KAPITEL 14
600 Meter unter der Insel Bouvetoya
Im Gegensatz zu dem Wind, der mit Orkanstärke die Oberfläche heimsuchte, war am Ende des Schachtes, als die Forscher es erreichten, alles ruhig. Sämtliche Geräusche, Stimmen und sogar Schritte erweckten den Eindruck, als würden sie von ihrem Echo eher erstickt als verstärkt. Lex hatte herausgefunden, dass es sich dabei um ein seltsames Phänomen handelte, das in den tiefsten Höhlen der Erde einzigartig war.
Weyland saß auf seinem Rucksack und ruhte sich mit hängendem Kopf aus.
Währenddessen machten sich Connors und ein großer Kerl namens Dane – zusammen mit ein paar anderen Weyland-Fachleuten in den typischen eisblauen Parkas – daran, eine Reihe von Halogenlampen auszupacken und aufzustellen.
Lex entfernte sich etwas von den anderen und beugte sich hinunter, um mit der Hand über den Boden zu streichen. Wie die Wände und auch die Decke war er aus Eis. Uraltes Eis glazialen Ursprungs – wahrscheinlich vor Millionen von Jahren entstanden. Was wiederum bedeutete, dass sie sich in einer Eishöhle befanden und nicht unter der Erdkruste.
Sechshundert Meter in der Tiefe und wir haben noch nicht einmal festen Boden erreicht.
Lex stand wieder auf und zog eine Signalfackel aus ihrem Gürtel. Einen Augenblick später erhellte ein flackerndes blaues Glühen die Kulisse mit ätherischer Schönheit. Sie befanden sich nicht in einer Höhle, sondern in einer Grotte. Der weitreichende Raum war gleich den kristallenen Reißzähnen eines funkelnden Glaskiefers mit Stalaktiten und Stalagmiten übersät. In diesem Licht schimmerte und pulsierte alles. Das uralte Eis war durchsichtig und schien einen inneren Glanz zu verströmen wie das Herz eines Diamanten.
Sebastian schnappte nach Luft. „Das ist… wunderschön.“
„Ungefähr so schön, wie Sie mit Worten umgehen können“, sagte Lex, die ihm entgegenkam.
Weiter vom führte die Grotte zu einem noch größeren Raum, dessen hohe Decke sich bis in die Dunkelheit darüber erstreckte.
„Lässt sich wohl kaum sagen, wie hoch diese Höhle ist“, meinte Sebastian.
Lex berührte ihn am Arm. „Übrigens, danke noch mal für die Warnung vorhin.“
Sebastian grinste. „Nun, ich habe bemerkt, dass die Antarktis die feindseligste Umgebung auf Gottes weiter Erde ist, und da dachte ich mir, es wäre sinnvoll, wenn wir aufeinander aufpassen.“
Lex musste lachen. „Schön zu wissen, dass jemand meinem Vortrag zugehört hat.“
Maxwell Stafford starrte besorgt in die Dunkelheit der Grotte. „Wir müssen Licht hier reinbringen.“
„Jeden Augenblick, Chef,“ entgegnete Connors.
„Wie sieht’s mit den Kabeln aus?“
Dane grinste. „Von da oben ist niemand zu hören, aber der Generator läuft noch.“ Er führte die Drähte aneinander und Funken sprangen über.
„Da ist Saft drauf.“
„Gut“, sagte Max. „Dann lasst sie uns anschließen.“
Charles Weyland erhob sich und durchquerte die Grotte. Der Abstieg hatte seiner geschwächten Verfassung nicht gerade gut getan. Seine Schultern hingen herab und er sah abgezehrter aus, als Max ihn je zuvor gesehen hatte, selbst während der schlimmsten Phasen der Chemotherapie nicht.
„Ich verstehe das nicht“, keuchte Weyland atemlos. „Keine Ausrüstung. Kein Anzeichen eines anderen Teams…“
„Tja, der Tunnel wird sich nicht von selbst gegraben haben.“
„Wir haben Strom!“, rief Connors.
Max nickte. „Dann macht es mal schön hell hier.“
Mehrere Reihen Halogen-Flutlichter flammten gleichzeitig auf. Für ein paar Sekunden wurden alle von der jähen Helligkeit und den glitzernden Reflexionen geblendet. Lex kniff die Augen zusammen und senkte langsam die Hand, mit der sie ihre Augen abgeschirmt hatte.
„O mein Gott.“
Sebastian, der dem intensiven Licht den Rücken zugekehrt hatte, drehte sich bei Lex’ Ausruf um und blieb wie angewurzelt stehen.
„Das ist ja gewaltig“, rief Miller. „Gewaltig…“
Vor ihnen erhob sich eine enorme Pyramide, deren Spitze bis zur Decke der Höhle hinaufreichte. Der Bau besaß glatte Seiten und an einer von ihnen führte eine schmale Treppe mit Hunderten von Stufen hinauf. Sebastian erkannte sofort, dass dieser Bau die größte Pyramide darstellte, die jemals entdeckt worden war und die Große Pyramide von Giseh um beinahe die Hälfte überragte.
Sebastian drängte vorwärts und seine Augen verschlangen förmlich jeden Zentimeter der Anlage. Die Oberfläche der Pyramide erschien makellos und unberührt, obwohl die Eiszapfen, die an den Steinblöcken hingen, die Einzelheiten dahinter verbargen. Die sorgfältig gehauenen Stufen – jede mit einer schimmernden Eisdecke überzogen – führten zu einer abgeflachten Kuppe an der Spitze. An der Treppe waren Piktogramme zu sehen, selbst aus einiger Entfernung, und Sebastian folgerte umgehend, dass sie weder ägyptischen noch präkolumbianischen Ursprungs waren, obwohl sie vage an beides erinnerten.
