KAPITEL 19
Im Inneren der Pyramide
Sebastian und Lex stocherten mit den Lichtkegeln ihrer Lampen in der Dunkelheit herum, als sie die neue Kammer betraten. Aus dem höhlenartigen Echo ihrer Schritte schlossen sie, dass der Raum reichlich groß sein musste.
„Wir sind im Herzen der Pyramide“, meinte Sebastian.
Lex machte vor ihnen einen schwachen Schimmer aus. Als sie sich dem Licht näherte, erkannte sie, dass es eine Signalfackel war. Oben an der Decke sah sie ein Steingitter und begriff, dass die Kammer, in der sie sich aufhielten, direkt unter der Opferkammer lag.
Lex ging an der zischenden Fackel vorbei und drang mit Sebastian neben sich weiter vor. Weyland, Max und Miller folgten ihnen dichtauf und Verheiden und Connors bildeten die Nachhut. Weyland ließ das Licht seiner Lampe über den gefliesten Boden wandern, dann entlang der hohen, verzierten Steinwände, bis hinauf zu der gewölbten Decke. Sebastian stoppte, um die Inschrift einer tönernen Urne zu studieren, während Lex weiter zur Mitte der Kammer ging.
„Mein Gott“, rief sie.
Sofort richteten alle ihre Taschenlampen in ihre Richtung – und beleuchteten einen großen Kasten, der die Form einer Gewehrkugel hatte und auf einem Podest aus aufeinander geschichteten Steinen lag. Das Objekt war aus einem matt schimmernden Metall gefertigt und mit einer dünnen Schicht glitzernden Eises überzogen. Durch seine viereinhalb Meter Länge und anderthalb Meter Breite wirkte es wie ein Sarg. Es waren keinerlei Scharniere oder Öffnungen zu sehen, aber die Form war unverkennbar.
„Eine Art Sarkophag“, nahm Sebastian an. „Von der Form her ägyptisch. Sie wurden gebaut, um die Toten auf ihrer Reise ins Jenseits zu schützen.“
Weyland berührte die kalte Oberfläche. Als er seine Hand zurückzog, hafteten Eiskristalle an seinen Fingern. „Können Sie ihn öffnen?“, fragte er.
Sebastian untersuchte den Sarkophag. Zunächst hatte er die Oberfläche für völlig glatt gehalten, jetzt bemerkte er feine Riefen auf dem Deckel – eine Reihe kreisförmiger, praktisch identischer Symbole.
Sebastian sah sich um und fand eine größere Version des gleichen Musters an der Wand.
„Seht doch“, rief er. „Die Symbole an der Wand stimmen mit denen auf dem Deckel des Sarkophags überein.“
„Dann ist es wohl eine Bestattungsverzierung zu Ehren der Toten – vielleicht eine Inschrift“, vermutete Miller.
Aber Sebastian schüttelte den Kopf. „Es ist eine Kombination.“
„Wie bei einem Safe?“, sagte Connors.
„Wie bekommen wir das Ding auf?“, fragte Weyland.
„Ich habe eine Idee.“ Sebastian wischte das Eis vom Deckel des Sarkophags. Danach – und es schien eine ganze Weile zu dauern – verglich er die Zeichen an der Wand mit denen, die in den Sarg graviert waren. Sein Verstand raste und er sprach seine Gedanken laut aus.
„Dieses uralte Volk hätte die Kombination nach etwas gestaltet, das sie kannten. Eine Zahl dürfte das sicher nicht sein. Was könnten sie gesehen haben? Die Planeten?“ Sebastian schüttelte den Kopf. „Nur neun Planeten… die Sterne vielleicht. Aber könnten sie Sterne als Kombination verwendet haben? Der Nachthimmel würde sich doch ständig ändern…“
„Es gibt nur ein Sternbild, das so weit im Süden das ganze Jahr über sichtbar ist“, unterbrach Miller. „Und das ist Orion.“
„Orion!“, rief Sebastian.
