11

Carlin betrat Wharton’s Supermarkt mit Zeke auf den Fersen. Sie mochte nicht, dass er da war, so nah hinter ihr, als stünde sie unter Bewachung. Sie wollte sich Zeit beim Einkaufen lassen und nicht den Eindruck haben, als hätte er eine Stoppuhr in einer Hand und eine Peitsche in der anderen, falls er meinte, sie brauche zu lange. Sklaventreiber? O jaah. Das Einzige, was sie davon abhielt, ihm den Schädel einzuschlagen, war die Tatsache, dass er sich selbst ebenso hart vorantrieb wie alle anderen – oder noch härter.

Sie hatte eine Liste; wenn sie sich strikt daran hielt, könnte sie die Sachen in einer halben Stunde einsammeln und den Laden verlassen, vielleicht sogar in zwanzig Minuten. Aber sie hatte jede Menge Kochbücher gelesen, und unzählige Rezepte geisterten ihr durch den Kopf – jedenfalls zwei oder drei. Sie wollte sich Sachen ansehen, sich überlegen, was sie tun könnte, das sowohl interessant klang und was darüber hinaus einer Horde einfallsloser Männer schmecken würde. Sie entdeckte vielleicht Zutaten, die nicht auf der Liste standen, und ließ sich davon inspirieren. Vielleicht …

Wem machte sie eigentlich etwas vor? Und was um alles in der Welt hatte sie gedacht? Kochen war nie ihr Ding gewesen, doch nun dachte sie Tag für Tag ans Kochen, an die Vorbereitung, die Zubereitung, ans Aufräumen nach dem Kochen. Irgendetwas an diesem Bild stimmte nicht.

Auf einer abgelegenen Ranch zu arbeiten, bar bezahlt zu werden, unter einem falschen Namen leben – das alles war ihr wie eine perfekte Situation vorgekommen, ein idealer Plan, um unbemerkt zu bleiben, etwas Geld einzunehmen und zu sparen, sich eine Verschnaufpause zu gönnen von dem Druck, ständig wegzulaufen und auf der Hut zu sein. Wenn sie sich den Arsch aufriss, war es in Ordnung, aber sie ließ sich vom Kochen begeistern. Sie war sich ziemlich sicher, dass eine Veränderung ihrer DNA vor sich ging, denn sonst hätte sie nicht einfach »oh, na gut« über diesen verdammten, unfehlbaren Scheiß White Cake sagen können, sondern hätte damit abgeschlossen, statt sich in den Kopf zu setzen, es so lange zu probieren, bis sie ihn hinkriegte.

Vielleicht war es keine veränderte DNA. Vielleicht war es keine Form geistiger Umnachtung. Vielleicht war sie einfach nur auf Konkurrenz aus. Damit konnte sie leben. Wenn sie es so betrachtete, war der erneute Versuch mit dem bescheuerten Kuchen eher bewundernswert als befremdlich.

Aber sie konnte nicht effektiv einkaufen, wenn Zeke-der-Drache ihr Feuer über die Schulter blies und sie zur Eile anspornte. Und das würde er; sie spürte förmlich, wie das erste »Beeilung« auf sie zukam, wahrscheinlich in … etwa fünf Minuten, wenn sie mit sich selbst wetten wollte.

Tja, er konnte so viel Feuer ausatmen, wie er wollte, dachte sie finster. Sie führte die Regie bei diesem Ausflug, und wenn er sie nicht gewähren ließ, dann sollte er sich doch irgendwo hinsetzen und warten, bis sie fertig war …

O-oh. Die Realität traf sie plötzlich wie ein Schlag ins Gesicht. Sie schaute wieder auf ihre Liste und musste beinahe laut stöhnen. Die Liste selbst war nicht ungewöhnlich lang, aber Carlin brauchte von allem, was darauf stand, viel. Sie brauchte nicht fünf Pfund Mehl, sondern mindestens zwanzig. Dasselbe galt für den Zucker. Sie kaufte das Vielfache von allem, und das hieß, es würde nicht alles in einen Einkaufswagen passen. Sie brauchte mindestens zwei, wenn nicht drei – und das wiederum hieß, sie brauchte Zeke.