„Das ist…“ Thomas’ Stimme versagte.
„Unmöglich?“
„Gewaltig, Sebastian“, sagte Thomas ruhig. „Einfach gewaltig.“
Lex legte eine Hand auf Weylands Schulter. „Herzlichen Glückwunsch. Sieht so aus, als würden Sie doch noch Ihr Zeichen setzen.“
Weyland nickte und trotz seines Leidens schaffte er es, Lex ein breites Lächeln zu schenken.
„Seht! Weiter hinten im Eis!“, rief Sebastian. „Ein ganzer Tempelkomplex! Verbunden durch einen Zeremonienweg. Der Gesamteindruck wirkt wie eine Mischung aus aztekisch, ägyptisch und kambodschanisch… aber diese Hieroglyphen… Ich glaube, sie spiegeln alle drei Sprachen wider.“
Thomas zog eine Braue hoch. „Ist das überhaupt möglich?“
„Wenn ich’s doch sage.“ Dann streckte Sebastian einen Finger aus. „Sieht so aus, als wäre da unten ein Eingang, da, am Fuß der Pyramide.“
Weyland stellte sich vor die Forscher. „Ich möchte Ihnen allen hierfür danken“, verkündete er mit einer Stimme, die überraschend energisch klang. „Lassen Sie uns Geschichte machen.“
Während Max Connors und Dane Anweisungen zur Sicherung des Basislagers gab, legten die anderen die Ausrüstung zurecht – zum größten Teil Taschenlampen, Laternen und Signalfackeln, aber auch Kameras, Chronometer und Kompasse, Millers Chemie- und Spektralanalyse-Kästen, extra Sauerstoffflaschen für Weyland, ein Erste-Hilfe-Kasten, reichlich Feldflaschen und sogar etwas Proviant.
Nachdem sie die Grotte verlassen hatten, überquerte die Gruppe die weite, zerklüftete Eisfläche, die sich bis zum Fuß der Pyramide erstreckte. Auf ihrem Weg riefen ihre Schritte ein hohles Echo hervor, ein dumpfes, unwesentliches Geräusch, das von der ungeheuren Größe der Höhle verschluckt wurde.
Während der Wanderung wurde klar, dass Weyland immer schwächer wurde. Max schleppte die Sauerstoffflaschen, an denen sich Weyland in regelmäßigen Abständen bediente. Die meiste Zeit stützte sich der Industrielle beim Gehen auf seinen Eisstock, aber wenn sie eine besonders schwierige Stelle erreichten, war er gezwungen, sich auf Stafford zu stützen.
Eine kurze Zeremonientreppe mit dreizehn Stufen, wie Sebastian bemerkte, führte zum gähnenden Eingang der Pyramide. Die Tür war etwas schmal, aber sehr hoch. Durch sie hindurch öffnete sich die Pyramide zu einer langen Halle hin, in die noch mehr Hieroglyphen gekerbt waren als auf die Außenseite des Baues.
Thomas und Sebastian gingen die uralten Schriften mit ihren Taschenlampen ab, wiesen auf unterschiedliche Figuren und Ideo- und Logogramme hin und spekulierten über mögliche Übersetzungen.
„Das Ägyptisch kann ich erkennen, aber die anderen beiden Sprachen nicht“, sagte Thomas und deutete auf drei verschiedene Inschriften auf dem Boden vor der Tür.
„Die zweite Zeile ist in Aztekisch, aus der Ära vor der Eroberung“, erklärte Sebastian. „Die Dritte ist kambodschanisch. Sieht aus wie eine Mischung aus Bantu und Sanskrit.“
Sebastian blickte auf und erkannte, dass Lex ihm zuschaute. „Beeindruckt?“
Ein Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. „Könnte sein.“
„Dann hatten Sie also Recht“, sagte Weyland. „Die Pyramide umfasst wirklich alle drei Kulturen.“
„So sieht es zumindest aus“, bestätigte Sebastian. „Das steht im Gegensatz zu jedem Geschichtsbuch, das je geschrieben wurde.“
Thomas kniete sich nieder und fuhr mit dem Finger an einem der eingekerbten Piktogramme entlang.
„Ihr dürft… wählen… den Zutritt?“ Er machte eine Pause in seiner Übersetzung und rieb sich den Nacken. „Oder heißt es vielleicht Jene, die den Zutritt wählen…?“
„Sieht aus wie eine antike ,Willkommen’-Fußmatte“, sagte Miller.
Sebastian trat hinzu und blickte auf die Inschrift. „Welcher Dilettant hat dir denn das Übersetzen beigebracht?“
Thomas grinste. „Komisch, der sah genauso aus wie Sie.“
„Es bedeutet nicht ,wählen’, Partner… es bedeutet erwählt,“ erklärte Sebastian. „Nur die Erwählten dürfen eintreten.“
Während sie so theoretisierten, schob Verheiden Thomas beiseite und ging dann weiter in den Eingang der Pyramide. Beim ersten Schritt durch die Tür trat er mit seinem Stiefel auf eine verzierte Steinplatte und aktivierte so einen verborgenen Auslöser. Niemand bemerkte es, als sich das Team über die Schwelle in die Eingangshalle bewegte.