26

Es war an der Zeit. Höchste Zeit. Zeke hatte sich wochenlang zurückgehalten, diesen Schritt zu tun, obwohl er wusste, dass ihm nichts anderes übrig blieb. Wenn er sein Versprechen an Carlin hielt, wenn er nicht versuchte, ihr zu helfen, würde sie in ein paar Wochen weiterziehen und wieder da stehen, wo sie war, als sie nach Battle Ridge kam. Wenn er sie überreden könnte zu bleiben, wäre es eine andere Sache. Er würde alles tun, um sie zu schützen, aber verdammt und zugenäht, er konnte sie nicht beschützen, wenn sie nicht hier war.

Wenn er ihr helfen könnte, würde sie ihn hassen – aber sie wäre in Sicherheit, und das war das Wichtigste.

Eine zweite Fahrt in die Stadt an zwei Tagen war ungewöhnlich, aber er wollte weder Carlin noch Libby oder sonst jemanden auf den Fersen haben, wenn er in die Nebenstelle des Sheriffs ging in einem sterilen, kastenartigen Neubau nicht weit vom Baumarkt entfernt. Er hatte Glück. Billy Nelson arbeitete heute in Battle Ridge. Zeke und Billy waren zusammen zur Schule gegangen, und man konnte dem Stellvertreter vertrauen, dass er Wort hielt – und den Mund, wenn man ihn darum bat.

Zeke bat um Vertraulichkeit, sie gingen in einen kleinen Raum und schlossen die Tür. Wenn die Empfangsdame das merkwürdig fand, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie hatte alle Hände voll mit Papierkram zu tun, mit Ordnern und Mappen und einem antiquiert aussehenden Computer.

Zeke und Billy saßen auf dementsprechend unbequemen Stühlen, und nachdem er um Diskretion gebeten hatte – was Billy versprach –, erzählte Zeke ihm alles, was er über Carlins Vergangenheit wusste: Brad, Jina, Dallas, eine namenlose Kleinstadt am Rand von Houston. Er erwähnte, dass Brad Cop sei und Hacker, noch dazu ein sehr talentierter, und bat Billy, alle Nachforschungen nur über Telefon oder Schneckenpost durchzuführen.

Zeke war sich nicht sicher gewesen, wie Billy das aufnehmen würde, aber sein Freund nahm die Neuigkeit einigermaßen ernst.

»Wenn ich keinen Computer benutze, bin ich gehandicapt, aber ich werde schauen, was ich tun kann. So lange …« Billy holte eine Visitenkarte aus seiner Tasche. »Ich habe einen Vetter in Cheyenne, der ist Privatdetektiv. Vielleicht kann er etwas tun, was mir nicht möglich ist.«

»Und das wäre?«, fragte Zeke, während Billy einen Namen und eine Telefonnummer auf die Rückseite seiner Karte kritzelte.

»Ich kann nicht viel tun, wenn du keine Anzeige erstattest, und eine Anzeige muss offiziell sein. Wenn der Typ ein Cop ist, und ein Hacker obendrein, sehe ich nicht, wie wir es vor ihm geheim halten sollen. Battle Ridge ist eine Kleinstadt. Er hätte keine Probleme, Carly zu finden. Es würde mich wundern, wenn drei Leute auf der Hauptstraße sie nicht auf einem Foto erkennen würden.«

Zeke nahm die Karte an sich und fragte sich, ob er das Richtige machte. Aber er wusste, dass er etwas unternehmen musste. Er würde den Privatdetektiv von seinem Handy aus anrufen. Auch wenn Brad irgendwie herausfinden würde, dass ein Privatermittler aus Cheyenne Nachforschungen über ihn anstellte – und über Carlin –, würde ihn das nicht direkt zur Decker Ranch führen, da sie ihren Ursprung in der größeren Stadt hatten. Zeke beschloss, bevor er anrief, den Privatdetektiv zu warnen und dafür zu sorgen, dass auf der Seite keine persönlichen Informationen gelagert wurden, die Brad nach Battle Ridge führen könnten.

