12

»Lassen Sie mich los!« Carlins Augen waren wild vor Angst, doch sie wehrte sich mit einer Entschlossenheit, die ihm das Gefühl verlieh, als versuche er, einen Ninja-Wurm festzuhalten, der ihn angriff und sich zugleich aus seinem Griff wand.

Allmächtiger, welche Aufmerksamkeit mochten sie auf sich ziehen? Die Leute würden glauben, dass er seine Haushälterin hier mitten im Supermarkt überfiel. Aber wie durch eine Laune des Schicksals waren sie im Augenblick die Einzigen in diesem Gang, und niemand war vorbeigekommen, seit Carlin ausgerastet war.

»Er ist hier!«, zischte sie, holte mit dem Fuß aus und traf ihn am Schienbein.

»Au! Scheiße! Verdammt, hören Sie auf, sich zu wehren!« Er schnappte sie von hinten, schlang beide Arme um sie und hob sie vom Boden, denn das war der einfachste Weg, sie unter Kontrolle zu bekommen. Doch während er sprach, drehte er den Kopf rasch hin und her auf der Suche nach dem Mann, der sie derart in Panik versetzt hatte, seine Miene wurde hart und grimmig, wie es manche Leute unglücklicherweise schon erlebt hatten, bevor er sich ums Geschäft kümmerte. Ein paar Mal hatte dieses Geschäft den anderen blutend zurückgelassen, und diesmal könnte es auch so sein.

Ihre Absätze hämmerten gegen seine Schienbeine; verdammt, er würde einen Monat lang blaue Flecken haben, weil sie wie ein kleiner Esel zutrat. »Hören Sie auf«, befahl er mit leiser, harter Stimme. »Wo ist er? Zeigen Sie ihn mir.«

Heftig schüttelte sie den Kopf. »Er wird Sie, mich, alle umbringen!«

»Nein. Ich garantiere Ihnen, dass die Hälfte der Leute hier bewaffnet ist.« Er kam mit dem Mund so nah an ihr Ohr, damit er nicht in normaler Lautstärke sprechen musste. Ein Teil seiner selbst nahm den Geruch ihrer Haut wahr, ihr seidiges blondes Haar, doch der Rest konzentrierte sich darauf, mit der Situation fertig zu werden, und Nummer eins war, Carlin so weit zu beruhigen, dass sie ihm den Stalker zeigen konnte – obwohl das womöglich so leicht war, wie den einzigen Fremden im Laden herauszufinden. »Ich weiß sicher, dass der Ladenbesitzer eine Waffe hat. Wir werden Sie beschützen, und wir werden uns selbst schützen. Versprochen. Beruhigen Sie sich einfach. Ich lasse nicht zu, dass Ihnen etwas zustößt. Wo haben Sie ihn gesehen? Können Sie auf ihn zeigen?«

»Er ist – vorbeigegangen – am Ende des Ganges.« Sie keuchte so schwer, dass sie kaum atmen konnte, und ihre zarten Gesichtszüge waren so weiß, dass er überrascht war, warum sie noch bei Bewusstsein war. Sie schnappte nach Luft, hielt einen Augenblick den Atem an und bemühte sich um Beherrschung. »Dunkle Haare. Grünes Hemd.«

»Das dürfte reichen.« Er stellte sie wieder auf den Boden und drehte sie zu sich um. »Bleiben Sie hier. Laufen Sie nicht weg. Verstanden? Ich muss wissen, wo Sie sind.« Er packte sie bei den Schultern, rüttelte sie sanft, während sein scharfer Blick aus den grünen Augen sie durchbohrte. »Versprechen Sie es mir.«

Sie zitterte am ganzen Leib. Er spürte die Anspannung in jeder Faser ihres Körpers, die wie Elektrizität durch einen dünnen Draht strömte. Das Blau ihrer Augen war die einzige Farbe in ihrem Gesicht; selbst ihre Lippen waren weiß. Niemand konnte diese Art körperlicher Reaktion vortäuschen, und jeder Zweifel, den er an der Wahrheit ihrer Stalker-Geschichte gehegt hatte, löste sich in Wohlgefallen auf. Irgendein Schweinehund terrorisierte sie, und wenn er den in die Finger kriegte …

»Versprechen Sie es«, wiederholte er.

