13
»Hallo, Miss Carly«, rief Spencer, als er in die Küche trat. »Um wie viel Uhr wollen Sie in die Stadt?«
Zeke war gerade gegangen, und da sie gewusst hatten, dass Spencer ins Haus kommen würde, hatte er die Tür zum Vorraum nicht abgeschlossen. Das hatte er natürlich vorher mit Carlin geklärt, um sicherzustellen, dass sie über die unverschlossene Tür Bescheid wusste und nichts dagegen hatte. Das war eine der seltenen Unterhaltungen, die sie neuerdings mit ihrem Boss hatte. Sie tat ihren Job, er ließ sie in Ruhe. Wenn es an der Zeit war, sie zu bezahlen, reichte er ihr einen Umschlag mit Bargeld. Wenn er von dieser Zahlungsweise nichts hielt, sagte er nichts.
Carlin war erleichtert und gekränkt zugleich. Sie war froh, dass er sie in Ruhe ließ, aber es ärgerte sie, dass sie ihre eigenen Grenzen überhaupt nicht mochte. Manchmal war das Leben einfach beschissen.
Spencer lächelte, doch das machte er immer. Er war eins der sonnigsten Gemüter, die sie kannte. In ein paar Wochen wäre er seine Schlinge los, und er konnte es kaum erwarten; sie selbst war noch nie derart körperlich eingeschränkt gewesen, aber es sah ausgesprochen jämmerlich aus. Sie konnte sich vorstellen, dass er das Beste aus der Situation machte, die ihn mehr störte, als er zu erkennen gab.
Sie war gerade fertig mit der Reinigung des Frühstücksgeschirrs; noch immer staunte sie über die Mengen an Speck und Eiern, die neun Männer essen konnten. Demnächst würde sie das Biscuit-Rezept ausprobieren, das sie gefunden hatte, aber im Moment war es schon eine solche Herausforderung, Eier, Speck und Toast auf den Tisch zu bekommen, dass sie den Schwierigkeitsgrad nicht noch erhöhen wollte. Um halb fünf war sie aus dem Bett, hatte um halb sechs das Essen auf dem Tisch, und um sechs Uhr waren die Männer in der Regel aus dem Haus. Hätte die Kaffeemaschine keine Zeitschaltuhr, mit der man sie sich selbst überlassen konnte, wäre Carlin sich nicht sicher gewesen, ob sie den Zeitplan hätte einhalten können – und wenn es ihr schon nicht gelang, neben allem anderen, was morgens anstand, Kaffee zu kochen, dann war ihr verdammt klar, dass sie es nicht schaffen würde, auch noch Biscuits zu backen. Vielleicht würde sie die stattdessen zum Abendessen machen, wenn die Zeit nicht ganz so knapp war.
»Gib mir noch ein paar Minuten, um das Geschirr wegzustellen, dann bin ich so weit«, sagte sie zu Spencer.
Einkaufen war der Teil ihres Jobs, der ihr am wenigsten zusagte, nicht weil sie nicht gern Lebensmittel einkaufte, sondern weil es sie aus dieser sicheren, beaufsichtigten Umgebung herausholte. Regelmäßig nach Battle Ridge zu fahren war der einzige Nachteil an diesem fast perfekten Job. Natürlich wäre eine Fahrt nach Cheyenne noch schlimmer gewesen.
Seit dem ersten Tag, als sie mit Zeke einkaufen war, hatte sie kein Schockerlebnis mehr gehabt, doch sie hatte es auch nicht vergessen. Vor dem entsetzlichen Augenblick, als sie glaubte, Brad im Laden gesehen zu haben, hatte sie zugelassen, dass sie sich in Battle Ridge wohlfühlte. Sie hatte sich entspannt. Das Ereignis – der Schreck – hatte sie gezwungen, ihren Schutzwall wieder aufzubauen. Ihr war zwar nicht danach, aber viel unangenehmer wäre es, wenn tatsächlich etwas passierte und sie emotional nicht vorbereitet wäre. Daher war sie stets überwachsam, sobald sie in die Stadt kamen, was bedeutete, dass sie immer von dieser Anstrengung erschöpft zur Ranch zurückkehrte.