Er log Carlin nur ungern an, was er nicht gedacht hätte, aber er wusste, wenn er ihr sagte, was er getan hatte, wäre sie am nächsten Morgen verschwunden. Sie hatte in der Zeit, in der sie für ihn und Kat gearbeitet hatte, reichlich Geld gespart, daher hatte sie die Mittel, sich einfach aus dem Staub zu machen.

Da er nicht wollte, dass sie fortging, hatte er seine letzten Unternehmungen geheim gehalten, vorerst. Mit ein wenig Glück würde er herausfinden, dass Brad tot oder im Gefängnis war, keine Gefahr mehr für Carlin oder jemand anderen. Doch bis er dieses Glück hatte, müsste er sie anlügen – Lügen durch Auslassen, aber trotzdem wäre es in ihren Augen eine Lüge, was es für ihn im umgekehrten Fall auch wäre.

Sein Versprechen war jedoch mit einer Einschränkung verbunden gewesen: vorerst. Die Zeit war vergangen, und sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er nicht länger warten konnte. Sie würde wahrscheinlich nicht glauben, dass das Grund genug für ihn war, etwas zu unternehmen, ohne sie um Rat zu fragen, aber er machte es auf Teufel komm raus.

Ein Teil seiner selbst hätte Brad am liebsten angerufen, um das Schwein aufzustöbern und ihn herauszufordern – komm her und hol sie, Wichser, versuch, durch mich hindurchzukommen. Aber hier war nicht der Wilde Westen, und leider wurde »er musste einfach töten« als Verteidigung nicht mehr akzeptiert.

Zumindest könnte er dafür sorgen, dass der Hurensohn im Gefängnis landete. Irgendwie musste es einen Beweis geben, der ihn überführen würde, Carlins Freundin in Dallas umgebracht zu haben. Aber wenn niemand hinschaute, würde sich nichts ändern. Es war an der Zeit, hinzuschauen, und zwar haargenau.

Libby hatte in den letzten drei Tagen ihren spontanen Wunsch unterdrückt, Zekes Fund, Carly, zu feiern. Man konnte nie vorsichtig genug sein. Wenn an dieser jungen Frau etwas nicht stimmte, entweder an der Art, wie sie ihre Arbeit machte, oder an der Art, wie sie Zeke oder die Rancharbeiter behandelte, wollte Libby unvoreingenommen sein, um es feststellen zu können. Nach drei Tagen hatte sie nichts Unrechtes entdeckt.

Vielleicht war es an der Zeit, dass sie aufhörte, nach Schwachstellen zu suchen. Vielleicht war Carly, trotz Libbys anfänglicher Vorbehalte, doch perfekt für Zeke. Sie war lustig. Sie war energiegeladen. Sie war frech, und sie ließ sich von Zeke nichts sagen, ein dickes Plus in Libbys Augen. Das hatte Rachel unter anderem gefehlt, sie hatte nie auf direkte Konfrontation mit ihm gehen können, daher hatte sie ihre Unzufriedenheit auf andere Weise gezeigt. Carly gab ihm Paroli, so gut es ging, manchmal noch mehr. Wirklich witzig war, dass Zeke seinen Spaß daran hatte, wenn sie ihm über den Mund fuhr.

»Guten Morgen«, sagte Carly fröhlich, als Libby in die Küche kam. Es wurde gerade erst hell, womit für alle der Tag früh anfing, aber Carly wirkte frisch und ausgeschlafen. Der Kaffee war fertig, irgendetwas steckte im Ofen und duftete herrlich nach Zimt. »Was kann ich Ihnen holen?«, lautete die nächste Frage, wie an jedem Morgen.

Libby gab dieselbe Antwort wie immer und ging zur Kaffeekanne. »Nichts, Schätzchen. Sie haben für diese Männer genug zu tun, da müssen Sie mich nicht auch noch bedienen.«

Carly nickte und machte sich wieder an die Arbeit.