Carlins Blicke wanderten umher, als suchten sie einen Fluchtweg, so wie alle gefangenen oder verängstigten Tiere es machten, was ihn noch mehr in Rage brachte, dass sie in diese Lage geraten war.

Versprechen konnte sie gar nichts. Sie starrte ihn an, und Zeke hatte die Wahl, entweder den Schweinehund entkommen zu lassen, oder Carlin weiter festzuhalten, damit sie nicht durchging.

Na ja, wenn sie durchginge, dann zu Fuß, denn er hatte den Zündschlüssel in der Tasche.

»Bleiben Sie hier«, sagte er in barschem Befehlston. Dann ließ er sie los und begab sich rasch ans vordere Ende des Ganges, bog um die Ecke und suchte nach seiner Zielperson …

… die erstaunlicherweise leicht zu finden war, da der Mann nur zwei Gänge weiter stand und eine Auswahl von Snacks betrachtete. Zeke wappnete sich bereits für einen niederschmetternden Angriff, als sich der Anblick mit seinem Gehirn verband und er schlitternd stehen blieb.

Er trat ein paar Schritte zurück, damit er den Gang hinunterschauen konnte, in dem er Carlin hatte stehen lassen. Er rechnete schon fast damit, dass der Gang leer war, bis auf zwei verlassene Einkaufswagen, aber sie stand noch da, erstarrt und kreidebleich, die weit aufgerissenen Augen auf das Ende des Gangs gerichtet, als erwartete sie, dort ein Ungeheuer auftauchen zu sehen.

Zeke hob die Hand und winkte sie zu sich.

Sie schüttelte den Kopf.

Er gestikulierte eindringlicher. »Ist alles in Ordnung«, sagte er. »Kommen Sie.«

Sie tat ein paar zaghafte Schritte. Als sie in Reichweite war, legte er ihr die Hand auf den Arm und zog sie näher zu sich, damit sie um die Ecke schauen konnte. »Ist er das?«, fragte er und zeigte auf den Mann im grünen Hemd.

Sie hatte entsetzliche Angst, aber sie brachte den Mut auf, hinzuschauen. Er spürte das Zucken in ihrem Körper, als sie sich instinktiv zurückzog, dann hielt sie inne und schaute noch einmal.

»Das ist er«, sagte sie mit dünner Stimme. »Aber der ist es nicht.«

»Nein. Alles in Ordnung. Das ist Carson Lyons. Ihm gehört eine kleine Ranch südlich von Battle Ridge, die er mit seiner Frau und den Kindern führt.«

Sie saugte Luft ein, beugte sich dann vor und stützte die Hände auf die Knie. »O mein Gott, ich habe sein Gesicht nicht gesehen, nur … sein Haar, die Form seines Kopfes. Ich – ich konnte nicht denken. Ich habe die Panik gekriegt. Tut mir leid, ich habe mich komplett zum Narren gemacht …«

»Keine Sorge.« Mit seinem Körper trieb Zeke sie wieder zurück in die Enge des Gangs. »Sie haben sich nicht zum Narren gemacht. Sie haben Gefahr gewittert und reagiert. Das geht in Ordnung. So sollte es ja auch sein. Aber wenn es ein nächstes Mal gibt, zeigen Sie ihn mir einfach, und ich kümmere mich um das Problem. Und jetzt erledigen wir den Rest der Einkäufe, damit wir hier rauskommen. Ich habe heute eine Menge zu tun, und wir vergeuden Zeit.«

Der gnadenlos logische Ansatz war genau das, was sie brauchte. Er gab vor, sie nicht zu beachten, als sie den Einkaufswagen durch den Gang schob, sah jedoch verstohlen dabei zu, wie sie sich zusammennahm, sich konzentrierte und sich zwang, die anstehenden Aufgaben in Angriff zu nehmen. Sie zitterte noch immer, aber sie ließ nicht zu, dass sie ins Schwanken geriet.