Dann streckte er seine Hand aus und berührte die Kreise an der Wand. Zur großen Überraschung aller begannen sie in einem dumpfen weißen Licht zu glühen. Sebastian drückte auf einen weiteren Kreis, dann auf noch einen, bis das Sternbild des Orion fahl an der Wand leuchtete.
Alle traten einen Schritt zurück und machten Platz, damit Sebastian durch die Kammer zu dem Sarkophag gehen konnte. Als er die eingravierten Kreise auf dem Metalldeckel berührte, begannen auch sie, wie ihre Geschwister an der Wand, zu glühen. Dann begann sich der Deckel zu öffnen.
Miller kam näher, um einen besseren Blick zu bekommen. „Wie ist so etwas möglich?“
Sebastian packte Miller am Mantel und zog ihn zur Seite. Auch die anderen schob er zurück. „Bleibt weg. Wir wissen ja gar nicht, was da drin ist.“
Aus sicherer Entfernung sahen sie zu, wie sich der Deckel vollständig öffnete und ganz langsam wieder zur Ruhe kam.
Weyland zog eine Braue hoch. „Tja, Professor De Rosa. Sie sind der Experte. Was schlagen Sie jetzt vor?“
Von seinem sicheren Platz aus versuchte Sebastian ins dunkle Innere des Sarkophags zu blicken, aber er konnte nicht über die Kante spähen.
„Alle anderen bleiben zurück“, befahl er, während er sich behutsam vorwärts bewegte. Am Sarg angekommen blieb er stehen. Dann hob er seine Taschenlampe und riskierte vorsichtig einen Blick.
„Da… das glaube ich nicht.“
„Was?“
„Schauen Sie selbst, Mr. Weyland.“
In dem Sarkophag lagen drei futuristisch aussehende Artefakte, wahrscheinlich Waffen.
Sebastians und Charles Weylands Blicke trafen sich. „Die Überkultur“, flüsterte Sebastian geheimnisvoll.
In der Grotte
Quinn lag ausgestreckt auf dem Boden und sah durch den Rauhreif, der sich auf seinem reglosen Körper niedergelassen hatte, wie ein geschliffener Diamant aus, der im grellen Schein der Halogenscheinwerfer funkelte. Überall standen Scheinwerferständer und Kisten herum – sonst war die Grotte leer. Ein frostiger Luftzug wehte aus der Öffnung des Tunnels.
Als er über Quinns Gesicht strich, öffnete dieser die Augen. Er versuchte sich zu bewegen, aber seine Glieder waren taub. Er war buchstäblich festgefroren. Während seiner Bewusstlosigkeit war Speichel aus seinem Mund gelaufen und Blut aus der Wunde in seiner Schulter gequollen. Die Flüssigkeiten waren erstarrt und jetzt klebte er auf dem eisigen Grund wie eine zertretene Wanze auf dem Fußboden eines Kakerlakenmotels. Er fror erbärmlich und war sogar zum Zittern zu schwach, und er öffnete den Mund, um nach Hilfe zu rufen – aber der Schrei blieb ihm im Halse stecken, als er eine gespenstisch vertraute optische Verzerrung am Eingang des Tunnels flackern sah. Das Monster, das ihn an der Oberfläche angegriffen hatte, war ihm hierher gefolgt – und hatte einen Freund mitgebracht. Wahrscheinlich waren die beiden gekommen, um ihr Werk zu Ende zu bringen.
Als die schimmernden Spukgestalten auf ihn zu glitten, begann Quinn zu zittern. Sie bewegten sich wie eine Einheit und ihre unsichtbaren Füße hinterließen Spuren im Rauhreif. Quinn kniff die Augen zusammen und hielt den Atem an. Ein schwerer Stiefel ließ das Eis neben seinem Kopf knirschen. Quinn erwartete den Todesstoß.
Der blieb zu seinem Erstaunen jedoch aus. Quälend lange Sekunden verrannen, bevor Quinn die Augen wieder öffnete, und da hatte es den Anschein, als wären die geisterhaften Killer verschwunden. Ihre Fußstapfen bildeten eine Spur, die zu der mit Eis überzogenen Pyramide am Horizont führte.