Seit dem Tag hatte Zeke angeordnet, dass Spencer mit ihr in die Stadt fahren sollte. Sie legten die Fahrten oft so, dass er zur Physiotherapie gehen konnte, während sie Besorgungen machte, in die Bücherei ging und bei Kat vorbeischaute. Spencer sagte, er könne einhändig fahren, doch Carlin bestand darauf, selbst zu fahren. Sie brauchte keine Beschreibungen mehr für den Weg in die Stadt und zurück, aber es war schön, jemanden zur Verfügung zu haben, der einen Einkaufswagen schob, während sie den anderen übernahm. Sogar bei den schweren Teilen konnte Spencer mit seiner einen Hand helfen.
Kat zu treffen und sich mit Robin und Kin per Computer auszutauschen, allein dafür lohnte sich der Ausflug. Sie verließ nur ungern die Sicherheit der Ranch, aber diese Kontakte waren lebensrettend. Der tägliche Umgang mit Kat fehlte ihr, und manchmal brauchte sie einfach nur die Gesellschaft einer Frau, nachdem sie nur unter Männern gewesen war. Konnte es ihr Gehirn vergiften, wenn sie zu hohen Dosen Testosteron ausgesetzt war? Das hatte sie Kat gegenüber eines Tages laut geäußert und ganze fünf Minuten warten müssen, bis Kat sich ausgeschüttet hatte vor Lachen.
Doch trotz der Überfrachtung mit Testosteron, der stinkenden Socken und der langen Arbeitstage gefiel es ihr. Solange die Rancharbeiter gut gesättigt und zufrieden waren, solange das Haus sauber war und sie sich von Zeke fernhielt, war es ein guter Job. Zwar brachte die Abgeschiedenheit auf der Ranch auch ihre Prüfungen mit sich, aber sie hatte auch ihre Vorteile. Tagein, tagaus sah Carlin dieselben Menschen. Manche mochte sie mehr als andere, aber das war in jedem Job so gewesen, den sie gehabt hatte. Nie hatte es Probleme gegeben. Es gab keine Überraschungen, keine Angst, dass sie sich umdrehen könnte, um festzustellen, dass Brad dort in einer Menschenmenge stand. Hier auf der Ranch gab es einfach keine Menschenmenge.
Hier auf der Ranch war sie entspannt, und mit jedem Tag gewöhnte sie sich besser ein. Egal, dass Zeke eine endlose Nervensäge war, ein Juckreiz, der sie nicht kratzen sollte – der Job gefiel ihr, sie mochte die meisten Männer, sie hatte gern ihre eigene Suite. Die beiden Zimmer hatten nichts Besonderes an sich, aber sie waren ausgesprochen luxuriös verglichen mit einigen anderen, in denen sie gewohnt hatte, während sie auf der Flucht war. Und bei Licht betrachtet hatten sie tatsächlich etwas Besonderes an sich, weil sie mit Liebe renoviert worden waren. Bestimmt war es die Liebe zur perfekten Libby gewesen, aber Carlin profitierte trotzdem von der Fürsorge und Wertschätzung.
»Die Liste liegt auf dem Tisch«, sagte sie, als sie den letzten Stapel aus sauberem weißem Geschirr in den Schrank stellte. »Schau sie durch, ob ich etwas vergessen habe.«
Carlin ging sofort durch den Flur zu ihren Zimmern, und kurz darauf rief Spencer hinter ihr her: »Brokkoli? Brauchen wir wirklich Brokkoli?«
Sie lachte entspannt, was sie neuerdings wieder konnte. »Ja!«
Beobachtung und die vor kurzem entdeckte Sendung Food Network, die sie in letzter Zeit regelmäßig anschaute, hatten sie gelehrt, dass Schlichtheit die beste Strategie war, wenn es um Essen und Männer ging. Zeke und seine Rancharbeiter würden sich liebend gern von Fleisch und Kartoffeln ernähren, daher stellte sie sicher, dass beides immer reichlich aufgetischt wurde. Dennoch hatte sie das Gefühl, es sei ihre Pflicht als Köchin – und als die einzige Frau in der Gruppe –, hin und wieder Gemüse auf den Speiseplan zu schmuggeln. Wenn sie es mit Käse abdeckte oder in einer anderen Art Soße versteckte, konnte sie für gewöhnlich an ein paar Tagen in der Woche etwas Grünes hineinmogeln, ohne dass die Jungs es merkten.
