19

Zeke öffnete die Tür zum Vorraum und schrie: »Carly!«

Sie war in der Küche und räumte den Geschirrspüler aus; wäre er hineingegangen, hätte er sie gesehen. »Ich bin hier«, rief sie zurück. Jemand musste in Hörweite sein, sonst hätte er sie mit Carlin angeredet. Er vertat sich nie. Wenn sie allein waren, sagte er Carlin, wenn jemand in der Nähe war, sagte er unverändert Carly. Wenn man bedachte, dass ihr Mund manchmal dem Verstand zwei Schritt voraus war, musste seine Selbstbeherrschung sie einfach beeindrucken.

»Hör mit deiner Arbeit auf und komm raus hinter die Scheune. Ich habe ein Ziel für dich aufgebaut, damit du ein paar Schießübungen machen kannst.« Die Tür ging zu, womit klar war, dass er nicht auf sie wartete.

Schießübungen? Mit einer echten Waffe? Ihr Pulsschlag beschleunigte sich, und nicht nur aus einem Grund. Sie hatte viel darüber nachgedacht, Schießunterricht zu nehmen, seit Zeke es zum ersten Mal erwähnt hatte, und konnte sich trotzdem noch nicht entscheiden, ob sie so weit gehen sollte. Sich zu bewaffnen, war ein drastischer Schritt. Andererseits war Brad auf jeden Fall bewaffnet, und wenn sie sich wie in einem Albtraum ihm gegenüber sähe, wollte sie nie, niemals mit leeren Händen und wehrlos dastehen.

Damit hatte sie ihre Antwort, ob zögerlich oder nicht.

Hinzu kam, dass Zeke ihr das Schießen anscheinend persönlich beibringen wollte. Kein Wunder also, dass ihr Puls in die Höhe schnellte. Ein Teil von ihr, der masochistische, hatte gehofft, Zeke würde ihr den Unterricht erteilen, denn wenn sie darüber nachdachte, war schießen lernen ganz ähnlich wie Golf spielen lernen, die Arme des Lehrers um den Schüler, um ihn anzuleiten. Vielleicht auch nicht; vielleicht war das nur eine Erfindung aus dem Kino. Wirklichkeit hin oder her, sie hoffte noch immer – was bedeutete, dass sie eine Spinnerin war, aber eine aufgeregte.

Sie schnappte sich eine Jacke vom Haken und zog sie an. Die Jacke war braun und roch nach Pferden und Kühen. Der Duft brannte in ihren Nebenhöhlen. Wie konnte es nur sein, dass sie den vorher nicht bemerkt hatte? Oh, richtig – weil die meiste schmutzige Wäsche von Zeke, die gleich hier in einem Wäschekorb war, genauso roch. Sie merkte sich, die Jacke in die Waschmaschine zu stecken, wenn sie wieder ins Haus kam. Ob stinkend oder nicht, die Jacke war angenehm, als sie nach draußen kam, denn die Luft war kalt und frostig. Sie hätte gern noch ein Paar Handschuhe angehabt und überlegte, ob sie wieder zurückgehen und sich ihre holen sollte, war sich aber nicht sicher, ob sie damit schießen könnte. Das waren nicht die glatten Lederhandschuhe, die Verbrecher in Filmen immer trugen, sondern dicke aus Fleece, dazu bestimmt, ihre Hände warm zu halten, und nicht, sie davor zu bewahren, Fingerabdrücke zu hinterlassen.

Carlin ging um die hintere Ecke der Scheune herum und blieb schlitternd stehen, entsetzt über die Männer, die dort auf sie warteten.

Alle drehten sich zu ihr um. Jawohl, alle waren gekommen: Walt, Spencer, Eli, Patrick, Micah, Bo, Kenneth und Zeke persönlich. Du lieber Himmel, was ging hier vor?

»Was ist los?«, fragte sie ängstlich und trat zaghaft zurück. Das musste ein Zeichen sein, dass Schießenlernen keine gute Idee war. Sich selbst vor einer Menge zu blamieren war nie ihr bevorzugter Zeitvertreib gewesen.

Als sie sich Schießübungen vorgestellt hatte, war sie von halb privaten Bemühungen ausgegangen, nicht von einem geselligen Ereignis, bei dem alle Rancharbeiter auf Rocking D sich versammelten, um ihre Misserfolge zu beobachten. Hatten ihre Kochkünste die Männer irgendwie zutiefst gekränkt? War das die Rache für ihren ersten misslungenen Unfehlbaren White Cake? Sie hätte mit Vergeltung gerechnet, wenn sie die Männer gezwungen hätte, ihn tatsächlich aufzuessen – andererseits, hätte sie das getan, würden alle trotzdem am Tisch sitzen und auf dem kulinarischen Rätsel herumkauen. Und hatte sie es nicht wiedergutgemacht, als sie nahezu zwei Tonnen Kartoffeln für sie gekocht hatte?