Libby setzte sich an den Küchentisch und trank ihren Kaffee, zufrieden mit allem, was sie bisher gesehen hatte. Carly war genauso, wie sie auf den ersten Blick schien, nicht mehr und nicht weniger: eine gute, hart arbeitende Frau, die genau dort gelandet war, wo sie sein musste. Und, es könnte ja sein, die gute, hart arbeitende Frau, die Zeke an seiner Seite brauchte.

»Was riecht denn hier so gut?«, fragte sie.

»Zimtschnecken.« Carly verdrehte die Augen. »Ich weiß nicht, warum meine Biscuits einfach nicht hinhauen, aber die Zimtschnecken gelingen immer gut.«

»Selbst gemachte Zimtschnecken?«

»Klar.« Carly schaute nicht zu Libby hinüber, lächelte aber ironisch. »Vor ein paar Monaten konnte ich kaum eine Dose Suppe warm machen. Jetzt habe ich keine Angst, alles auszuprobieren, solange ich ein Rezept habe, nach dem ich mich richten kann. Genauer gesagt, ich habe durchaus Zweifel, aber warum soll man es nicht trotzdem versuchen?« Mit diesen Worten drehte sie sich zu Libby um. »An eine Sache habe ich mich allerdings nicht herangewagt.«

»Und die wäre?«

»Ihr Schokoladenkuchen. Alle sagen, er sei einfach wunderbar, und ich fürchte, alles, was ich mache, würde dem Vergleich nicht standhalten. Oh – Pies mache ich auch nicht. Derselbe Grund, eine andere Köchin.«

»Kat«, sagte Libby.

Carly nickte. »Ich nehme nicht an, dass Sie den Kuchen machen, solange Sie hier sind, damit ich sehe, wie es geht? Ich weiß, dass Zeke – und die anderen auch – in Dankeshymnen ausbrechen würden, wenn ich den Schokoladenkuchen nur halb so gut hinbekäme wie Sie.«

Libby versuchte, sich nicht zu geschmeichelt zu fühlen. Sie gab sich keine große Mühe, denn es war gut zu wissen, dass eine alte Schachtel noch immer ein paar Tricks auf Lager hatte, die sie der Jüngeren beibringen konnte.

Zeke kam in die Küche, sein Blick landete auf Carly und blieb dort hängen. Wären sie allein in der Küche gewesen, konnte Libby sich vorstellen, dass er Carly geküsste hätte, bis sie nicht mehr aus noch ein wusste. Zwischen ihnen herrschte eine spürbare magnetische Anziehungskraft. Carly ging sogar einen Schritt auf ihn zu, blieb dann stehen und trat wieder zurück.

Zeke nahm eine halbe Tasse Kaffee, trank sie aus und begab sich in den Vorraum.

»Noch eine halbe Stunde bis zum Frühstück«, sagte Carly. »Lass es nicht kalt werden.«

»Wir kommen.« Er blieb stehen, holte tief Luft und grinste. »Zimtschnecken.«

Carly lächelte. »Alles klar.«

Carly folgte ihm in den Vorraum. »Oh, fast hätte ich es vergessen«, sagte sie, um zu erklären, warum sie ihm folgte. Bald waren sie außer Sichtweite.

Langsam stand Libby auf, ein hinterlistiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Wen wollten sie denn hier für dumm verkaufen? Auf Zehenspitzen schlich sie in ihren Pantoffeln zur Vorraumtür und blieb stehen, sobald sie nahe genug war, um die beiden zu hören. Sie sprachen nicht, daher genossen sie wahrscheinlich den Kuss, den sie beide gewollt, aber wegen Libby darauf verzichtet hatten.

Der Kuss dauerte nicht furchtbar lange. »Zieh dir den Hut über die Ohren. Ich will nicht, dass du Frostbeulen kriegst«, sagte Carly leise.

»Ich glaube, ich weiß, wie ich mich warm halte.« Du lieber Himmel, wann hatte sie Zeke das letzte Mal so entspannt reden hören?