In ihrem Zimmer schnappte sie sich ihre Jacke, den Hut und die Sonnenbrille als Vorbereitung auf den Ausflug. Sie würde im Pie Hole vorbeischauen, während sie in der Stadt waren, Kat Hallo sagen und die Pies mitnehmen, die sie bestellt hatte. Bei Kuchen besserte sich Zekes Laune manchmal … vorübergehend. Wahrscheinlich gab es im Staat Wyoming nicht genug Kuchen, um ihn in ein erträgliches menschliches Wesen zu verwandeln. Anscheinend war er ständig verstimmt. Sie wusste nicht warum, und es kümmerte sie nicht. So war es leichter für ihr Wohlergehen.
Wenn er mit ihr redete, knurrte er normalerweise etwas vor sich hin, das sie vielleicht auslegen wollte, oder auch nicht. Er ließ sie neuerdings ziemlich in Ruhe, doch wenn er abends nach Hause kam, war er, na ja, mürrisch. Spencer sagte, die Vorbereitungen für den Oktobermarkt seien stressig, und sobald der vorbei wäre, hätten alle wieder bessere Laune. Ein paar Rancharbeiter würden die Ranch bald verlassen und zur Kalbungszeit wiederkommen. Manche würden nach Hause fahren, ein paar nahmen an Rodeos teil. Walt, Kenneth und Micah – der Vorarbeiter und die beiden verheirateten Rancharbeiter – waren das ganze Jahr über angestellt. Selbst Spencer ging für ein, zwei Wochen nach Hause, obwohl er vor den anderen wieder da wäre, sagte er. Ihm gefalle es hier. Auf dieser Ranch fühle er sich mehr zu Hause als bei seiner Familie.
Carlin fragte sich, wie Spencers Familie wohl sein mochte, ob sie eine Enklave von unverbesserlichen Optimisten war. Spencer war charakterlich das genaue Gegenteil von Zeke. Er lächelte, machte Witze und ging mit seinem außer Dienst gestellten Arm so um, als wäre es wirklich keine große Sache. Vielleicht war er nicht der Hellste, aber er war ein Mann, der sich überschlagen würde, um einem Freund zu helfen, was sie sehr zu schätzen wusste. Auf jeden Fall hatte er keine Mühen gescheut, dass sie sich hier willkommen fühlte.
Seit ihrer Ankunft auf der Ranch hatten sie viel Zeit miteinander verbracht. Nach seinem Unfall konnte er nicht viel körperliche Arbeit leisten, aber er hatte ihr großartig dabei geholfen, sich im Haus zurechtzufinden, und die unzähligen Fragen beantwortet, die sie zur üblichen Vorgehensweise hatte. Da er vor seiner Verletzung für die Männer gekocht hatte, wusste er, wo die Gewürze standen, was die Jungs gern tranken und welche Mahlzeiten sie verabscheuten (Gemüse-Lasagne stand an erster Stelle). Er teilte auch Zekes Ansicht, dass die vorherige Haushälterin – die offensichtlich perfekte und engelsgleiche Libby – den besten Schokoladenkuchen überhaupt gemacht hatte. Verdammt, manchmal konnte sie einen regelrechten Hass auf diese Libby entwickeln. Na ja, nicht so richtig, weil Carlin sie nicht kannte. Auf jeden Fall aber war sie neidisch auf Libbys Kochkünste.
In Anbetracht von Libby mit ihrem Schokoladenkuchen und Kats Kuchentalent und ihrer eigenen Katastrophe mit dem White Cake wusste Carlin, dass es reine Zeitverschwendung war, sich für die Abteilung Nachtisch etwas Schickes auszudenken. Sie nahm Kuchen aus dem Pie Hole mit, wenn sie zum Einkaufen in die Stadt fuhr, und sie kaufte jede Menge Eis. Wer mochte schon kein Eis? Brownies aus einer Backmischung waren auch beliebt, und einfach. Irgendwann würde sie es noch einmal mit dem White Cake versuchen, aber sie fand immer wieder Gründe, die dagegen sprachen. Missgeschick war nie erfreulich, und jämmerliches Missgeschick war erniedrigend. Kat hatte ihr gesagt, dass sie wahrscheinlich einfach nur den Teig zu lange gerührt hatte, doch Carlin sah nicht ein, wie dadurch etwas, das Kuchen hätte sein sollen, zu einer ungenießbaren, schwammartigen Substanz wurde. Sie entdeckte allerdings ein Rezept für Maisbrotkuchen, in dem – Überraschung – kein bisschen Maismehl steckte, und er war wirklich gut geworden, aber es war ein Blechkuchen, und der zählte irgendwie nicht. Schichtkuchen zählten, die verdammten Dinger.