Er spürte eine Mischung aus Bewunderung und wild entschlossenem Beschützerinstinkt. Das, womit sie sich beschäftigte, war offensichtlich viel ernster, als er gedacht hatte, und sie kam nicht davon los. Jaah, Mut war ein gutes Wort für sie.

Sie stand jetzt unter seinem Schutz, und er wollte verflucht sein, wenn er zuließe, dass ihr etwas passierte.

Brad Henderson starrte auf den Computerbildschirm und konzentrierte sich voll auf die Information, die er vor sich hatte. Genauer gesagt, auf den Mangel an Information.

Carlin war diesmal von der Landkarte verschwunden, verdammt. Wenn sie arbeitete, dann benutzte sie nicht ihre Sozialversicherungsnummer. Sie hatte keinen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsübertretung bekommen, war nicht in sozialen Netzwerken aufgetaucht, hatte kein Konto eröffnet. Er hatte sich in das Facebook-Konto ihrer Schwester gehackt, doch das war Zeitverschwendung gewesen. Er wusste, dass Carlin ihrem Bruder und ihrer Schwester nicht so nahe stand, aber man sollte doch meinen, dass sie irgendwie in Kontakt waren. Er hatte nur noch nicht herausgefunden, wie.

Er kniff die Augen zusammen und funkelte den Bildschirm wütend an. Vielleicht war sie nicht so eng mit ihren Geschwistern verbunden, aber wenn er denen den Hals durchschnitt, würde es ihr etwas ausmachen. Wenn er jedes Mitglied ihrer Familie umbrachte und dafür sorgte, dass sie erfuhren, es war Carlins Schuld, bevor sie starben, dann würde es ihr leidtun, dass sie vor ihm weggerannt war.

Brad holte tief Luft. Die Familie zu ermorden, würde ihn nur dann zufriedenstellen, wenn Carlin dabei wäre und es mit ansehen würde. Ansonsten wäre es Zeitverschwendung, und er würde sein Leben und seine Freiheit dabei aufs Spiel setzen.

In seinem gemütlichen Haus, im Arbeitszimmer, das er für sich eingerichtet hatte, ging Brad auf die Suche, fluchte und stellte sich vor, was er Carlin antun würde, wenn er sie endlich aufspürte. Einen der Computer in der Polizeiwache zu benutzen, wäre zu riskant, polizeiliche Quellen anzuzapfen, um an Informationen zu gelangen, die er selbst nicht finden konnte, aber wenn er nicht mehr Glück hatte, dann bliebe ihm bald nichts anderes übrig, als dieses Risiko einzugehen.

Dumme Kuh, was glaubte sie denn zu erreichen, wenn sie weglief? Früher oder später würde ihr ein Fehler unterlaufen; das ging allen Idioten so, die versuchten, vor dem Gesetz wegzulaufen. Sie hätte auf ihn hören sollen; er hatte sich so viel Mühe gegeben, es ihr zu erklären. Wusste sie denn nicht, dass sie ihm gehörte? Seit dem Augenblick, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie hatte ihn angelächelt, und da hatte er es gewusst.

Sie gehörte ihm. Als er geglaubt hatte, ihr das Leben zu nehmen, hatte er keine Reue empfunden, denn sie gehörte ihm, er konnte sie nach Belieben loswerden, so wie jeden anderen Müll. Als er herausgefunden hatte, dass er die falsche Frau getötet hatte – dieser verdammte rote Regenmantel hatte ihn zum Narren gehalten –, hatte er ein paar Gewissensbisse gehabt, aber die waren auch bald verflogen. Wenn die Frau sich nicht eingemischt hätte, würde sie heute noch leben. Nicht seine Schuld.