»Ich weiß.« Libby fragte sich, ob Carly ihm über den Mantel strich und den Hut gerade rückte, um sicherzugehen, dass er gut eingemummt war. »Und glaube nur nicht, dass du keine Eier zum Frühstück essen musst, nur weil es Zimtschnecken gibt. Du brauchst Proteine, sonst brichst du noch vor dem Mittagessen zusammen.«

»Ja, Ma’am.«

»Und noch etwas«, sagte Carly so leise, dass Libby sie kaum verstand. »Küss mich noch ein Mal, bevor du gehst.«

Da ging Libby an ihren Platz zurück. Als Carly kurz darauf wieder in die Küche kam, waren ihre Wangen leicht gerötet, aber ihr war offensichtlich nicht klar, dass sie so gut geküsst aussah.

»Soll ich nachschenken?«, fragte Carly und ging zur Kaffeekanne.

»Klar. Danke.«

Carly kam mit der Kanne an den Tisch und schenkte ein. »Wissen Sie, ich würde Ihnen gern beibringen, wie mein Schokoladenkuchen geht«, sagte Libby.

Carlin spähte aus dem Fenster im Vorraum. Ja, Libby war unterwegs zur Baracke. Offensichtlich wollte sie die Räumlichkeiten der Rancharbeiter ebenso inspizieren wie das Haupthaus.

In der sicheren Gewissheit, dass Libby ein paar Minuten beschäftigt war, ging Carlin in Zekes Büro. Okay, sie rannte, nur ein bisschen. Noch jemanden im Haus zu haben, war nervig, obwohl sie Libby mochte, was sie überraschte. Kurz nach Libbys Eintreffen war klar, dass sie ihre Vorbehalte hatte, aber Carlin konnte daran nichts ändern, außer sie selbst zu sein. Sie an Libbys Stelle wäre auch misstrauisch gewesen. Libby war bodenständig, sie mochte einen derben Witz, sie lachte und plauderte gern. Carlin verstand, warum Zeke die Frau ins Herz geschlossen hatte, die einmal seine Haushälterin und Ersatzmutter war. Trotzdem, ihre Zeit hier war kostbar, und sie wollte mit Zeke allein sein, wenn es ging.

Sie schaute auf, als sie in sein Büro ging, und seine Augen lächelten. Auch sein Mund, aber das Lächeln in seinen Augen packte sie jedes Mal. Carlin lehnte sich an den Türrahmen und erwiderte sein Lächeln mit Interesse. Sie sollte ihn nicht lieben, aber es bestand kein Grund, warum sie sein Lächeln nicht lieben könnte. Kein Grund, warum ihr nicht gefallen sollte, wie er sie anschaute, als wollte er sie verschlingen. Kat sagte, zwischen ihnen »funke« es. Wenn sie ihn jetzt so ansah, schien die Luft tatsächlich elektrisch geladen. Sie konnte sich kaum beherrschen.

»Libby ist in der Baracke. Ich glaube, sie führt eine weitere Inspektion durch.«

Er sprang auf, kam um den Schreibtisch herum und streckte die Arme nach ihr aus. »Soll das heißen, wir sind allein?« Carlin nickte. »Für wie lange?«

»Ich weiß nicht.« Nicht lange genug, vermutete sie, aber sie würde nehmen, was sie kriegen konnte.

Er küsste sie, als wäre er ebenso hungrig nach der Vereinigung wie sie. Der Kuss war gut, tief und erregend und nicht unterbrochen, auch als er sie vom Türrahmen weg in den Raum zog. Das Büro war ganz in Leder und dunklem Holz gehalten, eine Männerdomäne, und es roch genauso. In diesem Raum hatte es nie eine Blume oder Räucherkerze gegeben, nur Schweiß und Papier und noch mehr Leder.

Er lehnte sie an den Schreibtisch, spreizte ihre Beine und schob sich dazwischen. So nah, und doch nicht nah genug. Sein Penis war hart und presste sich an sie.

»Hast du mich vermisst?«, fragte sie heiser, als er den Kuss unterbrach und den Reißverschluss ihrer Jeans öffnete.