Spencer hatte sich an die Schlinge gewöhnt, die seinen linken Arm stilllegte, und hätte wahrscheinlich als Rancharbeiter irgendeine Aufgabe übernehmen können, doch Zeke hatte darauf bestanden, dass er ihr half, bis er wieder gesund war. Sie fragte sich: war es ein Job, der es dem Jungen leichter machen sollte, oder vertraute Zeke ihr so wenig, dass jemand sie im Auge behalten sollte, dem er vertraute? Es hatte eine Zeit gegeben, da wäre sie beleidigt gewesen, aber inzwischen verstand sie mangelndes Vertrauen nur zu gut.
Während sie die lange, gewundene Straße hinunterfuhren, die – ohne Witz – schließlich zu der Straße führte, die zu der Straße nach Battle Ridge führte, schaute Carlin zu Spencer hinüber und fragte nicht zum ersten Mal: »Wann erzählst du mir genau, wie du dir die Schulter verletzt hast?«
Seine Wangen liefen rot an. Er war knapp einundzwanzig, also kein Kleinkind mehr. »Das will ein Mann einer Frau gar nicht erzählen, Miss Carly. Es war schlimm. Mehr müssen Sie nicht wissen.«
»Ich weiß, es hat etwas mit der Entnahme von Bullensperma zu tun«, sagte sie. »Ich kann es mir einfach nicht bildlich vorstellen.«
»Ma’am das wollen Sie sich auch gar nicht bildlich vorstellen«, sagte er mit ernster Miene. »Ich auch nicht, aber da ich dabei war, bleibt mir nichts anderes übrig. Ich bin nur froh, dass es meine linke und nicht die rechte Schulter ist. Wenn ich meinen rechten Arm nicht benutzen könnte, würde ich durchdrehen.«
Sie glaubte nicht, dass die neun Jahre Altersunterschied zwischen ihnen beiden sie zu einer Ma’am machten, aber das war eine Angewohnheit, die sie ihm nicht hatte ausreden können. Entweder war sie Ma’am oder Miss Carly, nicht nur für ihn, sondern für alle Männer auf der Ranch … außer für Zeke.
Sie hatte sogar ein wenig im Computer der Bücherei recherchiert und wusste, es gab mehrere Arten, Bullensperma zu entnehmen. Manche Methoden erschienen ihr beinahe grausam, aber offensichtlich hatte der Bulle normalerweise nichts dagegen, mit Hilfe eines Elektroschocks abzuspritzen.
Die Betonung lag auf »normalerweise«, da bei Spencers letztem Versuch anscheinend etwas schiefgelaufen war.
»Ich habe eine Frage an Sie«, sagte Spencer. Er zeigte auf ihren Hut und die Sonnenbrille, die auf dem Sitz zwischen ihnen lagen. »Warum maskieren Sie sich jedes Mal, wenn Sie in die Stadt gehen? Beinahe so, als wären Sie ein Filmstar oder eine Sängerin, die in flagranti geht.«
Carlin verkniff sich ein Lachen. Das wäre gemein, und sie wollte Spencer nicht das Gefühl vermitteln, dumm zu sein. Er hatte hin und wieder einen Hang dazu, das falsche Wort zu gebrauchen. »Inkognito«, sagte sie.
