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SAGA LÄUFT ZWISCHEN den Häuserfassaden und den Schneewällen am Straßenrand auf dem Bürgersteig. Sie atmet die eisige Luft so tief ein, dass es in ihrer Lunge sticht, überquert die Straße, rennt über den Mariatorget, bleibt auf der anderen Seite der Hornsgatan stehen, nimmt Schnee von einem Autodach, presst ihn gegen ihre heißen, brennenden Augen und läuft anschließend nach Hause.
Als sie die Tür aufschließt, zittern ihre Hände. Ein einsamer, wimmernder Laut entfährt ihr, als sie in den Flur tritt und die Tür hinter sich schließt.
Saga lässt die Schlüssel auf den Boden fallen, streift die Schuhe ab und geht auf der Stelle ins Schlafzimmer.
Sie greift nach dem Telefon, wählt und wartet. Nach sechs Klingeltönen wird sie mit Stefans Mailbox verbunden, sie hört den Text nicht ab, sondern wirft das Telefon mit Wucht gegen die Wand.
Sie taumelt, lehnt sich vor und stützt sich auf die Kommode.
Angezogen legt sie sich ins Doppelbett und kauert sich zusammen wie ein Fötus. Sie weiß genau, wann sie sich das letzte Mal so gefühlt hat. Als sie ein Kind war und in den Armen ihrer toten Mutter erwachte.
Saga Bauer weiß nicht mehr, wie alt sie war, als ihre Mutter krank wurde. Aber sie war fünf, als sie begriff, dass ihre Mutter an einem bösartigen Gehirntumor litt. Die Krankheit veränderte ihre Mutter in grausamer Weise. Die Chemotherapie machte sie geistesabwesend und zunehmend launisch.
Ihr Vater war so gut wie nie zu Hause. Sie erträgt es nicht, an seinen Verrat zu denken. Als Erwachsene hat sie versucht, sich einzureden, sein Verhalten sei zwar schwach, aber menschlich gewesen. Sie versucht, sich selbst davon zu überzeugen, aber ihre Wut auf ihn will einfach nicht weichen. Es bleibt ihr völlig unverständlich, dass er sich so zurückzog und die Last auf seine kleine Tochter abwälzte. Sie will nicht daran denken und spricht auch nie darüber, es macht sie nur zornig.
In jener Nacht, in der die Krankheit ihre Mutter schließlich besiegte, war sie so müde, dass sie Sagas Hilfe benötigte, um ihre Medikamente einzunehmen. Saga gab ihr eine Tablette nach der anderen und lief los, um ihr Wasserglas aufzufüllen.
»Ich kann nicht mehr«, flüsterte die Mutter.
»Du musst es schaffen.«
»Ruf deinen Vater an und sag ihm, dass ich ihn brauche.«
Saga erfüllte den Wunsch ihrer Mutter und erzählte dem Vater, er müsse sofort nach Hause kommen.
»Mama weiß, dass ich das nicht tun kann«, antwortete er.
»Aber du musst, sie kann nicht mehr …«
Am späteren Abend war ihre Mutter sehr schwach, außer ihren Medikamenten nahm sie nichts zu sich und schimpfte mit Saga, als sie die Pillendose auf dem Teppich umkippte. Ihre Mutter hatte schreckliche Schmerzen, und Saga versuchte, sie zu trösten.
Die Mutter bat Saga nur, den Vater anzurufen und ihm mitzuteilen, dass sie noch vor dem nächsten Morgen tot sein werde.
Saga weinte und meinte, dass sie nicht sterben dürfe und sie selbst nicht leben wolle, wenn ihre Mutter sterben würde. Als sie ihren Vater wieder anrief, liefen ihr Tränen in den Mund. Sie saß auf dem Fußboden und hörte ihre eigenen Schluchzer und die Ansage auf dem Anrufbeantworter ihres Vaters.
»Ruf an … ruf den Papa an«, flüsterte ihre Mutter.
»Ich versuche es ja«, erwiderte Saga schluchzend.
Als ihre Mutter schließlich eingeschlafen war, schaltete Saga die kleine Lampe aus und blieb einige Zeit vor dem Bett stehen. Die Lippen der Mutter glänzten, und sie atmete schwer. Saga kroch in ihre warmen Arme und schlief erschöpft ein. Sie schlief an ihre Mutter geschmiegt, bis sie gegen Morgen davon geweckt wurde, dass sie fror.
Saga verlässt das Bett, betrachtet die Einzelteile des zertrümmerten Handys, zieht den Mantel aus und lässt ihn zu Boden fallen, holt in der Küche eine Schere und geht ins Badezimmer. Sie mustert sich im Spiegel, sieht John Bauers süße Prinzessin und denkt, dass sie ein einsames Mädchen retten könnte. Vielleicht bin ich die Einzige, die Felicia retten kann, denkt sie und betrachtet nachdenklich ihr eigenes Spiegelbild.