sie und legte ihren Finger in die Öffnung.

Thomas trat an ihre Seite. „Bei rituellen Opfern war es weit verbreitet, das Herz des Opfers zu entnehmen.“

Aber die Frau schüttelte ihren Kopf. „Das Herz sitzt nicht an dieser Stelle. Und außerdem sieht es so aus, als wären die Knochen nach außen gebogen. Etwas ist aus diesem Körper herausgekommen.“

Thomas stieß in dem Berg menschlicher Gebeine auf etwas. Er richtete sich auf und stellte seine grausige Entdeckung zur Schau.

„Unglaublich“, sagte Miller. „Der ganze Kopf und die Wirbelsäule sind am Stück entnommen worden.“

Mit Millers Hilfe drehte Thomas das Skelett in seinen Händen, sodass alle die abgetrennten Rippen sehen konnten.

„Die Sauberkeit des Schnittes… bemerkenswert“, sagte Miller und kratzte sich durch seine Wollmütze am Kopf. „Genau durch den Knochen. Keinerlei Abschürfungen. War ganz schön schwierig, so etwas mit modernen Klingen hinzukriegen, selbst mit Lasern…“

Millers Spekulationen wurden von einem langen, widerhallenden Heulen, wie von einem gequälten Tier, unterbrochen. Das Geräusch hielt noch eine Weile an, bevor es langsam verklang.

„Habt ihr das gehört?“ fragte Lex, die sich jetzt nicht mehr sicher war, ob das, was sie vorhin gehört hatte, wirklich ihrer Einbildung entsprungen war.

„Luft?“, sagte Miller. „Luftzüge im Tunnel.“

„Ich weiß nicht“, erwiderte Sebastian und sah sich um. „Vielleicht…“

Auf der Suche nach dem Ursprung des Geräusches machte Sebastian einen niedrigen Korridor aus, der zwischen zwei kunstvollen Wandsäulen versteckt lag. Er leuchtete in die Dunkelheit, konnte aber keinerlei Details hinter dem Eingang erkennen. Er ging um ein Skelett herum und bahnte sich vorsichtig einen Weg zu der vermeintlichen Geräuschquelle.

„Können Sie etwas sehen?“ flüsterte Miller.

Sebastian konnte – zumindest dachte er das. Er musste sich tief ducken, weil sich die Decke zum Ende des Vorraumes hin stark absenkte. Vergeblich versuchte er, den Lichtstrahl in die finstersten Ecken der beklemmend engen Kammer zu richten.

Plötzlich fiel Sebastian etwas auf den Rücken. Er stolperte zurück und stürzte zu Boden. Mit einem trockenen Klappern fiel das Ding – schwer und kalkweiß, mit mehreren krabbenartigen Beinen – neben seinem Kopf auf die Steine.

Mit einem Aufschrei rollte Sebastian zur Seite, gerade als Lex ihre Taschenlampe auf das Ding richtete.

Die Kreatur hatte ungefähr die Größe eines Fußballs und sah aus wie ein Krebs, bloß ohne die Scheren, und es hatte einen langen, schlangenartigen Schwanz. Es war milchig weiß und lag beinahe einen Meter lang rücklings auf dem Boden. Miller bückte sich und stieß die Kreatur mit seiner Taschenlampe an.

„Seien Sie vorsichtig“, warnte Stafford.

„Was immer es ist, es ist schon eine ganze Weile tot“, sagte Miller. „Die Knochen sind kalziniert.“

Lex sah zu Sebastian, der sich noch immer nicht von seinem Schrecken erholt hatte. „Sie müssen es aus Versehen von der Decke gelöst haben.“

„Keine Ahnung, wie lange es schon hier ist, aber die Temperatur hat es konserviert“, sagte Sebastian. „Sieht aus wie eine Art Skorpion.“

„Nein. Das Klima hier ist zu feindselig für einen Skorpion“, meinte Lex.

„Haben Sie so etwas schon mal gesehen?“

Lex schüttelte den Kopf.

„Vielleicht ist es eine Spezies, die noch nicht entdeckt worden ist.“

„Vielleicht“, entgegnete Lex, aber ihre Stimme klang zweifelnd.

Aus dem Bauch der Kreatur baumelte ein langer, versteinerter Tentakel, der Lex vor allem an eine Nabelschnur erinnerte.