»Wie?«
»Nicht in flagranti. Inkognito.«
»Na ja, egal, wie das Wort richtig heißt, aber warum?«
Nur Kat und Zeke kannten einen Teil ihrer Geschichte. Von ihr aus musste auch sonst niemand Einzelheiten erfahren, und die beiden wussten es auch nur aufgrund der Barauszahlung. Je mehr Menschen in ihr Geheimnis eingeweiht waren, desto unsicherer würde sie sich fühlen. Eine Weile hatte sie in Battle Ridge in ihrer Wachsamkeit nachgelassen und nicht zur Vorsicht die Sonnenbrille und den Hut aufgesetzt, obwohl sie immer sicherstellte, dass sie ihre Kapuzenjacke bei sich hatte. Doch seit dem Augenblick im Supermarkt, als ihr das Herz stehen geblieben war … verflixt, sie musste das vergessen, je früher, desto besser. Daraus lernen und es auf sich beruhen lassen. Aber vielleicht noch nicht sofort. Vielleicht bei der nächsten Fahrt.
Aber Spencer hatte gefragt, und er würde weiter fragen, daher versuchte sie sich eine mädchenhafte Antwort einfallen zu lassen, mit der sie das Thema abwenden konnte. »Ich kriege meine Frisur nie so hin, wie ich sie haben will, verstehst du? Die Mütze bändigt die Haare.«
»Mir gefallen Ihre Haare«, sagte er voller Ernst. »Ich glaube, die sind richtig hübsch und weich. Und blond«, fügte er hinzu, als machte das die Mängel wett, die sie an ihren Haaren sah. Anscheinend hatte er eine Schwäche für Blondinen, obwohl sie vermutete, dass er ein Faible für alle Frauen hatte, basta.
»Und nicht zu bändigen, gelegentlich«, sagte sie.
»Und was ist mit der Sonnenbrille?«
»Meine Augen sind empfindlich.« Das ergab einen Sinn.
»Aber jetzt beim Fahren tragen sie keine«, hielt er dagegen.
»Die Sonne scheint mir nicht in die Augen.« Das stimmte, aber es war eine schwache Ausrede, und das wusste sie.
Er schüttelte den Kopf. »Schon gut, schon gut. Sie müssen es mir nicht sagen, wenn Sie nicht wollen. Wissen Sie, wenn Sie eine Popsängerin sind, die sich versteckt, oder wenn Sie der Star eine Reality Show wären, dann haben Sie von mir nichts zu befürchten. Ich höre nur Country-Musik und sehe nicht viel fern. Keine Zeit. Sie haben aber niemanden umgebracht, oder?«
»Natürlich nicht.«
»Ich sehe nie Nachrichten. Die sind einfach zu deprimierend.« Für jemanden mit seiner Gemütsverfassung mussten die Nachrichten ein schwerer Schlag sein. »Sie könnten Ihre ganze Familie umgebracht haben, und alle im Land würden nach Ihnen suchen, nur ich wüsste nichts davon.« Der Gedanke schien ihn nicht weiter zu stören. »Allerdings wirken Sie nicht so. Und im Übrigen sieht Zeke sich die Nachrichten an, und der hätte Sie nie eingestellt, wenn Sie von der Polizei gesucht würden. Na ja, wenn er davon wüsste.«
»Ich werde nicht von der Polizei gesucht«, versicherte Carlin ihm. Von einem Polizisten, ja, aber soweit sie wusste, war Brad nicht so weit gegangen, eine Anklage zu fälschen und das ganze Land nach ihr suchen zu lassen.
Nein, er wollte niemanden dabeihaben, wenn er sie das nächste Mal fand. Sie schauderte, Jina fiel ihr ein, und sie rief sich alle Gründe ins Gedächtnis, warum sie die Einzelheiten ihres Lebens nicht einem netten, schlichten Kerl wie Spencer mitteilen konnte.
»Das habe ich auch nicht gedacht«, sagte er. »Aber ich schwöre, ihre Haare sind einfach schön.«
Bevor sie in den Supermarkt gingen, hatte Spencer Physiotherapie. Carlin nahm die Gelegenheit wahr und lief zuerst in die Bücherei. Dann besuchte sie Kat, um die bestellten Kuchen abzuholen. Das Frühstücksgeschäft war gelaufen, und die Mittagsgäste waren noch nicht eingetrudelt. Außerdem hatte Kat für den Tag schon alles gebacken, also hatte sie gerade nichts zu tun. Sie lächelte, als Carlin zur Tür hereinkam, offensichtlich hoch erfreut.