Da seine Suche vorerst zu Ende war, öffnete Brad einen anderen Ordner. Fotos von Carlin füllten den Bildschirm, eins nach dem anderen ging auf. Auf einem der Fotos lächelte sie. Auf den anderen hatte sie nicht einmal gewusst, dass sie fotografiert wurde. Er streckte die Hand aus und legte auf einem besonders sexy Foto eine Fingerspitze an ihre Wange.

»Meine«, flüsterte er.

Carlin zitterte noch immer ein wenig, als sie die Einkäufe wegstellte. Die Rancharbeiter hatten ein Chaos in der Küche angerichtet, als sie sich die Sandwichs zusammenstellten, hatten Chipstüten geöffnet, Tee getrunken, Mineralwasser und Milch, und hatten überall Gläser und Teller stehen lassen. Verglichen mit dem, was sie hier bei ihrer Ankunft vorgefunden hatte, war die vor ihr liegende Aufgabe auf jeden Fall zu schaffen. Sie war sogar froh, zusätzlich etwas zu tun zu haben, beschäftigt zu sein. Sie versuchte, sich auf das Chaos zu konzentrieren, die Reinigung zu planen, die nach dem Wegräumen der Einkäufe anstand.

Dann war das Abendessen zu kochen: Spaghetti Bolognese mit Knoblauchbrot, und zum Nachtisch gäbe es die Kuchen, die sie von Kat mitgenommen hatte. Sie hatte absichtlich etwas ausgesucht, was nicht zeitraubend oder kompliziert war, da sie nicht sicher sein konnte, wann sie und Zeke wieder zu Hause waren. Sie versuchte, an banale Dinge zu denken, zitterte aber noch immer. Ihre Reaktion nervte sie, und auch das half überhaupt nicht.

Sie hatte zugelassen, sich zu entspannen, hatte in ihrer Aufmerksamkeit nachgelassen, und das war ein Fehler gewesen. Als sie den Mann sah, den sie für Brad gehalten hatte, wenn auch nur sehr kurz, war es wie ein Schock für sie, denn sie war darauf nicht vorbereitet gewesen. Sie hatte sich sicher gefühlt, war in Battle Ridge zufrieden, und sie hatte an andere Dinge gedacht: Planung von Mahlzeiten, Rezepte, diesen verdammten, ungezogenen White Cake und an Zeke Decker. Sie konnte ihn nicht vergessen, weil er im Moment ihre größte Ablenkung und die größte Gefahr für ihre Sicherheit darstellte. Sie war auf Abstand gegangen, machte sich keine Illusionen darüber, welchen Platz sie hier einnahm, aber verdammt, sie mochte ihn. Er war sexy und nervig und durch und durch Mann und unerträglich verwirrend.

Sie müsste schon Superfrau sein, um ihm gegenüber immun zu sein, und »super« passte absolut nicht zu ihrer Reaktion auf ihn. Der Teil »frau« stand allerdings auf einem ganz anderen Blatt. Mist.

Sie war derart abgelenkt, dass sie nicht hörte, wie er hinter sie trat. Als er mit dem Arm um sie herum langte und seine Hand auf ihre legte – sie hielt noch immer eine Dose Erbsen in dieser Hand, auf halbem Weg in die Speisekammer – erstarrte sie. Zeke berührte sie nicht. Er berührte sie nie. O verdammt. Er berührte sie. Wenn sie es recht bedachte, dann hatte er sie an diesem Tag oft berührt, aber eine ungestüme Umarmung von hinten, um sie davon abzuhalten, durch den Laden zu rennen, zählte nicht … viel. Seine Hand war heiß und hart und groß. Sein Körper, so nah an ihrem, strömte eine Hitze aus wie ein Kaminofen. Sie hatte sich nicht groß Gedanken darüber gemacht, wie viel größer er war als sie, aber da sie so nah bei ihm stand, wie sollte sie nicht daran erinnert werden?

»Sie sind hier in Sicherheit, verstehen Sie«, sagte er mit leiser Stimme, ruhig und auf jeden Fall sanfter als üblich.