Aber nach der Methode »es gibt immer einen Silberstreifen am Horizont« konnte er wenigstens die Routinearbeit übernehmen.

Mit einem Ruck zerrte sie einen Einkaufswagen aus der Reihe, schob ihn zu Zeke und holte den nächsten. »Grundregeln«, sagte sie angespannt. »Versuchen Sie nicht, mich zur Eile anzutreiben, sonst vergesse ich etwas. Bringen Sie mich nicht durcheinander, während ich nachdenke, sonst vergesse ich etwas …«

»Wie können Sie etwas vergessen? Sie haben eine verdammte Liste. Haken Sie einfach alles ab, was Sie schon haben.«

»Und unterbrechen Sie mich nicht«, fügte sie hinzu. »Jeder Idiot kann holen, was auf einer Liste steht. Das, was nicht darauf steht, erfordert Kreativität.«

»Das ist eine Einkaufsliste, kein Kunstwerk.«

»Aber die Liste ist nicht vollständig. Deshalb muss ich nachdenken, und deshalb müssen Sie mir einfach nur folgen und still sein.«

Eine dünne, ältere Frau mit weißen Haaren, die Jeans, Stiefel und ein Jeanshemd trug, schob einen Einkaufswagen an ihnen vorbei. »Zeig’s ihm, Schätzchen«, sagte sie.

Zeke schüttelte leicht den Kopf, als er der älteren Frau nachschaute. »Danke, Mrs. G.«, sagte er sarkastisch mit erhobener Stimme.

»Gern geschehen, Herzchen.« Mrs. G. schaute nicht ein Mal zurück, sondern schlenderte einfach nur in die Obst- und Gemüseabteilung, wo sie stehen blieb und jedes Salat-Angebot prüfte.

Carlin spitzte nachdenklich den Mund und schaute dann zu ihm auf. »Ex-Freundin?«

»Lehrerin in der ersten Klasse.«

Aus einem unerfindlichen Grund zog sich ihr Magen zusammen, als sie sich Zeke als Sechsjährigen mit Zahnlücken vorstellte. Bei der Reinigung des Hauses hatte sie ein paar Bilder von ihm gesehen – nicht viele, woraus sie schloss, dass er wahrscheinlich die meisten weggepackt hatte. Daher konnte sie gut nachvollziehen, wie sich das Gesicht des Heranwachsenden in die harten Züge des Mannes verwandelt hatte, aber sie hatte keine Kinderfotos von ihm gesehen. Das ergab irgendwie einen Sinn. Welcher Mann wollte schon seine Babyfotos um sich haben? Bilder von seinen eigenen Kleinkindern, ja, aber nicht von sich. Okay, noch ein Grummeln im Magen bei dem Gedanken an Zeke als Vater. Nein, eigentlich war es das Kindermachen, das ihr auf den Magen schlug. O Gott, statt sich an ihn zu gewöhnen und immun gegen ihn zu werden, wurde es nur noch schlimmer.

»Sie sehen aus, als würden Sie gleich kotzen«, stellte er fest und schob seinen Einkaufswagen weiter.

Nachdem sie sich innerlich rasch geschüttelt hatte, nahm sie sich zusammen und versperrte ihm den Weg, um die ihr zustehende Leitposition einzunehmen. »Ich habe versucht, Sie mir als Kind vorzustellen. Es war entsetzlich.«

Er knurrte. »Da sind Sie auf dem richtigen Weg.« Dann grinste er. »Aber Mrs. G. hatte mich im Griff. Sie konnte mich mit einem Blick in die Schranken verweisen.«

»Ich muss mal mit ihr reden.« Nur um ihn zu provozieren, lenkte sie ihren Einkaufswagen tatsächlich in Mrs. G.’s Richtung, aber er streckte den Arm aus und legte eine Hand fest auf den Griff, um sie anzuhalten.

»Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Wir wollen die Lebensmittel kaufen und hier verschwinden.«

Schade, dass sie nicht mit sich selbst gewettet hatte, wie bald er »Beeilung« sagen würde – oder etwas in der Art –, denn sie hätte gerade den Jackpot gewonnen.

»Schon gut, aber …« Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Denken Sie an die Regeln: mir folgen, nehmen, was ich Ihnen sage, und nicht sprechen.«

»Oh, soll ich also jetzt die körperliche Arbeit für Sie tun?«

»Eine kluge Arbeiterin nimmt jedes verfügbare Werkzeug zur Hand«, sagte sie und überließ ihm die Auslegung ihrer Worte.

»Eine kluge Arbeiterin hört auf, Zeit zu vergeuden, und fängt an zu arbeiten.«

Weil er recht hatte, hielt sie eine Retourkutsche nicht für nötig. Sie musste eine Tonne Lebensmittel einsammeln, und die würde nicht von selbst in die Einkaufswagen hüpfen.

Die Gemüseabteilung war einfach: Keiner der Männer, ihre Begleitung inbegriffen, stand auf Sachen wie Salat oder Sellerie. Zwiebeln, Kartoffeln, etwas Kürbis, und damit hatte es sich. Dennoch brauchte sie jede Menge Kartoffeln, viel Zwiebeln.

Ihr Kopf schwirrte von Rezepten, die sie gelesen hatte, während sie zwischen den Regalen hindurchging und die verschiedenen Arten von gewürfelten Tomaten überdachte, Päckchen mit Trockensuppe, und ob Makkaroni mit Käse überbacken immer noch dasselbe war, wenn man andere Nudeln verwendete. Sie hatte auch überlegt, ob sie mit Käse überbackene Makkaroni überhaupt hinbekam; das war ihr immer so vorgekommen wie etwas, das nur einfach aussah, in Wirklichkeit aber ein Sumpf aus kulinarischen Katastrophen war, der nur darauf wartete, dass man hineinstapfte. Um Himmels willen, es waren Makkaroni mit Käse, was konnte da schiefgehen?

»Ich weiß nicht, was diese Kraft-Schachtel mit Ihnen gemacht hat, aber die gucken Sie jetzt schon seit fünf Minuten mit finsterer Miene an«, grummelte Zeke. »Entweder Sie nehmen die mit, oder wir gehen weiter.«

»Ich muss mich entscheiden.«

»Dann entscheiden Sie sich schneller.«

»Mögen Sie Makkaroni mit Käse überbacken?«

»Ich bin ein Mann. Ich mag so ziemlich alles, was mit Käse überbacken ist.«

»Ich habe von denen hier keine in der Speisekammer gesehen.«

»Dann nehme ich an, dass Libby nicht die aus der Schachtel verwendet hat. Spencer hat nie Makkaroni mit Käse gemacht, und ich habe es weiß Gott gar nicht erst probiert. Kaufen Sie das Zeug oder nicht, aber wir wollen weiter.« Ungeduld machte sich in seiner Stimme bemerkbar. Carlin dachte, sie könnte wenigstens einen Versuch wagen, griff nach der Schachtel in Familiengröße und warf sie in ihren Einkaufswagen.

»Nur eine?«, fragte er. »Wenn Sie ein Gelage mit Makkaroni und Käse vorhaben, dann sollten Sie lieber aufstocken, weil die Fahrt in die Stadt zu weit ist, um nur ein oder zwei Sachen zu holen.«

»Ich habe noch nie Makkaroni mit Käse gemacht«, erwiderte sie, ein wenig gedemütigt durch das Eingeständnis. Wie würde sie als Köchin jetzt dastehen, wenn nicht als eine unzulängliche? »Wenn die sich als machbar erweisen sollten, dann hole ich beim nächsten Mal mehr.«

»Dann lassen wir uns also alle auf ein Abenteuer ein«, murmelte er.