Die Erkenntnis, wie lange es her war, dass jemand ihr ein echtes Lächeln geschenkt hatte, nur weil sie einen Raum betrat, traf Carlin wie ein Schlag.
»Hey, Mädel. Wie geht’s?«, fragte Kat.
»Gut.«
»Wie behandelt Zeke dich?«
Carlin setzte sich an die Theke. »Wie eine Chefköchin und Flaschenspülerin, die er toleriert, weil er keine andere Wahl hat.« Das war nicht ganz richtig, aber nahe genug an der Wahrheit dran.
»Also wie eine Ehefrau ohne die Vorteile.«
»Vorteile?« Carlin behielt einen gleichgültigen Tonfall bei. Sie wollte nicht, dass Kat mitbekam, wohin ihr Verstand sie gebracht hatte. Zeke ging ihr auf die Nerven, er war mürrisch und traute ihr offensichtlich nicht über den Weg. Aber er war ein echter Mann, zäh und hart, und wenn ihr Verstand hin und wieder – ein paar Mal am Tag vielleicht – verbotene Wege ging, na ja, das ging niemanden etwas an.
Aber Kats Hexenaugen sahen wie üblich zu viel. »Schätzchen, lass dich nicht – ich wiederhole nicht – von Zeke Deckers Aussehen hereinlegen. Er ist so ein Mann, von dem manche Frauen träumen, den sie mitnehmen und festnageln wollen, aber er ist, wie er ist, und man kann ihn nicht reparieren.«
»Wie, reparieren?«, fragte Carlin, denn er schien auf keinen Fall zerbrochen. Starrköpfig, stur und vieles andere – darunter auch verdammt sexy –, aber nicht gebrochen. »Er ist dein Vetter. Solltest du ihn nicht über den grünen Klee loben, oder so?«
»Er ist mein Vetter, also kenne ich ihn zu gut.«
»Tja, ein Mann ist im Moment das Letzte, was ich brauche oder haben will, ob zu reparieren oder nicht.« Sie musste frei sein, frei, um wegzulaufen, frei, um jeden Augenblick durchstarten zu können. Das redete sie sich immer wieder ein; jede Art Beziehung – selbst die, die sie mit Kat entwickelt hatte – könnte sie in Versuchung bringen, zu lange an einem Ort zu verweilen. Sie musste bereit sein, die Flucht zu ergreifen, alles hinter sich zu lassen und keinen Blick zurückzuwerfen. Dass sie sich immer wieder ermahnen musste, war schlichtweg furchterregend.
»Schade nur, dass Spencer so jung ist und Stroh im Kopf hat«, sagte Kat. »Na ja, nicht bekloppt, aber du weißt, was ich meine. Er hat ein paar Vorzüge. Er ist niedlich, und er hat so einen festen, jungen Körper.«
»Kat!«
»Aber er ist ein Cowboy«, fuhr Kat unbekümmert fort, »und du weißt, was ich von Cowboys halte. Im Übrigen glaube ich, dass er noch Jungfrau ist und wahrscheinlich meint, die erste Frau, mit der er schläft, heiraten zu müssen. Sich auf einen Liebhaber einzulassen, der Anleitung braucht, ist eine echte Aufgabe, und ich weiß nicht, wie es dir damit geht, aber ich will nicht, dass ein Mann, mit dem ich schlafe, so dankbar ist. Umgehauen und überglücklich, ja, aber nicht ›ich kann nicht ohne dich leben‹. Das ist so eine Bürde. Auch wenn er einen hübschen Arsch hat.«
Carlin musste lachen. »Hör auf! Ich muss jeden Tag mit Spencer arbeiten. Ich möchte nicht wissen, ob er noch Jungfrau ist oder nicht, und ich will nichts über seinen Hintern hören. Er ist wie … ein Welpe.«
»Entschuldige, aber geeignete Männer sind hier knapp, und die Gedanken eines Mädchens wandern eben.« Kat klopfte mit der Hand auf die Theke und stand auf. »Deine Kuchen sind fertig. Möchtest du schon für die nächste Woche vorbestellen?«
Carlin gab ihre Bestellung auf und bat um ein Stück Apple Pie, das sie auf der Stelle essen wollte, denn den gab es an diesem Tag. Als Kat einen Becher Kaffee dazu einschenkte, ging Carlin durch den Sinn, dass Zeke Decker ein Wolf sein musste, wenn Spencer ein Welpe war. Hätte er eine Chance, würde er sie bei lebendigem Leib verzehren.