»Mehr als erlaubt«, antwortete er mit geschlossenen Augen.

»Ich habe dich vermisst.« Nur ein paar Tage, und schon lechzte sie nach einem Kuss.

»Wie sehr?« Zeke drückte ihre Jeans nach unten und steckte die Hand in ihre Unterhose. Sie zappelte, damit die Jeans nach unten rutschte, und spreizte die Oberschenkel.

»Finde es heraus, Cowboy«, flüsterte Carlin. Sie war nass, pulsierte, nur von einem Kuss und dem Geruch seines Körpers, von der Wärme und Härte, die sie inzwischen ihr eigen nannte. Sie schloss die Augen, als seine Finger weiter vordrangen, ihre Schamlippen auseinander schoben und weiter vordrangen.

Er streichelte sie, küsste sie wieder, während er seine Finger in sie hineinstieß. Sie kam, blitzschnell und heftig, schob ihre Zunge in seinen Mund, seine Zunge spielte mit ihrer.

Sie schmolz mit klopfendem Herzen und vor Befriedigung weichem Körper dahin. Rasch machte er seine Jeans auf, führte seinen erigierten Penis zu ihr und drang in sie ein. Carlin stieß einen kleinen, kehligen Laut der Erregung aus. Sie war gerade zum Höhepunkt gekommen, aber es reichte nicht. Sie wollte mehr. Sie wollte ihn.

Er begann, fest zuzustoßen, das Gesicht angespannt, so gierig nach diesen Tagen der Enthaltsamkeit, ebenso gierig wie sie. Sein Schlafzimmer war ungünstigerweise direkt über dem Raum, in dem Libby übernachtete. Sie hatten beide versucht, sich zurückzuhalten, solange Libby da war, aber die hektische Gier, die sie in ihm spürte, sagte ihr, dass das nicht anhalten würde.

Sein kräftiger Körper beugte sich über sie. Er biss die Zähne zusammen, um keinen Laut von sich zu geben, und war kurz vor dem Höhepunkt. Seine Stöße waren jetzt fest, erschütterten sie, und er drang so tief in sie vor, wie er konnte.

Keuchend lehnte er sich an sie, verausgabt. Auch sie hatte das Gefühl, als könnte sie sich nicht bewegen, aber Libby dürfte jede Minute zurück sein. »Beeil dich«, flüsterte sie. Er zog sich aus ihr zurück, und sie lief ins Bad. Sie musste sich waschen und die Unterhose wechseln. Carlin rechnete fest damit, wenn sie fertig war, würde Libby wieder da sein, aber nein, sie hatten das Haus noch für sich.

Was mochte Libby denn so lange in der Baracke machen?

Die Antwort war so offensichtlich wie die Röte, die plötzlich auf ihrem Gesicht brannte. Sie gab ihnen Zeit zusammen, das war es. Niemand war in der Baracke, die Männer gingen alle draußen ihrer Arbeit nach, also war es nicht so, dass sie mit einem von ihnen plauderte.

Das war lächerlich. Die Zeit verging wie im Flug, und sie hätte Zeke nicht mehr lange. Libby sollte sich nicht in die Baracke verbannen müssen, um ihnen Zeit miteinander zu schenken. Sie ging wieder zu Zekes Büro. Auch er hatte sauber gemacht und saß wieder an seinem Schreibtisch, obwohl sie nicht genau wusste, wie viel Aufmerksamkeit er dem Papierkram vor sich schenkte. Seine Augen hatten diesen schläfrigen, zufriedenen Ausdruck, den sie liebte.