Dem Herrn sei Dank für undankbare, unsympathische Arbeitgeber, denn Verärgerung rettete sie prompt vor Demütigung. Demütigung war blamierend; mit Verärgerung kam sie zurecht. Sie zog einen Schmollmund. »Erinnern Sie sich an die Regel ›still sein‹? Halten Sie sich daran.«

»Ich bin nur ein bisschen neugierig: hatten Sie jemals eine Art Berufsausbildung? Haben Sie an dem Tag gefehlt, an dem durchgenommen wurde, dass man dem Boss nicht über den Mund fahren soll?«

»Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, dass ich eine vorbildliche Arbeitnehmerin bin. Diese Situation hier ist etwas anders.«

»Ach ja? Wieso?«

»Wir wissen beide, dass es nur auf Zeit ist. Deshalb muss ich Ihnen nicht unbedingt in den Arsch kriechen – im übertragenen Sinn, natürlich. Für mich mag es kürzer sein, als für Sie, daher bin ich am Ruder. In Anbetracht Ihrer häuslichen Fähigkeiten und dem Zustand des Hauses, als ich es zum ersten Mal betrat, sollten Sie eher derjenige sein, der seine Zunge im Zaum hält, denn Sie wollen mich nicht verärgern. Ich könnte ja gehen. Und sobald das Frühjahr kommt, würde man Ihre Leiche im Haus finden, begraben unter einem Haufen eigener, stinkender Wäsche.«

Während ihres verbalen Schusswechsels hatten sie ihren Weg fortgesetzt; sie schaute dabei auf ihrer Liste nach, und sie hatte auf ein paar Gegenstände gezeigt, die er in seinen Einkaufswagen legen sollte – Mengen natürlich. In seinem Haushalt gab es so etwas wie eine Dose Würfeltomaten nicht. Sie brauchte zehn, und sie hoffte nur, dass es für mindestens eine Woche reichen würde.

Sie wendete ihren Einkaufswagen und begab sich in die Backabteilung, in der alle guten Sachen untergebracht waren – na ja, bis auf die anderen guten Dinge wie Eis und Bonbons und Gebäck. Sie entdeckte schon einige Reihen Backmischungen für Kuchen, die sie nur an ihren schmachvollen Fehlschlag erinnerten. An Backmischungen war nichts verkehrt; wenn sie für Betty und Duncan gut genug waren, dann wären sie es auch für sie …

Ein dunkelhaariger Mann schlenderte vorn an dem Gang vorbei, das Gesicht von ihr abgewandt.

Brad. Heilloses Entsetzen überfiel sie, und der hell erleuchtete Laden wurde einen Moment lang schwarz, der Boden schien unter ihren Füßen nachzugeben. Carlin spürte, wie ihr Herzschlag förmlich ins Stottern geriet, und sie blieb so abrupt stehen, als wäre sie auf eine unsichtbare Wand geknallt. Zeke hinter ihr musste seinen Einkaufswagen scharf nach links lenken, um nicht auf Carlin zu prallen.

»Verdammt, passen Sie doch …«, fing er an, doch Carlin wirbelte herum, ihr Gesicht kreidebleich. Aus reinem Instinkt ließ sie ihren Einkaufswagen mitten im Gang stehen und schoss an ihm vorbei in den hinteren Bereich des Ladens, in dem immer eine Laderampe und daher ein Fluchtweg vorhanden war.

Aber so schnell sie auch war, Zeke war schneller. Er streckte den langen Arm aus, packte sie von hinten an der Bluse und brachte sie zum Stehen. Sie schlug mit raschen Stößen auf ihn ein und hämmerte mit der Faust auf seinen Unterarm, um die Muskeln zu betäuben, damit sein Griff sich lockerte. »Scheiße!«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, weil sie fest und zielsicher zugeschlagen hatte, doch bevor sie sich losreißen konnte, packte er mit der anderen Hand ihren Arm. »Was zum Teufel machen Sie da?«

Dir bleibt nur Angst
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