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JOONA BETRITT DAS Krankenzimmer und sieht einen älteren Mann am Bett des Jungen sitzen. Es dauert einige Sekunden, bis er begreift, dass es Reidar Frost ist. Es ist zwar viele Jahre her, seit sie sich das letzte Mal gesehen haben, aber der Mann ist so gealtert, als wäre noch mehr Zeit vergangen. Der Junge schläft, aber Reidar sitzt bei ihm und hält seine linke Hand in beiden Händen.

»Sie haben nie geglaubt, dass meine Kinder ertrunken sind«, sagt Mikaels Vater gedämpft.

»Das stimmt«, erwidert Joona.

Reidars Blick verweilt auf Mikaels schlafendem Gesicht, dann wendet er sich Joona zu und sagt:

»Danke, dass Sie uns nie etwas über den Mörder erzählt haben.«

Joona und Samuel hatten Jurek Walter damals zum ersten Mal vor dem Fenster der Mutter von Mikael und Felicia Kohler-Frost gesehen und ihn anschließend verfolgt und gefasst. Das hatte den Verdacht erhärtet, dass auch die Geschwister zu Jurek Walters Opfern gehörten.

Joona betrachtet das schmale Gesicht des jungen Mannes, den dünnen Kinnbart, die eingefallenen Wangen und die Fieberschweißperlen, die auf seiner Stirn glänzen.

Mikael hatte darüber gesprochen, wie es zu Anfang war, als sie noch viele waren und er Rebecka Mendel begegnet war. Das musste sich auf die ersten Wochen von Jurek Walters Einzelhaft bezogen haben. Seither ist mehr als ein Jahrzehnt der Gefangenschaft vergangen.

Aber Mikael ist die Flucht gelungen – und deshalb muss es auch möglich sein, den Ort zu finden.

»Ich habe niemals aufgehört zu suchen«, sagt Joona leise zu Reidar.

Der Schriftsteller betrachtet seinen Sohn, und sein Gesicht verzieht sich zu einem unkontrollierten Lächeln. Stundenlang hat er nun schon so dagesessen, doch er kann sich am Anblick seines Kindes nicht sattsehen.

»Die Ärzte sagen, dass er wieder gesund wird, sie haben es versprochen, sie haben versprochen, dass ihm nichts fehlt«, sagt er mit rauer Stimme.

»Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«, fragt Joona.

»Er bekommt ziemlich starke Schmerzmittel und schläft die meiste Zeit, aber sie sagen, das sei gut, er brauche das.«

»Das denke ich auch«, bestätigt Joona.

»Er wird es schaffen … und was seine Psyche angeht, wird es sicher dauern, das alles zu verarbeiten, aber er hat alle Zeit der Welt.«

»Hat er überhaupt etwas gesagt?«

»Er hat mir Sachen zugeflüstert, unverständliche Dinge«, antwortet Reidar. »Wirres Zeug. Aber er hat mich erkannt.«

Joona weiß, wie wichtig es ist, möglichst schnell über alles zu sprechen, was geschehen ist. Die Erinnerung ist entscheidend für den Heilungsprozess. Mikael braucht Zeit, darf aber gleichzeitig nicht in Ruhe gelassen werden, die Fragen können Schritt für Schritt fordernder werden. Dennoch besteht immer die Gefahr, dass ein traumatisierter Mensch sich vollständig abschottet.

Und im Grunde haben wir ja keine Eile, wiederholt Joona innerlich.

Es kann Monate dauern, alles zusammenzutragen, was passiert ist, aber die wichtigste Frage muss er schon an diesem Tag stellen dürfen.

Ich muss erfahren, ob Mikael weiß, wer der Komplize ist, denkt er und spürt, dass sein Herz wieder heftiger pocht.

Wenn er einen Namen oder eine gute Personenbeschreibung bekäme, könnte dieser Albtraum endlich ein Ende haben.

»Sobald er aufwacht, muss ich mit ihm sprechen«, erklärt Joona. »Es geht um wenige und konkrete Fragen, aber sie könnten schmerzlich für ihn sein.«

»Er darf nur keine Angst bekommen«, sagt Reidar. »Das kann ich nicht zulassen …«

Er verstummt, als eine Krankenschwester den Raum betritt. Sie grüßt die beiden Männer leise und kontrolliert Mikaels Puls und die Sauerstoffsättigung seines Bluts.

»Seine Hände sind kalt geworden«, sagt Reidar zu ihr.

»Ich werde ihm bald etwas geben, was das Fieber senkt.«

»Aber er bekommt doch schon Antibiotika?«

»Ja, aber es kann bis zu zwei Tage dauern, bis sie wirken«, antwortet die Schwester und lächelt beruhigend, während sie einen neuen Infusionsbeutel an den Ständer hängt.

Reidar hilft ihr, er steht auf, hält den Schlauch fort, damit sie besser herankommt, und begleitet sie anschließend zur Tür.

»Ich würde gerne mit dem behandelnden Arzt sprechen«, sagt er.

Mikael seufzt und flüstert etwas. Reidar bleibt stehen und dreht sich um. Joona beugt sich vor und versucht, ihn zu verstehen.

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