Carlin schüttelte den Kopf und zwang sich, ihn nicht anzusehen. »Ich bin nirgendwo sicher, nicht so richtig.«

Er bewegte sich nicht, ließ seine Hand nicht sinken. »Sie können nicht zulassen, dass ein Mann, irgendeiner, Ihnen das antut.«

Sie ging zur Speisekammer und stellte die Erbsen auf ein Regal. Damit war der Kontakt unterbrochen, aber Zeke war noch immer nah, zu nah. Sie tauchte ab und huschte um ihn herum, eine Art ausweichender Dos-à-dos.

Dabei hatte er nicht vor, das Thema einfach fallen zu lassen.

»Ich möchte Ihnen helfen.«

Sie versuchte, darüber zu lachen, doch heraus kam nur ein kurzer, erstickter Laut. Sie wollte weder Zeke noch einen der anderen Brad in den Weg stellen. »Was wollen Sie denn tun?«, fragte sie mit scharfer Stimme. »Ihn für mich aufspüren und umbringen?«

»Ich dachte, vielleicht könnte ich ihn verhaften lassen«, sagte Zeke nüchtern. »Ich habe zwar ein Pferd und ein paar Waffen hier, aber ich bin Rancher, kein Revolverheld.«

Unwillkürlich verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln über seinen Geistesblitz, aber dann wurde es schief. »Ich habe versucht, ihn verhaften zu lassen. Es hat nicht funktioniert.«

Sie wollte nicht über Brad sprechen, wollte den Albtraum nicht wieder durchleben, den sie eine Weile aus ihren Gedanken hatte verbannen können. War sie unvorsichtig, oder war es eine Überlebenstaktik, nach vorn zu schauen, statt in den schrecklichen Umständen des Mordes an Jina stecken zu bleiben?

»Wollen Sie denn ewig wegrennen?«

»Das ist die Gretchenfrage.« Die hatte sie sich selbst schon oft gestellt, jeden Tag, und die Antwort war immer nein gewesen. Aber was sollte sie machen? Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie den Albtraum beenden könnte. Zeke gegenüber war sie also ehrlich. »Ich weiß es nicht.«

»Nennen Sie mir seinen Namen, und ich werde …«

»Nein!«, fuhr sie ihn an und wirbelte zu ihm herum. Das Herz war ihr in die Kehle gesprungen allein bei der Vorstellung, dass Zeke etwas unternehmen könnte, das Brad hierher führte. Sie bohrte ihm einen Finger in die Brust. »Das Schwein ist ein Computer-Hacker. Eine Freundin ist an meiner Statt gestorben, weil er sie für mich hielt, verstehen Sie. Verdammt, begreifen Sie das?« So fluchte sie nicht oft, aber wenn es um Brad ging, waren die schlimmsten Wörter gerade gut genug.

Zeke betrachtete sie eine ganze Weile, die Augenbrauen leicht hochgezogen. Wie jetzt, glaubt er etwa, sie sei ein süßes junges Ding, das nicht wusste, wie Fluchen geht, wenn es angebracht war? Gerade jetzt war es angebracht. Sie starrte zurück und rührte sich nicht vom Fleck.

»Na gut«, sagte er mit angespannter, aber ruhiger Stimme. »Dann machen Sie das auf Ihre Weise. Aber versprechen Sie mir eins.«

Sie wollte ihm schon sagen, dass sie ihm nichts schuldig sei, am wenigsten ein Versprechen, aber er schien sich Mühe zu geben, also entschied sie, mitzuspielen, vorerst. »Mal sehen. Was soll ich versprechen?«

»Wenn Sie beschließen, dass es an der Zeit ist, fortzugehen, sprechen Sie zuerst mit mir.«

»Wieso sollte ich?« Und wie zum Teufel hatte er sie angesehen und gewusst, dass sie ans Weglaufen gedacht hatte? Oh, stimmt – könnte an der Art gelegen haben, wie sie im Supermarkt in Panik geraten war und hinten über die Laderampe verschwinden wollte.