»Es reicht. Mein Zimmer, heute Abend«, sagte sie. »Du weißt, wann Libby schläft, weil sie so laut schnarcht, dass man es in der Küche noch hört.«

»Mir macht es nichts aus, wenn sie weiß, dass wir miteinander schlafen.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schob die Hände hinter den Kopf. »Sie ist nicht blöd, wahrscheinlich denkt sie sich schon ihr Teil.«

»Das heißt noch lange nicht, dass sie zuhören soll. Mein Zimmer ist weiter weg.«

Die Hintertür knallte zu. Aus der Küche kam Libbys laute Stimme, offensichtlich als Warnung gedacht. »Carly, wo ist das Reinigungsmittel mit Zitrone? Wir müssen eine Runde durch die Baracke machen. Ich schwöre, die Jungs würden im Dreck leben, wenn es erlaubt wäre.«

Zeke überging Libbys Ruf und schaute Carlin ernüchtert an. »Wenn schon ein paar Tage so sind, wie soll es dann erst werden, wenn du weg bist?«

Sie versuchte es mit Schulterzucken. »Aus den Augen, aus dem Sinn.« Das hoffte sie, und hoffte es nicht. Er würde ihr so sehr fehlen, dass es schon jetzt wehtat, und es war furchtbar von ihr, aber sie wollte, dass er sie genauso vermisste.

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«

Libby war überrascht festzustellen, dass ihr die Kälte gefiel. Die hatte ihr gefehlt. Wenn sie noch länger hierbliebe, würde ihre Stimmung wahrscheinlich umschlagen, aber vorerst gefiel es ihr, vollbepackt die Hauptstraße von Battle Ridge entlang zu gehen, den Wind im Gesicht, während sie an eine Tasse heißen Kaffee und ein Stück Pie von Kat dachte.

Es war an der Zeit, dass sie abreiste. Sie war hierher gekommen, um Carly Hunt zu überprüfen, und das hatte sie gemacht. Zeke war scharf auf die junge Frau, und die war scharf auf ihn. Vielleicht waren sie verliebt, schon möglich, dass es nur um Pheromone und Hormone ging und die Beziehung keine Zukunft hatte. Aber Carly war genauso, wie sie nach außen hin schien, und Zeke ging es gut. Libbys Neugier war befriedigt, und sie war sich sicher, dass sie den Mann, der wie ein Sohn für sie gewesen war, guten Händen überließ.

Carly war gut in der Küche, und sie hielt das Haus sauber. Sie kümmerte sich um Zeke und ließ sich nichts von ihm gefallen. Sie war eine starke Frau, und genau das brauchte Zeke.

Libby vernahm eine vertraute Stimme, die ihren Namen rief. Sie drehte sich um, sah, wie Carly winkte und auf die Straße trat. Libby blieb stehen, um auf sie zu warten. Carly las wohl sehr gern, denn sie ging jedes Mal, wenn sie in die Stadt kam, in die Bücherei und brachte immer mindestens zwei Bücher mit nach Hause, manchmal auch mehr.

Keine von ihnen sah den Kleinlaster, bis es zu spät war. Gerade als Carly zwischen zwei parkenden Wagen herauskam, bog ein roter Pick-up mit einem Teenager am Lenkrad zu schnell um die Ecke und schlingerte auf die Hauptstraße. Der unerfahrene Junge verlor die Kontrolle und rutschte direkt auf Carly. Sie versuchte noch, zurückzuspringen, und der Fahrer versuchte, ihr auszuweichen, aber er erwischte sie mit der Stoßstange.

Es gab einen Aufprall, gefolgt von einem Fluch. Carly schlug auf der anderen Seite des Pick-ups auf dem Boden auf. Ihre Tasche und die Bücher, die sie unter dem Arm gehabt hatte, flogen in hohem Bogen unter den nächsten parkenden Wagen.

Zu Tode erschrocken rannte Libby los. Sie vergaß ihre Knie, vergaß alles in ihrer Eile, um zu Carly zu kommen. Wenn sie ernsthaft verletzt war, oder, o Gott, sie könnte sterben, und was würde Zeke machen …

Auch andere liefen zur Unfallstelle. Kat kam förmlich aus dem Café geflogen und schrie Carlys Namen. Libby flitzte um den Wagen, der Carly den Blicken entzog, und wurde vor Erleichterung beinahe ohnmächtig. Carly, halb sitzend, halb liegend, war benommen, aber offensichtlich intakt. Am besten war, dass sie stinkwütend aussah.

