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ALS DAS BERUHIGUNGSMITTEL seine Blutbahn erreicht, weint Mikael. Sein Körper entspannt sich, und seine Schluchzer werden immer müder und verstummen nur Sekunden, bevor er sanft einschläft, ganz.

Joona fühlt sich innerlich seltsam leer, als er das Krankenzimmer verlässt und sein Handy aus der Tasche zieht. Er bleibt stehen, atmet tief durch und ruft Åhlén an, der die gerichtsmedizinischen Obduktionen der Leichen durchgeführt hat, die im Lill Jans-Wald gefunden wurden.

»Nils Åhlén«, meldet er sich.

»Sitzt du gerade am Computer?«

»Joona Linna, wie schön von dir zu hören«, sagt Åhlén mit seiner näselnden Stimme. »Ich habe hier vor dem Bildschirm gerade die Augen zugemacht und mir vorgestellt, ich hätte mir ein Gesichtssolarium gekauft.«

»Ein teurer Tagtraum.«

»Spare in der Zeit, so hast du in der Not.«

»Würdest du für mich bitte in ein paar alte Obduktionsberichte schauen?«

»Rede mit Frippe, er wird dir helfen.«

»Das geht nicht.«

»Er weiß genauso viel wie …«

»Es geht um Jurek Walter«, unterbricht Joona ihn.

»Ich habe dir gesagt, dass ich nie mehr darüber sprechen will«, sagt Åhlén gefasst.

»Eines seiner Opfer ist lebend zurückgekehrt.«

»Sag so etwas nicht.«

»Mikael Kohler-Frost … Er leidet an der Legionärskrankheit, wird es aber höchstwahrscheinlich schaffen.«

»Welche Berichte interessieren dich?«, fragt Åhlén.

»Der Mann in der Tonne litt doch an der Legionärskrankheit«, antwortet Joona, »aber gab es auch bei dem Jungen, der bei ihm lag, Spuren von Legionellen?«

»Warum willst du das wissen?«

»Wenn es einen Zusammenhang gibt, könnte man eine Liste der Orte zusammenstellen, an denen es diese Bakterien gibt. Und dann …«

»Wir reden hier von Millionen denkbaren Orten«, unterbricht Åhlén ihn.

»Okay …«

»Joona, selbst wenn in den anderen Berichten Legionellen auftauchen, ist das noch lange kein Beweis dafür, dass Mikael zu Jurek Walters Opfern gehört.«

»Heißt das, es gab Legionellen in …«

»Ja, ich habe damals Antikörper gegen die Bakterien im Blut des Jungen gefunden, wahrscheinlich hatte er das Pontiacfieber«, sagt Åhlén und seufzt. »Ich weiß, dass du Recht behalten willst, Joona, aber nichts von dem, was du sagst, reicht aus, um …«

»Mikael Kohler-Frost sagt, dass er Rebecka begegnet ist«, unterbricht Joona ihn.

»Rebecka Mendel?«, fragt Åhlén, und seine Stimme zittert.

»Sie wurden gemeinsam gefangen gehalten«, bestätigt Joona.

»Dann … dann hattest du also tatsächlich Recht, Joona«, sagt Åhlén, und seine Stimme klingt, als kämpfe er mit den Tränen. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr es mich erleichtert, das zu hören.«

Er schluckt schwer und flüstert, dass sie wohl trotz allem das Richtige getan haben.

»Ja«, sagt Joona tonlos.

Åhlén und er taten damals, vor langer Zeit, das Richtige, als sie den Autounfall für Joonas Frau und seine Tochter arrangierten.

Zwei Unfallopfer wurden an Lumis und Summas Stelle eingeäschert. Mit Hilfe von gefälschten Zahnschemakarten vertauschte Åhlén die Identität der Toten. All die Zeit hat ihn der Gedanke belastet, dass er falsch gehandelt haben könnte, als er Joona half. Er glaubte und vertraute Joona, aber es war eine so schwerwiegende und schicksalhafte Entscheidung gewesen, dass der Zweifel ihn seither nie mehr Frieden finden ließ.

*

Joona wagt es erst, das Krankenhaus zu verlassen, als zwei Polizisten eingetroffen sind, um Mikaels Zimmer zu bewachen. Auf dem Weg nach draußen ruft er Nathan Pollock an und sagt ihm, dass jemand den Vater holen muss.

»Ich bin mir sicher, dass es Mikael ist«, sagt er. »Außerdem bin ich mir sicher, dass er all die Jahre Jurek Walters Gefangener gewesen ist.«

Er setzt sich in seinen Wagen und rollt langsam vom Krankenhausgelände, die Scheibenwischer fegen den Schnee von der Windschutzscheibe.

Mikael Kohler-Frost war zehn, als er verschwand – und erst im Alter von dreiundzwanzig Jahren gelang ihm die Flucht.

Es kommt gelegentlich vor, dass Gefangene fliehen, so zum Beispiel Elisabeth Fritzl in Österreich, die vierundzwanzig Jahre von ihrem Vater als Sexsklavin im Keller gefangen gehalten wurde, bevor sie fliehen konnte. Oder Natascha Kampusch, die nach acht Jahren ihrem Kidnapper entkam.

Joona glaubt, dass Mikael genau wie Elisabeth Fritzl und Natascha Kampusch gesehen haben muss, wer ihn gefangen hielt. Und so gibt es plötzlich ein mögliches Ende. In ein paar Tagen nur, sobald es ihm etwas besser geht, müsste Mikael sie eigentlich zu dem Ort führen können, an dem er all die Jahre eingesperrt war.

Es donnert unter den Reifen des Autos, als Joona den Schneewall in der Straßenmitte kreuzt, um einen Bus zu überholen. Er fährt am Riddarhuset vorbei, und der Blick auf die Stadt öffnet sich, mit dichtem Schneefall zwischen einem schwarzen Himmel und dem dunklen Wasser des Mälarsees.

Der Komplize weiß natürlich, dass Mikael ausgebrochen ist und ihn entlarven kann, denkt Joona. Wahrscheinlich hat er längst versucht, alle Spuren zu verwischen, und das Versteck gewechselt, aber wenn Mikael sie tatsächlich zu dem Ort führen kann, an dem er gefangen gehalten wurde, werden die Kriminaltechniker Spuren finden, und dann kann die Jagd beginnen.

Es ist noch ein langer Weg, aber Joonas Herz schlägt dennoch schneller.

Die Gedanken sind so überwältigend, dass er auf der Vasabron rechts heranfahren und anhalten muss. Ein Autofahrer hupt. Joona steigt aus dem Wagen, geht auf den Bürgersteig und atmet die kalte Luft tief ein.

Ein einsetzender Migräneanfall lässt ihn nach vorne taumeln, und er stützt sich auf das Brückengeländer, schließt kurz die Augen, wartet und spürt, wie der Schmerz abklingt, ehe er die Augen wieder öffnet.

Millionen weißer Schneeflocken fallen und verschwinden auf der schwarzen Wasserfläche, als hätte es sie nie gegeben.

Es ist noch zu früh, die Sache auch nur zu Ende zu denken, trotzdem weiß Joona, was das alles bedeutet, und angesichts dieses Wissens wird sein Körper schwer. Wenn es ihm gelingt, den Komplizen zu fassen, existiert nichts mehr, was Summa und Lumi bedrohen könnte.

Der Sandmann
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