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IN EINEM DER neun Kästchen auf dem großen Überwachungsmonitor sieht man Jurek Walter. Wie ein eingesperrtes Raubtier dreht er eine Runde durch den Aufenthaltsraum, geht an der Couch vorbei, wendet sich nach links, geht am Fernseher vorbei an der Wand entlang. Dann weicht er dem Laufband aus, bewegt sich weiter nach links und geht anschließend wieder in seinen Raum zurück.
Anders Rönn sieht ihn in einem der anderen Kästchen von oben und gleichzeitig auf dem zweiten Bildschirm.
Jurek Walter wäscht sich das Gesicht und setzt sich, ohne es abzutrocknen, auf den Plastikstuhl. Während das Wasser auf sein Hemd herabtropft und trocknet, starrt er die Tür zum Flur an.
My sitzt an ihrem Arbeitsplatz in der Überwachungszentrale. Sie sieht auf die Uhr, wartet eine halbe Minute, wirft einen Blick auf Jurek Walter, klickt die Zone an und verriegelt die Tür zum Aufenthaltsraum.
»Heute Abend gibt es Frikadellen … die isst er gern«, sagt sie.
»Tatsächlich?«
Die täglichen Abläufe rund um ihren einzigen Patienten kommen Anders Rönn inzwischen so einförmig vor, dass es ihm schwerfallen würde, die Tage auseinanderzuhalten, wenn es die Visite auf Station 30 nicht gäbe, bei der die anderen Ärzte über ihre Patienten und Therapien berichten. Niemand erwartet inzwischen noch von ihm, ein weiteres Mal darüber zu berichten, dass die Situation im Sicherheitstrakt unverändert ist.
»Hast du eigentlich jemals versucht, mit dem Patienten zu sprechen?«, fragt Anders Rönn My.
»Mit Jurek Walter? Das darf ich nicht«, antwortet sie und kratzt sich an ihrem tätowierten Unterarm. »Es geht darum, dass er … er sagt Dinge, die man nicht mehr vergessen kann.«
Seit seinem ersten Tag hat Anders Rönn nicht mehr mit Jurek Walter gesprochen. Er sorgt lediglich dafür, dass der Patient seine übliche Injektion Neuroleptika erhält.
»Kennst du dich mit dem Computer aus?«, fragt Anders Rönn. »Ich habe es nicht geschafft, mich aus der Datenbank mit den Krankenakten auszuloggen.«
»Dann wirst du wohl nach Hause gehen müssen«, sagt sie.
»Aber ich …«
»Das war ein Witz«, fällt sie ihm lachend ins Wort. »Die Computer hier unten hängen sich ständig auf.«
Sie steht auf, nimmt die Fanta-Flasche vom Tisch und geht in den Flur hinaus. Anders sieht, dass Jurek Walter immer noch vollkommen regungslos und mit offenen Augen dasitzt.
Es ist vielleicht kein reines Vergnügen, seine Facharztausbildung tief unter der Erde hinter Sicherheitstüren und Personenschleusen zu absolvieren, aber es ist fantastisch, einen so kurzen Weg zur Arbeit zu haben und die Abende zusammen mit Agnes verbringen zu dürfen, denkt Anders und folgt My. Sie geht mit entspannten Schritten durch den unbeleuchteten Korridor. Als sie in das hell erleuchtete Büro tritt, sieht er ihren roten Slip durch den weißen Stoff ihrer Schwesternhose hindurch.
»Dann wollen wir mal sehen«, murmelt sie, setzt sich auf seinen Stuhl und holt den Computer aus dem Standby-Modus. Mit zufriedener Miene erzwingt sie den Abbruch des Programms und loggt sich anschließend wieder neu ein.
Anders Rönn dankt ihr, erkundigt sich, wer in der kommenden Nacht Dienst hat, und bittet sie, den Medikamentenwagen aufzufüllen, falls sie dafür noch Zeit haben sollte.
»Vergiss nicht, hinterher die Arzneimittellisten abzuzeichnen«, sagt er und geht.
Er biegt um die Ecke zum zweiten Korridor und betritt den Umkleideraum. Auf der Station herrscht vollkommene Stille. Er weiß nicht, was ihn treibt, als er Mys Schrank öffnet und mit zittrigen Händen beginnt, in ihrer Sporttasche zu wühlen. Vorsichtig hebt er ein feuchtes T-Shirt und die hellgraue Jogginghose an und findet einen verschwitzten Slip. Er nimmt ihn heraus, führt ihn an sein Gesicht und atmet ihren Geruch ein. Plötzlich wird ihm bewusst, dass My ihn in diesem Moment auf dem Monitor sehen könnte, wenn sie zur Überwachungszentrale zurückgekehrt sein sollte.