»Nicht bewegen!«, befahl Kat, als Carly versuchte aufzustehen. Kat wandte sich an einen anderen Zuschauer und widersprach sich sofort. »Sie da, helfen Sie mir, sie aufzurichten. Sie muss in der Klinik untersucht werden.« Dann kniete sie sich neben Carly. »Ist etwas gebrochen? Nein, nicht bewegen!«

»Ich muss mich bewegen, wenn du mich auf die Beine stellst«, sagte Carly unwirsch. »Mir geht es gut. Wirklich. Glaube ich. Jedenfalls glaube ich nicht, dass etwas gebrochen ist.« Sie streckte die Arme aus, und Kat nahm einen, während der Mann, den Kat kommandiert hatte, die andere ergriff, und gemeinsam stellten sie Carlin auf die Beine. Als sie rückwärts taumelte, fing Kat sie auf und brachte sie ins Gleichgewicht.

»Womöglich hast du eine Gehirnerschütterung«, sagte Kat.

»Nein, es ist alles in Ordnung …«

»Du gehst in die Klinik, und ich komme mit.« Kat schaute auf und entdeckte eine Freundin. »Mary, würdest du dich eine Weile für mich um das Café kümmern?«

»Ich bin einfach nur erschrocken, ehrlich.«

»Carly, Sie gehen mit«, sagte Libby entschieden. »Kat hat recht. Ich kümmere mich hier um alles. War das nicht der Junge von den Collins?«, erkundigte sie sich wütend bei jemandem.

»Jaah. Da kommt er zurück, Gott sei Dank. Der hätte eine Menge Ärger gekriegt, wenn er weitergefahren wäre.«

Carly schien tatsächlich ein wenig neben der Spur zu sein, denn sie schaute nicht einmal in die Richtung des Pick-ups, der sie angefahren hatte. Der junge Collins stieg aus, das Gesicht kreidebleich. »Ist ihr etwas zugestoßen?«

»Nein, aber das hat sie nicht dir zu verdanken, du Dummkopf!«, fuhr Libby ihn an. »Du weißt doch genau, dass man in der Stadt nicht rasen soll.« Libby erlaubte Kat, Carly in die Klinik zu bringen, während sie sich der handfesteren Aufgaben annahm und zum Beispiel den Collins-Jungen zur Minna machte. Außerdem sammelte sie Carlys Handtasche und die ausgeliehenen Bücher ein, wartete dann, bis ein Polizist kam, um ihre Zeugenaussage aufzunehmen.

Nachdem das erledigt war, ging Libby zur Klinik. Eine Frau und ein Kind waren im Warteraum, aber keine Spur von Carly und Kat, also mussten sie ins Sprechzimmer gerufen worden sein.

Libby kannte die Empfangsdame, weil in der Stadt nur diese eine Klinik war und sie selbst jahrelang hierher gekommen war. Evelyn Fortier wohnte schon ewig in Battle Ridge. Sie hatte in dieser Klinik schon für drei verschiedene Ärzte gearbeitet.

»Hi, Evelyn«, sagte Libby und trat an den Empfangstresen. »Wie geht es dir?«

Sie sprachen eine Weile und brachten sich auf den neuesten Stand. Sie waren keine engen Freundinnen gewesen, aber gute Bekannte. »Gibt es was Neues über Carly?«, fragte Libby schließlich. »Ich hoffe, sie ist nicht ernsthaft verletzt.«

Evelyn zog die Augenbrauen hoch. »Ja, natürlich bist du mit Carly hier. Das hätte mir gleich klar sein sollen.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Du weißt nicht, ob sie versichert ist, oder?«

»Nein, aber Zeke wird sich um die Rechnungen kümmern, wenn sie es nicht kann.«

»Oh, das kann ich mir denken. Wir brauchen irgendeinen Ausweis für unsere Akten, bevor sie wieder geht. Kat hat sie einfach nur wieder zurückgescheucht, und ich bin nicht einmal dazu gekommen, mir eine Kopie von ihrem Führerschein zu machen.«

