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MITTLERWEILE SIND FAST vierundzwanzig Stunden vergangen, seit Joona Linna bei Nikita Karpin von Männern des FSB, des neuen russischen Inlandsgeheimdienstes, abgeholt wurde. Sie beantworteten keine Fragen und teilten ihm nicht mit, warum sie ihm Pass, Portemonnaie, Armbanduhr und Handy abnahmen.
Nachdem sie stundenlang in einer Gaststätte gesessen hatten, wurde er von ihnen in ein Hochhaus aus grauem Beton gebracht, wo sie durch einen Laubengang gingen und eine Zweizimmerwohnung betraten.
Joona wurde in den hinteren Raum mit einem schmutzigen Sessel, einem Tisch mit zwei Stühlen und einem kleinen Verschlag mit Toilette geführt. Die Stahltür wurde hinter ihm abgeschlossen, und anschließend geschah nichts, bis sie ihm zwei Stunden später eine warme Papptüte mit Essen von McDonald’s gaben.
Joona muss sich mit seinen Kollegen in Verbindung setzen und Anja bitten, nach Vadim Levanov und seinen Zwillingssöhnen Igor und Roman zu suchen. Vielleicht führen die neuen Namen sie zu neuen Adressen, vielleicht lässt sich die Kiesgrube identifizieren, in der Jurek Walters Vater damals arbeitete.
Aber die Metalltür blieb geschlossen und die Stunden vergingen. Er hörte die Männer zwei Mal telefonieren, danach blieb es still.
*
Joona döst in seinem Sessel gelegentlich kurz ein, aber als er gegen Morgen im Nebenzimmer Schritte und Stimmen hört, ist er augenblicklich hellwach.
Er schaltet das Licht ein und wartet darauf, dass sie hereinkommen.
Jemand hustet und spricht gereizt auf Russisch. Plötzlich wird die Tür geöffnet, und die beiden Männer vom Vortag treten ein. Sie tragen beide Pistolen in Schulterhalftern und unterhalten sich schnell auf Russisch.
Der Mann mit den silbergrauen Haaren zieht einen Stuhl heran und stellt ihn mitten ins Zimmer.
»Setzen Sie sich«, sagt er in gutem Englisch.
Joona steht aus dem Sessel auf, sieht den Mann zurücktreten, als er selbst zu dem Stuhl geht, und setzt sich ohne Eile.
»Sie sind in keiner offiziellen Mission hier«, erklärt der Mann mit dem Stiernacken und den schwarzen Augen. »Sie werden uns jetzt erzählen, weshalb Sie bei Nikita Karpin waren.«
»Wir haben uns über den Serienmörder Alexander Pitjusjkin unterhalten«, erwidert Joona tonlos.
»Und was ist dabei herausgekommen?«, erkundigt sich der Mann mit den silbrigen Haaren.
»Das erste Opfer war ein Mann, der möglicherweise sein Komplize war«, sagt Joona. »Über ihn haben wir uns unterhalten … Michail Odijtjuk.«
Der Mann legt den Kopf schief, nickt zwei Mal und sagt freundlich:
»Sie lügen natürlich.«
Der Mann mit dem Stiernacken hat sich abgewandt und seine Pistole gezogen. Es ist schwer zu sehen, aber es könnte sich um eine großkalibrige Glock handeln. Er verbirgt die Waffe mit dem Körper, während er sie durchlädt.
»Was hat Nikita Karpin ihnen erzählt?«, fährt der Mann mit den grauen Haaren fort.
»Nikita Karpin denkt, dass die Rolle des Komplizen …«
»Lügen Sie uns nicht an!«, brüllt der zweite Mann und dreht sich mit der Pistole hinter dem Rücken um.
»Nikita Karpin hat keinerlei Befugnisse mehr, er ist kein Angehöriger des Geheimdienstes.«
»Das wussten Sie – nicht wahr?«, fragt der Mann mit den schwarzen Augen.
Joona denkt sich, dass er die beiden Männer unter Umständen übermannen könnte, aber ohne Pass und Geld wäre es ihm trotzdem unmöglich, das Land zu verlassen.
Die Agenten wechseln ein paar Worte auf Russisch.
Der Mann mit den kurzen weißen Haaren atmet tief durch und sagt dann schneidend:
»Sie haben über Material gesprochen, das der Geheimhaltung unterliegt, und wir müssen im Detail erfahren, welche Informationen Sie erhalten haben, ehe wir Sie zum Flughafen fahren können.«
Sie bleiben lange vollkommen regungslos stehen. Der Mann mit den weißen Haaren wirft einen Blick auf sein Handy, sagt auf Russisch etwas zu dem anderen, der als Antwort nur den Kopf schüttelt.
»Sie müssen jetzt reden«, sagt er und steckt das Telefon in die Tasche.
»Ich schieße Ihnen sonst in die Kniescheiben«, ergänzt der zweite.
»Also schön, Sie fahren nach Ljubimova, treffen sich mit Nikita Karpin und …«
Der Weißhaarige verstummt, als sein Handy klingelt. Er meldet sich und wirkt gestresst, wechselt ein paar kurze Worte am Telefon und sagt anschließend etwas zu seinem Kollegen. Der Dialog der beiden wird immer erregter.