KAPITEL 18

 

Bouvetoya-Walfangstation

 

Die Söldner reagierten in dem Moment, in dem sie den Schuss hörten. Bevor der Schall noch verklungen war, hatte eine MP-5 den Schraubenzieher in Mikkels Hand ersetzt. Der unablässige Singsang am Samovar starb ab, als Boris seinen Blechbecher gegen eine Maschinenpistole tauschte.

Beim zweiten Schuss war Sven bereits auf den Beinen. Er schlug den schweren Eisenriegel vor die massive Holztür und wich zurück, für den Fall, dass jemand durch die Tür schoss.

„Mikkel“, zischte er und schulterte eine Heckler & Koch. „Geh ans Funkgerät. Schnell.“

Die Stille schien eine Ewigkeit zu dauern, dann krachte die Tür mit einem ohrenbetäubenden Knall auf. Schneidender Wind und aufwirbelnder Schnee füllte den Raum. Sven zielte mit seiner Waffe auf die Tür, aber außer verschwommen schimmerndem weißen Pulver konnte er nichts erkennen.

Er drehte sich um. „Boris! Sichere die Tür!“

Die Russen gingen zur Türschwelle und spähten in den Sturm. Durch den sintflutartigen Niederschlag konnte Sven sehen, wie Boris hinausstarrte und dann mit den Achseln zuckte. Nichts.

Währenddessen sprach Mikkel in den ICOM-Empfänger.

„Basislager an Piper Maru… Wir haben einen Vorfall. Wiederhole. Basislager an Piper Maru…“

Als keine Antwort kam, fing der Russe an zu fluchen und schaltete dabei am Mikrofon herum.

Schnee und Wind bliesen weiter in den Messesaal. Schließlich mühte sich Boris gegen den Sturm ab, um die Tür zu schließen.

Mikkel fühlte Svens Hand auf seiner Schulter. „Komm schon, Junge… Du musst das Schiff erreichen.“

„Ich versuch’s ja, aber der Sturm…“

Sven spürte, wie Mikkel unter seinem Griff zitterte – dann wurde der Mann gewaltsam unter seiner Hand weggerissen.

Er schnellte herum und sah, wie der Russe von einer unsichtbaren Kraft in die Luft gehoben wurde. Der Empfänger fiel aus seiner schlaffen Hand, aber er war noch am Leben und immer noch bei Bewusstsein. In Mikkels Gesicht spiegelten sich Schmerz und Verwirrung. Er wusste, dass er sterben würde, aber er konnte nicht begreifen, was ihn tötete. Seine Augen trafen auf Svens. Er öffnete den Mund, brachte aber nur ein nasses Gurgeln hervor. Und dann, als er endlich tot war, hing Mikkel an einem plötzlich sichtbaren Speer, wie ein Stück Fleisch, das an einer Gabelspitze baumelt.

An der Tür geriet Boris ins Taumeln, als unsichtbare Klingen ihm erst den rechten Arm abhackten und dann den linken. Anschließend explodierte seine Kehle in einer roten Wolke, während seine abgeschlagenen Glieder zu Boden plumpsten. Die Faust, die noch die MP-5 umklammerte, zuckte ein letztes Mal und feuerte eine Salve in die gegenüberliegende Wand.

Was Sven vorher nur verschwommen erkennen konnte, hob sich jetzt im Pulverqualm deutlich ab – die Silhouette einer unglaublich großen, humanoiden Kreatur. Der Ex-Navy-SEAL wich einen Schritt zurück und visierte sie mit seiner MP-5 an. Aber noch bevor er abdrücken konnte, schickte ihn ein gezielter Hieb zu Boden.

Aus seiner gebrochenen Nase troff Blut, während Sven nach der Waffe tastete, die ihm aus der Hand geschlagen worden war. Aber er verbrühte sich nur die Finger an dem Wasserkessel, der immer noch auf dem Campingofen köchelte. Mit beiden Händen schleuderte er ihn fort und verpasste dem Gespenst eine Dusche kochend heißen Wassers.

Der Aluminiumkessel prallte ohne jede Wirkung ab, aber das Wasser rief ein wütendes Gebrüll hervor, während elektrische Ladungen über die Silhouette der humanoiden Gestalt blitzten. Schließlich, in einem Regen aus blauen Funken, versagte die Tarnvorrichtung des Predators für einen Moment – lange genug für Sven, um seine eigene, angstverzerrte Reflexion in den verspiegelten Augen der gepanzerten Maske der Kreatur zu sehen.

Die Schüsse waren laut genug, um durch den Sturm hindurch gehört zu werden. Quinn, der von der Inspektion der Hägglunds zurückkam, riss die Tür auf.

„Was hat dieser verdammte Lärm zu be- “

Quinn klappte der Unterkiefer hinunter. Er wurde von blutigen Körpern und abgetrennten Körperteilen begrüßt  und von etwas enorm Großem, einem formlosen Unsichtbaren. Das Phantom schwang eine mit Menschenblut beschmierte Doppelklinge und war dabei, das Fleisch vom Körper eines schreienden Mannes zu reißen, der in einer Ecke kauerte. Durch den umherwirbelnden Schnee in der Messe konnte Quinn eine verschwommene Bewegung ausmachen. Die Silhouette änderte wieder ihre Form.