»Damit ich Ihnen helfen kann. Wenn Sie wirklich weiterziehen, und dessen bin ich mir sicher, brauchen Sie einen Plan. Einen Plan, Carlin, etwas anderes, als auf Achse zu sein und nur anzuhalten, wenn Ihnen das Benzin ausgeht.« Jetzt klang er ein wenig verärgert. »Lassen Sie sich nicht von einem Arschloch das Leben zerstören. Sie sind hier so sicher wie überall – sicherer als an den meisten anderen Orten, aufgrund der Lage und weil Sie von Menschen mit Waffen umgeben sind, die für Sie kämpfen werden.«

Bevor sie antworten konnte, war er auf dem Weg zur Hintertür. »Ich werde die Tür hinter mir abschließen«, rief er, ohne sich umzudrehen. »Keine Bange. Ich habe meinen Schlüssel.«

Zeke beobachtete Carlin verstohlen, während sie das Abendessen servierte. Sie hatte sich inzwischen einigermaßen erholt, und niemand würde auch nur vermuten, dass sie im Supermarkt eine solche Panik bekommen hatte. Sie lächelte und scherzte sogar mit den Männern, während sie wartete, dass alle sich hingesetzt und bekommen hatten, was sie brauchten. Wieder aß sie allein in der Küche.

Die Spaghetti waren gut und sättigend, das Knoblauchbrot knusprig und lecker. Die Männer aßen, als wären sie ausgehungert, und nach einem langen Arbeitstag waren sie es wohl auch. Spencer hatte Mühe, mit einer Hand zu essen, aber es gelang ihm ganz gut. Sie alle freuten sich über die Verbesserung des Essens auf der Rocking D. Ranch. Wenn Carlin ginge, würde es ihnen leidtun.

Und verdammt, letzten Ende würde sie gehen. Er hatte sie eingestellt und von ihr verlangt zu gehen, sobald Spencer in der Lage war, seine Pflichten in der Küche wieder aufzunehmen. Zumindest war das der Plan gewesen, als er sie widerwillig eingestellt hatte und ebenso widerwillig zugestimmt hatte, sie bis zum Frühjahr zu behalten. Aber in nur wenigen Tagen hatte sie bereits ihre Spuren hinterlassen, und er hatte festgestellt, dass ihm der Gedanke nicht gefiel, sie nicht mehr hier zu haben. Es war schön, zu einem anständigen warmen Essen und sauberer Wäsche nach Hause zu kommen, auch wenn diese Vorzüge mit einer scharfen Zunge und einem hübschen Arsch daherkamen, der ihn rasend machte.

Sie hatte sogar seine Bettlaken gewaschen und das Bett frisch bezogen. Zum ersten Mal, seitdem Libby fortgegangen war, hatte er ein gemachtes Bett gehabt. Carlin war mehr als eine fähige Haushälterin und Köchin. Das war der einzige Grund, warum er sich am Nachmittag eingemischt hatte, als es so aussah, als wolle sie die Flucht ergreifen.

Jaah, genau.

Wahrscheinlich war es nur gut, dass er in den nächsten Wochen so viel zu tun haben würde. Das Vieh musste zur Vorbereitung auf den Oktobermarkt aus dem Freiland auf die Weiden beim Haus getrieben werden. Carlin würde das Haus den ganzen Tag über für sich haben, und wenn sie das nächste Mal in die Stadt fuhr, könnte Spencer sie begleiten, um ihr den Weg zu zeigen – und sie außerdem im Auge zu behalten. Sie wollte nicht, dass noch jemand über ihren Stalker Bescheid wusste, aber er könnte Spencer sagen, er solle dafür sorgen, dass niemand sie belästigte. Er wollte nicht leugnen, dass ihre Sicherheit ihm ein großes Anliegen war.

Spencer würde es nicht gefallen, den Viehtrieb zu verpassen; schließlich war das eine seiner bevorzugten Jahreszeiten. Die Arbeit war schwer, das stimmte, aber es war auch klassische Cowboy-Arbeit. So manche Ranch setzte Geländefahrzeuge ein, andere sogar Helikopter, wie er gehört hatte, um das Vieh zusammenzutreiben, doch auf der Rocking D machten sie es auf altmodische Weise, auf Pferden.