Nein, danke.
Moment. Zurückspulen. Sie dachte über die Worte nach und spürte, wie ihr Herzschlag schneller wurde, ein Kribbeln tief im Innern. Mist, sie musste sich auf ihren Kuchen konzentrieren und aufhören, über Zekes orale Fähigkeiten zu spekulieren.
»So.« Kat lehnte sich an die Theke und sah Carlin zu, wie sie in ihr Dessert stach. »Du bleibst, ja?«
»Bis zum Frühjahr.« Es sei denn, etwas ging schief.
»In dem Fall brauchst du einen wärmeren Mantel.« Kat verzog das Gesicht beim Blick auf Carlins Jacke. »Und Stiefel.«
»Ich weiß.« Von Tag zu Tag war es kälter geworden, und Carlin hatte sich Gedanken darüber gemacht, was sie brauchte, bevor der Winter hereinbrach. Zeke hatte eine Tonne schwerer Mäntel; sie könnte sich einen ausleihen, wenn sie ihn brauchte. Sie müsste dann nur die Ärmel aufkrempeln. Sie würde wie eine Obdachlose aussehen, aber sie fand es sinnlos, gutes Geld für einen Mantel auszugeben, wenn sie nicht wusste, ob sie ihn im nächsten Jahr noch brauchen würde.
Im nächsten Winter könnte sie schon in Florida sein, oder an einem anderen warmen Ort, und sie wollte möglichst jeden Cent sparen. Sie hatte das Geld, hatte jeden Cent, den sie verdient hatte, gehortet wie ein Geizkragen.
Die Sache mit dem Mantel könnte sie deichseln, aber Zekes Stiefel konnte sie sich wohl kaum ausleihen. »Wo kann ich hier am besten finden, was ich brauche?«
»Tillman’s, direkt die Straße hinunter. Die haben alles, was du brauchst, um über den Winter zu kommen.«
Nachdem das erledigt war, wollte Kat von Carlin wissen, ob sie sich noch einmal an dem verhassten Unfehlbaren White Cake versucht hatte. Carlin verneinte es, und wieder zählte Kat alles auf, was sie falsch gemacht haben könnte. Das falsche Mehl, alte Zutaten, und ihr Favorit – zu langes Rühren. Carlin war kein großer Fan von »haben könnte«. Sie wollte genau wissen, was schiefgelaufen war, damit sie dieselben Fehler nicht immer wieder machte.
Vielleicht war es jedoch an der Zeit, es noch einmal zu probieren. Sie würde Mehl auf ihre Einkaufsliste setzen und eine Packung mitnehmen. Nur eine. Sie sah nicht ein, wo da der Unterschied sein könnte. Mehl war schließlich Mehl, oder? Aber den Gedanken äußerte sie Kat gegenüber nicht laut, denn sie vermutete, dass Kat als Bäckerin anders denken würde.
Ein paar Gäste kamen herein. Kat versuchte abzuwehren, als Carlin bezahlen wollte, aber Carlin bestand darauf. Sie verabschiedete sich, nahm ihre Bestellung mit und machte sich auf den Weg zum Pick-up, auf dessen schmalem Rücksitz sie die Kuchen deponierte.
Spencer war noch nicht wieder da, daher ging Carlin ein Stück weiter zu Tillman’s. Ihre Jacke reichte für Wetter, das einfach nur kühl war, aber der Biss in der Luft war eine Warnung. Wenn es im Oktober schon so kalt war, wie würde es erst im Dezember und Januar in Wyoming sein?
Als sie das Geschäft betrat, klingelte eine Glocke über ihr und kündigte ihre Anwesenheit der älteren Frau hinter der Ladentheke an. Im Moment waren keine anderen Kunden da, und Carlin fragte sich, wie ein solches Geschäft in einer schrumpfenden Stadt wohl überleben konnte. Sie lächelte, sagte, sie wolle sich nur umschauen, und dann fiel ihr Blick auf einen Mantel. Oh, der würde so viel besser aussehen als ein zu großer abgelegter!
