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JOONA LINNA HÄLT sich mit einem Teil der Sonderkommission in einem der Großraumbüros der Landeskriminalpolizei auf. Die Wände hängen voller Karten, Fotografien und Ausdrucke der Hinweise, die derzeit Priorität genießen. Auf einer detaillierten Karte des Lill Jans-Waldes sind die Fundorte markiert.
Mit einem gelben Stift folgt Joona der Eisenbahnlinie vom Hafen durch den Wald und wendet sich seinen Mitarbeitern zu.
»Jurek Walter reparierte unter anderem Eisenbahnweichen«, sagt er. »Es ist also durchaus denkbar, dass die Opfer im Lill Jans-Wald vergraben wurden, weil dort die Eisenbahnlinie verläuft.«
»Wie Angel Ramirez«, sagt Benny Rubin und lächelt unmotiviert.
»Aber warum zum Teufel gehen wir nicht einfach zu Jurek Walter und vernehmen ihn?«, fragt Petter Näslund mit viel zu lauter Stimme.
»Das hat keinen Sinn«, antwortet Joona geduldig.
»Petter, ich nehme an, dass du das gerichtspsychiatrische Gutachten gelesen hast«, sagt Magdalena Ronander. »Hältst du es für sinnvoll, einen schizophrenen und psychotischen Mann zu vernehmen, der …«
»Das Schienennetz in Schweden umfasst nur schlappe 18000 Kilometer«, unterbricht er sie. »Wir müssen also bloß noch graben.«
Petter Näslund hat Recht, denkt Joona. Jurek Walter ist der Einzige, der sie zu Felicia führen kann, bevor es zu spät ist. Sie folgen jeder kleinsten Spur in den alten Ermittlungsakten, sie gehen den Hinweisen nach, die aus der Bevölkerung eingehen, kommen aber keinen Schritt weiter. Saga Bauer ist ihre einzige wirkliche Hoffnung. Gestern hat sie einen anderen Patienten zusammengeschlagen, wofür die Ärzte Jurek Walter die Schuld gegeben haben. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, denkt Joona. Vielleicht bringt es ihn dazu, sich ihr zu nähern.
*
Es dämmert, und vereinzelte Schneekörnchen treffen Joonas Gesicht, als er aus dem Auto steigt und ins Söder-Krankenhaus eilt. Am Empfang erfährt er, dass Irma Goodwin an diesem Abend Dienst in der Ambulanz hat. Als er eintritt, sieht er sie sofort. Die Tür zu einem Behandlungsraum steht halb offen. Eine Frau mit aufgesprungener Lippe und einer blutenden Wunde am Kinn sitzt schweigend da, während Irma Goodwin auf sie einredet.
Es riecht nach nasser Wolle, und der Boden ist von Schneematsch dunkel verfärbt. Auf einer der Bänke sitzt ein Bauarbeiter, dessen Fuß in einer beschlagenen Plastiktüte steckt.
Joona wartet, bis Irma Goodwin aus dem Raum kommt, und folgt ihr den Flur hinab zu einem anderen Behandlungszimmer.
»Es ist das dritte Mal in drei Monaten, dass sie hier ist«, sagt die Ärztin.
»Sie müssen ihr einen Kontakt zu einem Frauenhaus vermitteln«, sagt Joona ernst.
»Längst geschehen. Aber was bringt das schon?«
»Das bringt etwas«, widerspricht Joona ihr.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragt die Ärztin und bleibt vor der Tür stehen.
»Ich muss wissen, wie die Legionärskrankheit verläuft.«
»Er wird wieder gesund«, unterbricht sie ihn und öffnet die Tür.
»Ja, aber was wäre passiert, wenn die Krankheit nicht behandelt worden wäre«, sagt Joona.
»Wie meinen Sie das?«, fragt sie und begegnet dem Blick seiner grauen Augen.
»Wir suchen nach seiner Schwester«, erklärt Joona ihr die Situation, »und es erscheint uns ziemlich wahrscheinlich, dass sie sich ungefähr zur gleichen Zeit infiziert hat wie Mikael …«
»Dann ist die Lage ernst«, sagt Irma Goodwin.
»Wie ernst?«
»Ohne Behandlung … es kommt natürlich auf den Allgemeinzustand an und so weiter, aber aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte sie mittlerweile hohes Fieber haben.«
»Und morgen?«
»Sie hustet, und das Atmen fällt ihr bereits schwer … exakte Voraussagen lassen sich nicht machen, aber ich würde sagen, gegen Ende der Woche besteht das Risiko von Gehirnschäden und … Sie wissen ja sicher, dass die Legionärskrankheit unbehandelt tödlich ist.«