Wenn Spencer nur einen gebrochenen Arm hatte, könnten sie vielleicht einen Weg finden, dass es funktionierte. Aber die Schulter musste komplett ausgeheilt sein, bevor er wieder in den Sattel stieg. Der Junge war zwar noch nie gestürzt oder abgeworfen worden, aber für alles gab es ein erstes Mal, wie der Unfall mit Santos gezeigt hatte. Eine gerissene Rotatorenmanschette war nicht zum Spaßen.

Daher würde Spencer bei Carlin bleiben, und Zeke hätte dann keine Angst, sie hier draußen allein zu lassen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals Angst um Libby gehabt zu haben, wenn sie allein war, doch war Libby für ihn auch nie so präsent gewesen. Er liebte sie wie eine Mutter, aber sie war ein fester Bestandteil seines Alltags gewesen, einfach anwesend.

Bei Carlin war es anders. Dass sie im Haus war, dass sie kochte und putzte und einiges erledigte, was ein Mann wohl von einer Frau erwarten mochte, bedeutete eine ständige Reizung seines Unterbewusstseins. Wenn sie unter der Dusche stand, stellte er sie sich nackt vor. Wenn sie im Bett war, stellte er sich vor, dass sie nackt neben ihm im Bett lag. Wenn sie sich bückte, um den Geschirrspüler auszuräumen, stellte er sich vor, sie wäre nackt. Nicht ein einziges Mal hatte er sich Libby nackt vorgestellt – um Himmels willen! Bei dem Gedanken überlief ihn ein Schauer.

Aber Carlin … jaah. Nackt. Sie musste nur atmen, und schon dachte er, sie wäre nackt und würde atmen.

Erschrocken stellte er fest, dass er am Tisch gesessen hatte, ohne etwas zu essen, und in seiner Phantasie Carlin nackt vor sich gesehen hatte, während das Essen allmählich aus den Schüsseln verschwand, und er war nahe dran, den Kürzeren zu ziehen. Er nahm das letzte Stück Knoblauchbrot, bevor es ein anderer nehmen konnte, und machte sich daran, seinen Magen zu füllen.

Nachdem ihr Hunger gestillt war, lehnten sich die Männer zurück, um über den bevorstehenden Viehauftrieb zu sprechen. Spencer wirkte mürrisch, weil ihm der ganze Spaß entgehen würde, aber seine Miene hellte sich schon bald auf, er war nicht der Typ, der lange unglücklich blieb. Zeke konzentrierte sich auf das Thema, denn ein Großteil seines Jahreseinkommens hing davon ab, und ging durch, was sie tun würden, obwohl alle den Oktobermarkt schon mitgemacht hatten. Er dachte, dass es ihm ganz gut gelang, seine Gedanken auf die Arbeit zu konzentrieren, bist Carlin zwei Kuchen ins Esszimmer brachte, einen Apfel- und einen Limettenkuchen. Er schaute sie an, sah die Kuchen und dachte, Carlin würde sie nackt hereinbringen, nur dass er natürlich der Einzige hier wäre, der den Anblick begrüßte.

Er war so verdammt geil, dass er wahrscheinlich schon kommen würde, wenn nur eine Fliege auf seinem Penis landete.

»Na bitte!«, sagte Spencer grinsend. Ein paar Rancharbeiter klatschten, und Eli juchzte. Zeke und Walt standen auf, um ihr die Kuchen abzunehmen und auf den Tisch zu stellen.

Er schaute sie an und dachte, man sollte nicht meinen, wie verängstigt sie noch vor ein paar Stunden war. Sie lächelte und scherzte. »Eines Tages werde ich einen Kuchen ins Esszimmer bringen, und ihr werdet alle sagen, Oh, Carly, ich bin so enttäuscht. Ich hätte wirklich gern den Unfehlbaren White Cake als Nachtisch gehabt.« Das Letzte sagte sie mit Fistelstimme und machte sich über sich selbst lustig.