Auf einmal materialisierte eine Speerspitze genau vor Quinns Gesicht. Er schlug die Tür zu und duckte sich, während sich die Waffe durch das dicke Holz bohrte und ein Stück Muskel aus seinem linken Arm riss.

Er unterdrückte einen Schrei, dann drehte er sich um und rannte los.

Als er durch das Schneegestöber stolperte, hörte Quinn, wie die Tür der Messe aus ihren Angeln gerissen wurde. Er schleppte sich durch die Schneewehen um die Ecke des Gebäudes. Sein Atem stob in heißen Wolken hervor, während Tropfen seines warmen Blutes eine tiefrote Spur im Schnee hinterließen.

Aus Angst verfolgt zu werden, blickte Quinn über seine Schulter – und rannte in etwas, das vom eingesackten Dach herabhing. Er fiel rücklings zu Boden und starrte hinauf auf die Überreste von Klaus – einzig erkennbar an dem Namensschild an seinem Polartec-Anorak. Der Tote war an seinen Knöcheln aufgehängt worden und da, wo sein Kopf gesessen hatte, hingen jetzt nur noch lange, rotschwarze Eiszapfen aus einem zerfetzten Stumpf.

Durch den weißen Nebel hinter Klaus sah Quinn noch mehr Umrisse – er musste gar nicht erst ihre Gesichter erkennen, die Kleidung reichte aus. Es war der Rest des Teams. Reichel, Klapp, Tinker und die anderen schwangen an ihren Füßen aufgehängt im Wind.

Stotternd wandte Quinn den Blick ab und sah etwas im Schnee glitzern – Klaus’ Desert Eagle.

In dem Moment, in dem Quinn seine Hand um den Kolben legte, spürte er auch schon etwas hinter sich. Instinktiv hechtete Quinn in den Schnee und gab einen Schuss ab. Die Pistole zuckte in seiner Hand und durch den tobenden Sturm hörte er zu seiner Genugtuung ein Gebrüll aus Schmerz und Wut. Quinn sah, wie die Kugel ein gespenstisches grünes Loch in die unsichtbare Gestalt riss, die durch den Sturm stapfte. Zu ihren Füßen färbte dampfender, grün phosphoreszierender Lebenssaft den Schnee.

Quinn sprang auf und versuchte loszurennen. Er hatte noch keine zwei Schritte zurückgelegt, als ihn auch schon wieder etwas zu Boden warf. Er fiel der Länge nach hin und versuchte Halt zu finden. Seine Finger packten die Streifen einer zerschlissenen roten Leinwand – die Überreste des Apfelzeltes, das über dem Schacht aufgestellt worden war. Seit er das letzte Mal hier gewesen war, musste etwas das Zelt in Stücke gerissen haben.

Quinn hörte das Eis hinter sich knirschen, rollte auf den Rücken und zielte sofort wieder mit der Pistole, die ihm genauso schnell wieder von der geisterhaften Klaue aus der Hand geschlagen wurde. Als Quinn versuchte fortzukrabbeln, stampfte ein unsichtbarer Fuß auf seinen Unterschenkel und der Knochen brach mit einem Krachen entzwei, das sogar den rauschenden Wind übertönte.

Der unsichtbare Fuß holte wieder aus und der neue Tritt ließ Quinns Rippen brechen. Mit den Armen fuchtelnd fiel Quinn in das Loch und hinunter in den sechshundert Meter tiefen Schacht.

Der getarnte Predator sprang auf den Dreifuß, der über der Grube stand, und spähte hinab in den Abgrund. Seine baumstarken Beine stemmten sich gegen den Sturm und seine gespenstischen Umrisse flackerten und wechselten mit der Intensität des Windes und des prasselnden Schnees. Über den heulenden Sturm hinweg konnte die Kreatur Quinns leiser werdende Schreie hören, während er im Fall von den Eiswänden abprallte.

Ein gleichmäßiger Strom grünen Sekrets quoll noch immer aus der inzwischen sichtbaren Aushöhlung in der Brust der Kreatur. Aber falls der Predator Schmerz verspürte, zeigte er es nicht. Der Jäger aus den Tiefen des Weltraums warf seinen wuchtigen Kopf zurück, breitete seine muskulösen Arme aus und stieß einen unmenschlichen Kriegsschrei aus, der bis in den letzten Winkel der Walfangstation zu hören war.

Nur wenige Augenblicke später traten vier schimmernde Spukgestalten aus dem Schneesturm und versammelten sich am Schlund des Abgrundes um ihren Anführer. Mit Energieblitzen, die über ihre formlosen Gestalten züngelten, schalteten die Kreaturen ihre Tarnmechanismen aus.