Mit fast erfrorenen Fingern riss Quinn sich von dem eisigen Boden los. Die gefrorene Spucke zog die Haut von seiner Wange und auch der Schorf seiner Schulterwunde wurde abgerissen.
Er kümmerte sich nicht um die Schmerzen, die er spürte – nicht um das gebrochene Bein, seine zerschlagenen Rippen oder die Erfrierungen, die seine Finger und Zehen aufzehrten. Quinn konnte sein Glück einfach nicht fassen: Er war am Leben und das war alles, was zählte.
Als er sich jedoch auf den Rücken drehte, riss er die Augen weit auf. Ein dritter Predator stand über ihm, die Klingen am Handgelenk gezückt. Noch bevor der Roughneck schreien konnte, zischten die Doppelklingen herab und bohrten sich tief in sein Gehirn.
In der Sarkophagkammer
Für Weyland sahen die gefundenen Objekte aus wie Waffen, allerdings wie unglaublich große, was sie umso beeindruckender machte. Das scharfe Auge des Industriellen erkannte den Aufbau eines Rückstoßladers, der auf eine ziemlich große Schulterplatte montiert war. Zwei weitere Waffen befanden sich in dem Sarg, von ähnlicher Bauart, aber kleiner und ohne den Schulterpanzer.
Miller ging nah heran und studierte die Geräte. „Irgendeine Idee, was das sein könnte?“
„Nee“, sagte Sebastian. „Sie?“
Miller zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf.
„Ein Glück, dass wir die Experten mitgebracht haben“, spottete Max Stafford.
„Hey!“, schrie Miller abwehrend. „Was wir hier grade gefunden haben, kommt einem DVD Player in Moses’ Wohnzimmer gleich. Also warum lassen Sie uns nicht eine Minute, um dem Ganzen auf den Grund zu gehen?“
Lex bemerkte, dass Weyland nur mit Mühe Luft bekam. Er gab Max ein Zeichen, der ihm daraufhin eine Sauerstoffflasche brachte. Mit zitternden Händen hielt Weyland die Maske an den Mund und atmete tief ein.
„Ist er in Ordnung?“
Lex sah Sebastian an. „Nur sein Asthma. Er ist okay“, sagte sie zu Weylands Schutz.
„Lassen Sie mich mal sehen, ob ich nicht eine Analyse des Metalls bekommen kann“, meinte Miller und holte sein Spektralanalyse-Set und seinen tragbaren PC hervor. Während sie auf die Ergebnisse von Millers Test warteten, entbrannte eine heftige Diskussion unter ihnen.
„Wer hat diese Dinger gebaut, und warum?“, keuchte Weyland. Max blieb an seiner Seite und flößte dem Milliardär weiter Sauerstoff ein.
„Also, wenn Sie mich fragen, dann ist die Ergonomie dieser Teile zu krumm, um für uns entwickelt worden zu sein“, sagte Miller. „Wer immer dieses Zeug gebaut hat, war kein Mensch.“
Weyland zog die Maske ein Stück von seinem Gesicht. „Verschonen Sie uns mit Ihren Science Fiction-Erklärungen, Dr. Miller.“
Plötzlich piepte Millers PC und er vertiefte sich in das Ergebnis.
„Wir haben hier zwei Stoffe. Tilanium und Kadmium 240.“
„Nie von gehört“, sagte Sebastian.
„Man findet sie in Meteoriten.“
„Meteoriten?“, rief Sebastian.
Miller lächelte triumphierend. „Was das auch immer für Dinger sein mögen, sie wurden nicht hier gebaut.“
„Und wenn Sie ,hier’ sagen, meinen Sie damit…?“ Weylands Stimme schweifte ab.
„Ich meine die Erde“, sagte Miller.
Weyland zog die Sauerstoffmaske von seinem Gesicht, um besser sprechen zu können, begann aber sofort wieder zu keuchen.