»Jaah, so wird es kommen«, sagte Darby säuerlich und griff nach dem Tortenheber. Carlin hatte Dessertteller und Gabeln auf dem Tisch gelassen, als sie ihn zum Abendessen deckte. »Hey! Da fehlt ein Stück Apfelkuchen!«

»Das fehlt nicht«, sagte Carlin lieblich. »Ich weiß genau, wo es ist. Es liegt auf einem Teller in der Küche, und mein Name steht darauf.«

»Ich sehe nicht ein, warum Sie als Erste drankommen«, brummte Darby.

Carlin streckte hinter Darbys Rücken die Zunge raus. Die Männer, die es sahen, lachten, übertünchten ihr Gelächter dann mit Husten und begeisterten Ausrufen über den Kuchen.

Als sie wieder in die Küche ging, dachte Zeke kurz daran, aufzustehen und ihr zu helfen, ein paar Kaffeebecher zu holen und beim Ausschenken des frischen koffeinfreien Kaffees behilflich zu sein, den er von seinem Platz aus roch, aber er blieb sitzen. Sie musste jetzt nicht bedrängt werden, und wenn er ihr nicht von der Seite wich, würde es ihr nicht gefallen.

Im Übrigen hatte sie deutlich zu verstehen gegeben, dass sie keinerlei körperliche oder emotionale Verbindung mit jemandem aus ihrem Umfeld eingehen wollte. Das verstand er, wobei er nicht unbedingt damit einverstanden war, aber er verstand. Sie war in einer schwierigen Lage. Erschwerend kam noch hinzu, dass diese erzwungene Einsamkeit offensichtlich nicht ihrer Natur entsprach. Allein wie sie mit den Männern zurechtkam, ihnen Paroli bot und sich so gut einfügte, als wäre sie schon jahrelang hier.

Puh. Von denen behandelte sie keinen mit dieser unterschwelligen Feindseligkeit – nur ihn. Dennoch hatte er nicht den Eindruck, dass sie ihn nicht leiden konnte. Demzufolge war er der Einzige, bei dem es ihr schwerfiel, ihn auf Abstand zu halten, was ja bedeuten musste …

Wie ein Wolf auf der Jagd wusste er genau, was es bedeutete. Er spürte ihre Schwäche, wenn es um ihn ging. Er war eine Bedrohung für diesen Abstand, den sie einhalten wollte, und die anderen Männer waren es nicht. Und weil er eine Bedrohung war, wenn er zu sehr drängte – zum Teufel, wenn er jetzt überhaupt drängte –, würde sie die Flucht ergreifen.

Instinktiv wollte er verfolgen, was er haben wollte. Schon oft hatte er mit schwerer Schufterei und purer Entschlossenheit Ereignisse und Gegenstände so gedreht und gewendet, dass sie am Ende seinem Wunsch entsprachen, und er hatte gelernt, nicht aufzugeben. Sich jetzt zurückzuhalten, ging ihm gegen den Strich, aber sein Verstand beharrte darauf. Das hieß nicht, dass er aufgab; er ging strategisch vor. Er musste ihre Mauer überwinden, sie dahin zu bekommen, dass sie ihm vertraute, sich auf ihn verließ, und beten, dass die Chemie oder Sex oder wie auch immer er die schwarze Magie der Anziehung nennen konnte, den Rest erledigte.

Als Stratege wusste er, wenn er eine Chance haben wollte, dass es funktionierte, musste er Carlin ebenso behandeln wie jeden anderen Angestellten – vorerst. Sie sollte glauben, dass die Lage unverändert war, dass sie ein paar Monate für ihn arbeiten und dann verschwinden würde. An ihm lag es, dafür zu sorgen, dass sie zufrieden war, und dass sie um Himmels willen in Sicherheit war, solange sie sich hier aufhielt.

Er hätte nie zuvor einen Türriegel für eine Verführungsstrategie gehalten, aber sie konnte alle Schlösser haben, die sie wollte, wenn es ihr damit besser ging.

Dir bleibt nur Angst
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