Sie nahm den Mantel in die Hand, prüfte den Preis … und hängte ihn sofort wieder auf die Stange.
So hielt sich das Geschäft also. Ein Verkauf, und sie hätten für den Monat ausgesorgt! An der Stange hingen noch andere, preiswertere Mäntel, aber keiner, den sie als billig bezeichnen würde. Wie gut, dass sie entschieden hatte, sich mit Zekes alten Mänteln zu behelfen, und wenn das Schaffell sich auch noch so luxuriös anfühlte. Sie begab sich in die Schuhabteilung und fragte sich, ob sie sich überhaupt die Mühe machen sollte, einen Blick darauf zu werfen. Vielleicht gäbe es in dem Kramladen auch etwas. Oder bei Goodwill. Ob Battle Ridge einen Goodwill hatte?
In einem kleinen Bereich für Ausverkauf entdeckte sie ein Paar Stiefel in ihrer Größe. Die waren ohnehin nicht so teuer, außerdem war der Preis um die Hälfte heruntergesetzt. Es spielte keine Rolle, dass ihr die Farbe nicht gefiel – wer war bloß auf die Idee gekommen, Stiefel in einem solchen Grünton herzustellen? –, oder dass das Material nicht allzu stabil aussah. Sie brauchte nur ein Paar Stiefel, um über den Winter zu kommen. Die wären in Ordnung, solange sie schöne dicke Socken anhatte.
Sie bezahlte die Stiefel, doch als sie den Laden verließ, warf sie noch einen Blick auf den überteuerten Mantel. Mann, der war hinreißend. Und er sah wunderbar warm aus.
Aber wenn sie die Flucht ergreifen musste, wäre der Mantel so teuer wie ein Monat in einem billigen Hotel. Wenn nicht zwei Monate. Sie wollte das Geld in der Tasche haben, nicht als Mantel.
Bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um. Sie wollte nicht wieder fortlaufen; wollte sich nicht erneut der Unsicherheit einer weiteren Schwarzarbeit stellen. Vielleicht würde etwas passieren, und sie könnte bleiben …
Nein. Sie wagte nicht zu hoffen, nicht darauf. Sie musste auf der Hut bleiben, sich bereithalten und musste davon ausgehen, dass sie in ein paar Monaten wieder auf Achse wäre.
Als sie mit ihren neuen Stiefeln zum Pick-up zurückkam, wartete Spencer bereits mit einem Lächeln und einer kleinen braunen Papiertür aus dem Baumarkt auf sie. Nun fehlte nur noch der Supermarkt und eine ätzend lange Einkaufsliste.
»Was haben Sie gekauft?«, fragte Spencer, als er auf der Beifahrerseite einstieg.
»Stiefel.« Carlin stellte die grünen Stiefel auf den Rücksitz, vergewisserte sich, dass sie fest standen, damit sie nicht über die Kuchen fielen.
»O ja, Sie werden vor Ende des Monats jede Menge warmer Sachen brauchen.« Er begann alles aufzuzählen, was sie benötigen würde. Zusätzlich zu den Stiefeln einen warmen Mantel – oder zwei; Mützen, Handschuhe, Schals, die sie über Mund und Nase ziehen konnte, weil sonst ihre Lunge einfrieren könnte. Carlin sagte ihm nicht, dass sie vorhatte, einen von Zekes abgelegten Mänteln zu ergattern, denn dann würde er sich wohl fragen, warum sie so knauserig mit ihrem Geld war – oder, was noch schlimmer war, er würde Mitleid mit ihr haben und eine Sammlung veranstalten, um ihr Kleidung zu kaufen. Das traute sie Spencer durchaus zu.
Und sie sah Menschen vor sich, die aus Herzensgüte spendeten.
Sie war so froh, Battle Ridge gefunden zu haben, Kat … sogar Zeke. Sobald das Frühjahr anbrach, hätte sie einen ordentlichen Betrag an Bargeld, mit dem sie wohin auch immer kommen würde – eine beträchtliche Summe an Bargeld, ein paar warme Erinnerungen und ein Paar potthässliche, billige grüne Stiefel.