Der Anführer schenkte dem Loch in seiner gepanzerten Brustplatte keine weitere Beachtung und aktivierte den Computer an seinem Handgelenk. Mit einem hohen Sirren erschien ein schwach leuchtendes holografisches Bild zwischen ihnen und die Predatoren drängten sich ringsherum, um die Karte des Pyramidenkomplexes, der tief unter ihnen lag, zu betrachten.

Im Zentrum der dreidimensionalen Gitterdarstellung, im Herzen der riesigen Zentralpyramide, pulsierte ein elektronisches Signal. Zufrieden grunzend schalteten die Predatoren ihre Tarnung wieder ein und verschwanden im brechenden Licht.

Im Inneren der Grube öffnete Quinn die Augen, überrascht, noch am Leben zu sein. Seine Erleichterung fand ein jähes Ende, als er bemerkte, dass er nach wie vor den Schacht hinuntersauste und mit jeder verstreichenden Sekunde schneller wurde.

Verzweifelt suchte er nach einem Halt. Seine Finger glitten über das Eis und streiften die Kabel, die vom Generator zu den Flutlichtern am Boden führten. Quinn schleuderte sie hektisch beiseite, denn er war zu schnell, um sich jetzt auf diese Weise bremsen zu können. Er musste einen Weg finden, seinen Sturz ein wenig zu verlangsamen, bevor er ein weiteres Mal die Hand nach den Kabeln ausstreckte.

Quinn griff nach seinem Gürtel, zog seinen Eispickel hervor und holte aus. Als die Spitze in die gefrorene Wand sauste, spritzten Quinn weiße Splitter in die Augen und blendeten ihn. Er wurde immer noch nicht langsamer.

 

 

An Bord der Piper Maru

 

Kapitän Leighton hörte ein jähes Krachen über sich, wie das Geräusch eines riesigen Astes, der von einer Eiche bricht. Instinktiv zog Leighton den Kopf ein und schnappte sich ein zerbeultes Megaphon.

„Alle Mann in Deckung auf dem Oberdeck!“

Seine verstärkte Stimme war laut genug, um über dem Wind, der durch die Masten pfiff, gehört zu werden. Die Besatzung verteilte sich, während mehrere hundert Kilo grauweißen Eises auf dem Stahldeck zerbarsten – Eis, das sich auf dem Überbau des Schiffes angesammelt hatte und jetzt, da es zu schwer geworden war, abbrach.

Die Männer sprangen hinter Rettungsboote und unter Treppen, während große Brocken gefrorenen Schnees über das Deck sprangen. Ein Klotz von der Größe eines Fußballs zertrümmerte das Buglicht. Ein anderer zerschlug das Glas eines Bullauges.

„Räumt alles weg, Eiltempo!“, befahl Leighton. „Da kommt noch mehr Schnee rein!“

Auf den Laufstegen um den Überbau klopften die Matrosen kristallüberzogene Handläufe frei und schlugen riesige Eiszapfen von den Treppen, Kränen und Kabeln. Plötzlich fuhr eine eisige Böe über das Deck, erfasste einen der Seeleute und warf ihn beinahe über Bord.

„Denkt an eure Sicherheitsleinen!“, bellte ein Deckoffizier, aber ohne die Hilfe eines Megaphons wurde sein Ruf vom Sturm davongetragen.

Umhüllt von einem dichten Pelzkragen und mit Eis an den Augenlidern und Öl auf dem ausgeblichenen Parka trat der Radarspezialist des Schiffes an Kapitän Leightons Seite.

„Ich habe die oberen Decks gecheckt“, brüllte er. „Die Radarantenne ist völlig zu und wir können sie nicht säubern, bevor der Sturm nicht vorbei ist. Meine Instrumente scheinen zu arbeiten, aber ich würde so schnell nicht versuchen, das Radar wieder anzuschmeißen – die Schüssel ist steif gefroren und ihr Mechanismus könnte beschädigt werden.“

„Und was sind die guten Neuigkeiten?“

Der Mann zwang sich zu einem halben Lächeln. „Die Giants haben ein Extra-Inning gewonnen.“

Leighton rief seinen Deckoffizier. „Lassen Sie noch fünfzehn Minuten weiterarbeiten und evakuieren Sie dann das gesamte Personal von Deck. Hier draußen ist es für die Besatzung zu gefährlich.“

Damit eilte Kapitän Leighton zur Brücke, wo sein erster Offizier und einer der Funker auf ihn warteten.

„Sir, wir haben eine teilweise Nachricht von Quinns Team aufgefangen. Ich glaube, sie stecken in irgendwelchen Schwierigkeiten.“

Leightons Schultern sackten unter der Last immer neuer, beunruhigender Nachrichten zusammen. „Was macht der Sturm?“

„Wir sind jetzt mitten drin und die Windstärke nimmt immer noch zu“, sagte Gordon und blickte aus dem vereisten Fenster. „Es wird ganz schön hart werden, diesen Sturm abzusegeln, Kapitän. Was immer auch da draußen auf dem Eis passieren mag, Weyland und sein Team sind für die nächsten fünf, sechs Stunden auf sich allein gestellt – mindestens.“