„Wie geht’s Ihnen?“ fragte Lex.
Weyland nickte ihr nur zu, aber Lex konnte sehen, dass es ihm überhaupt nicht gut ging.
„Für heute waren wir lange genug draußen“, verkündete Lex. „Wir werden heute Nacht ein Basislager in der Walfangstation an der Oberfläche aufbauen und kommen morgen Früh gleich wieder zurück.“
Max Stafford richtete sich auf und versperrte Lex den Weg.
„Sie können zurück zum Basislager, Ms. Woods.“ Er senkte seine Hand auf Weylands gebrechliche Schulter. „Wir bleiben hier.“
Lex beachtete Max gar nicht und wandte sich direkt an Weyland.
„Sie wollten ohne die nötigen Vorbereitungen losziehen. Das haben wir getan“, rief sie. „Sie wollten, dass wir zuerst hier sind. Sind wir. Sie wollten den Fund für sich. Er gehört Ihnen. Jetzt sind wir ein Team und für heute sind wir fertig.“
Weyland sah zu Lex auf, dann zu den anderen. „Ihr habt’s gehört“, sagte er. „Auf geht’s.“
„Was sollen wir mit den Waffen machen, oder was immer das ist?“ fragte Max.
„Nehmt sie mit“, befahl Weyland. „Wir können noch weitere Tests machen, wenn wir wieder oben sind.“
Connors ging zu dem Sarkophag und fasste hinein. Seine Finger griffen nach der kleinsten Waffe – ein stromlinienförmiger, organisch aussehender Metalllauf mit einem massiven Griff.
„Nein! Nicht anfassen!“, schrie Sebastian.
Zu spät. Als Connors die Waffe aus dem Sarkophag hob, löste er einen Mechanismus aus, der darunter verborgen war. Ein deutliches Klicken erklang, gefolgt von einem lauten Knall, der in der Kammer widerhallte und die Eiszapfen von der Decke fallen ließ.
Dann fingen die Wände an, sich zu bewegen.
„Sebastian!“, rief Miller. „Das passiert doch in allen Pyramiden, richtig?“
„Nein“, antwortete Sebastian nervös.
Wie ein riesiger Zauberwürfel begann sich die Pyramide neu zu ordnen. In einer ohrenbetäubenden Abfolge aus donnerndem Krachen, Poltern und Rumpeln, reibenden Getrieben und aneinander knirschenden Steinen glitten Wände zur Seite und verwandelten Sackgassen in Durchgänge, die in immer weitere unentdeckte Bereiche der Pyramide führten. Andere Hallen wurden wiederum von tonnenschweren Steinblöcken oder Falltüren, die zuschlugen, verschlossen.
Sebastian packte Lex und zog sie aus der Bahn eines riesigen Steinklotzes, der sich von der Decke herabsenkte. Andere Blöcke verschlossen den Durchgang zur Sarkophagkammer und zermalmten die Spur der Leuchtstäbe, die Lex zur Orientierung ausgelegt hatte. Ihr Fluchtweg war abgeschnitten.
Die Bewegung, die den uralten Bau erschütterte, brach Eiszapfen, Terrakotta-Plastiken und ganze Steinblöcke los. Überall um sie herum fielen diese Stücke zu Boden und zerbarsten wie Mörsergranaten.
In der Opferkammer saßen Thomas und Adele zusammen mit mehreren Assistenten in der Falle. Der Eingang wurde von gewaltigen behauenen Steinwällen abgeschlossen, die sich aus dem Boden schoben und von der Decke herabsanken.
Lex starrte auf die Wände in der Sarkophagkammer. Ihre Formen bewegten sich auf surreale Art und Weise und die Perspektive begann sich zu verschieben, sodass Lex dachte, sie wäre in einem Bild von M. C. Escher gelandet.
„Was zum Teufel geht hier vor?“ schrie Connors. Aber sein Schrei wurde von der Kakophonie knirschender Getriebe und rutschender Steine verschluckt. Innerhalb von Sekunden war jede Flucht ausgeschlossen.