»Ich habe ihre Handtasche. Lass mich nachsehen.«

Du liebe Güte, Carlys Handtasche war so sauber und ordentlich! Platz für alles, und alles an seinem Platz. Das Pfefferspray war ein wenig verblüffend, aber nicht ungewöhnlich. Vielleicht sollte sie sich auch mal welches zulegen. Libby zog Carlys Geldbörse heraus, in Gedanken beim Pfefferspray, um sich den Markennamen zu merken, und machte sie auf. Jede Menge Bargeld, mehr, als sie erwartet hatte, aber keine einzige Kreditkarte. Kein Führerschein, keine Versicherungskarte, nichts.

»Tja, ich sehe keine.«

Das Telefon klingelte, und Evelyn nahm ab. Libby entfernte sich ein wenig, wobei sie noch immer die Geldbörse durchsuchte. Carly hatte einen von Zekes Pick-ups in die Stadt gefahren, also musste sie doch einen Führerschein bei sich haben. Der Inhalt des Geldbeutels war irgendwie weg. Komisch. Libbys Portemonnaie enthielt zwei Kreditkarten, eine AARP-Karte, eine Karte vom Automobilclub, zwei Paybackkarten, sowie einen Führerschein und ihre Versicherungskarten. Und natürlich Fotos – von ihren Enkeln, aber trotzdem … in Carlys Geldbörse war nichts, womit man die Inhaberin hätte identifizieren können. Nichts.

Sie begann nach versteckten Taschen zu suchen und entdeckte eine. Dort, in einer engen Seitentasche ganz unten, befand sich eine Karte. Libby schaffte es, sie ans Tageslicht zu fördern.

Sie schaute darauf und erkannte sofort Carlys Foto. Dann traf sie der Name wie ein Schlag, und ihr wurde schwer ums Herz. Sie hielt einen Führerschein aus Texas in der Hand mit einem Foto, auf dem eine ernste Carly sie anschaute. Der Name auf dem Führerschein war nicht Carly Hunt, sondern Carlin Reed. Carlin Jane Reed, genauer gesagt. Carly konnte man als Spitznamen verstehen, aber Reed? Warum war ihr Familienname anders?

Angesichts dieser Tatsache in Verbindung mit fehlenden weiteren Personalien sträubten sich ihr die Nackenhaare. Sie hatte sich solche Sorgen gemacht, dass diese Frau Zeke betrügen könnte, und hatte nicht in Betracht gezogen, dass Carly so gut sein könnte, sie, Libby, ebenfalls hinters Licht zu führen.

Warum sollte sie einen falschen Namen verwenden? Wurde sie polizeilich gesucht? Stand sie auf der FBI-Liste der Meistgesuchten? Dann schlug Libby sich im Stillen die Hand vor die Stirn. Logo. Der naheliegendste Grund für einen anderen Familiennamen war eine Ehe. War Carly verheiratet? O mein Gott. Das würde Zeke das Herz brechen.

Was um alles in der Welt sollte sie jetzt machen?

»Fündig geworden?«, rief Evelyn.

Libby schob Carlys Führerschein wieder in die verborgene Tasche. Bis sie einen Entschluss gefasst hatte, was zu tun war, bestand kein Grund offenzulegen, was sie gefunden hatte. »Nein, tut mir leid. Carly muss ihren Führerschein zu Hause vergessen haben.«

Sie war versucht, allen zu erzählen, was sie gefunden hatte, aus vollem Hals Betrügerin zu rufen, wenn Carly – Carlin – zurückkehrte, angeschlagen und verunsichert, Verbände an ihren zerschundenen Händen, aber im Wesentlichen gesund. Aber vielleicht war Raffinesse geboten. Bevor sie anfing, Anschuldigungen zu verbreiten, für die diese Betrügerin wahrscheinlich Antworten parat hätte, würde sie auf eigene Faust ein paar Nachforschungen anstellen.

Sie würde nicht abreisen, bis sie wusste, was zum Teufel da vor sich ging.

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