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POLLOCK, JOONA UND Corinne sitzen über den Tisch gebeugt und fassen die Lage zusammen. Noch vor Kurzem hatten sie nichts in der Hand, aber dank Saga Bauers Einsatz haben sie inzwischen einen Ort bekommen. Jurek Walter hat sich verplappert, als er »Leninsk« flüsterte. Er ist in Kasachstan aufgewachsen, aber da Susanne Hjälm gehört hat, dass er gebildetes Russisch spricht, stammt seine Familie aller Wahrscheinlichkeit nach aus Russland.
»Obwohl deren Geheimdienst nichts weiß«, wiederholt Corinne.
Joona holt sein Telefon heraus und sucht nach der Nummer eines alten Bekannten, den er seit vielen Jahren nicht mehr angerufen hat. Als ihm klar wird, dass er der Lösung des Rätsels Jurek Walter möglicherweise auf der Spur ist, wird ihm abwechselnd heiß und kalt.
»Was hast du vor?«, fragt Corinne.
»Ich werde mit einem alten Bekannten sprechen.«
»Du rufst Nikita Karpin an!«, platzt Nathan Pollock heraus. »Tust du das?«
Joona entfernt sich mit dem Telefon am Ohr ein paar Schritte von den anderen. Die Klingeltöne haben ein säuselndes Echo, und nach geraumer Zeit knistert es.
»Habe ich mich für deine Hilfe bei Pitjusjkin etwa nicht bedankt?«, fragt Karpin barsch.
»Du hast mir ein paar Stücke Seife geschickt, die …«
»Reicht dir das etwa nicht?«, unterbricht der Russe ihn. »Du bist der hartnäckigste Bursche, dem ich je begegnet bin, ich hätte mir eigentlich denken können, dass du anrufen und mich stören würdest.«
»Weißt du, wir haben hier einen komplizierten Fall, der …«
»Ich unterhalte mich grundsätzlich nicht am Telefon«, fällt Nikita Karpin ihm ins Wort.
»Und wenn ich uns eine verschlüsselte Leitung besorge?«
»Es gibt keine, die wir nicht innerhalb von zwanzig Sekunden knacken«, erwidert der Russe lachend. »Aber das ist im Grunde nebensächlich … Ich habe mich zurückgezogen und kann dir leider nicht helfen.«
»Du hast doch sicher noch Kontakte«, versucht Joona einzuwenden.
»Da ist niemand mehr … außerdem wissen sie ohnehin nichts über Leninsk, und wenn sie etwas wüssten, würden sie es nicht sagen.«
»Du weißt also schon von unserer Anfrage«, sagt Joona seufzend.
»Natürlich, es ist ein kleines Land …«
»Mit wem muss ich sprechen, um Antworten zu bekommen?«
»Versuch es in einem Monat noch einmal beim FSB, dem Inlandsgeheimdienst … es tut mir leid«, sagt Karpin gähnend. »Aber ich muss jetzt mit Zean Gassi gehen, wir spazieren immer auf dem Eis des Klyazma bis zu den Badestegen und zurück.«
»Ich verstehe«, sagt Joona.
Er beendet das Gespräch und muss über die übertriebene Vorsicht des alten Mannes grinsen. Der alte KGB-Agent scheint sich nicht darauf verlassen zu wollen, dass Russland sich verändert hat. Aber vielleicht hat er ja auch Recht. Vielleicht lässt man das Ausland ja auch nur in dem Glauben, dass die Entwicklung in die richtige Richtung geht.
Es handelt sich zwar nicht um eine offizielle Einladung, aber für Nikita Karpins Verhältnisse sind seine Worte geradezu herzlich gewesen.
Nikitas Samojedenhund Zean war alt und starb, als Joona acht Jahre zuvor bei Karpin zu Besuch war. Joona war damals eingeladen worden, um drei Vorlesungen über die Arbeit zu halten, die zur Ergreifung Jurek Walters geführt hatte. Die Moskauer Polizei jagte damals den Serienmörder Alexander Pitjusjkin.
Nikita Karpin weiß genau, dass Joona vom Tod seines Hundes weiß. Und er weiß auch, dass Joona weiß, wo er sich aufhält, wenn er über das Eis des Flusses Klyazma geht.