»Die wollen alle helfen«, sagte Zeke. Ein unheiliges Leuchten in seinen Augen sagte ihr, dass er ihr Unbehagen genoss. Dieses unheilige Leuchten hätte sogar ein Lächeln sein können, was ihren Magen Purzelbäume schlagen ließ. Er zeigte auf einen groben Tapeziertisch hinter der Scheune, auf dem verschiedene Waffen nebeneinander lagen.

»Wir dachten, Sie wollen vielleicht mehr als nur eine Waffenart kennenlernen«, sagte Walt. Er hielt ein Jagdgewehr hoch. »Aber diese Doppelflinte wird sich jeder Art von Problemen mit Menschen annehmen, in die Sie geraten, und den meisten mit Tieren.«

Carlin räusperte sich. Sie hatte Gewehre in Filmen gesehen und wusste, eine Schrotflinte war eine Schrotflinte, weil sie zwei Läufe hatte, und nach allem, was sie je gehört hatte, besaßen Gewehre nur einen Lauf. Schrotflinten schlugen aus, oder? »Oh, verstehe. Ihr wollt alle zusehen, wie ich mit dem Ding schieße, davon umgehauen werde und auf dem Hintern lande, ja?«

Spencer war erschrocken. »Das würden wir Ihnen niemals antun, Miss Carly!« Dann zögerte er und warf rasch einen Blick auf die anderen. »Na ja, kann sein.« So war Spencer, ehrlich bis auf die Haut und völlig unfähig, den Mund zu halten.

»Nein, Ma’am, ich würde Ihnen keine Waffe geben, mit der Sie nicht umgehen können«, sagte Walt bestimmt. »Sie schlägt ein wenig aus, aber nicht sehr. Mein zehnjähriger Enkel wird ganz gut damit fertig.«

»Ich mag eine 30.06 Springfield«, warf Eli ein und hob ein Gewehr, das mit einem Sucher ausgestattet war.

»Sie geht ja nicht auf die Jagd nach Hirschen oder Elchen«, maulte Kenneth. Er hob eine Pistole, die so aussah, als wäre Wyatt Earp stolz gewesen, sie um den Zeigefinger zu wirbeln. »Sie braucht etwas, das leicht zu tragen und zu handhaben ist.«

Die war leicht zu tragen und zu handhaben? Gute Güte, die war dreißig Zentimeter lang! Das Bild von sich selbst, das sie im Geist vor sich hatte, war so lächerlich, dass sie in lautes Gelächter ausbrach und auf die Pistole zeigte. »Wenn ich die in einem Halfter trage, dann reicht sie mit bis ans Knie! Und in meine Handtasche würde sie bestimmt nicht passen.«

»Dann legen Sie sich eine größere Handtasche zu«, riet Kenneth ihr, was, bei Licht besehen, vom Standpunkt eines Mannes aus eine völlig logische Lösung war – andererseits hatten Männer keine Handtaschen. Sie auch nicht mehr. Wenn die Waffe nicht in die Taschen ihrer Kapuzenjacke oder in ihre Jeanstaschen passte, dann würde sie keine mitnehmen, was ein weiteres Problem aufwarf.

»Müsste ich denn keine Erlaubnis haben, um eine Pistole mit mir herumzuschleppen?« Alles, was eine Leumundsprüfung erforderlich machte, stand außer Frage.

»In Wyoming nicht«, erwiderte Zeke. »Verborgenes Tragen einer Waffe ist erlaubt.«

Heiliger Strohsack. Das veränderte alles. Sie betrachtete die Pistole mit neuem Interesse. Andererseits, wenn sie die Schrotflinte abfeuern könnte, ohne auf ihrem Allerwertesten zu landen, wie cool wäre das denn? Wenn es um den Angstfaktor ging, würde eine Schrotflinte eine mickrige kleine Pistole um Längen schlagen – und ein Ziel mit einer Schrotflinte zu treffen, war viel leichter als mit einer Pistole.

»Sie soll alles ausprobieren«, sagte Zeke, trat an den Tisch und nahm ein Paar Ohrenschützer zur Hand. »Dann kann sie entscheiden, welche ihr am besten passt.«

Offensichtlich hatten die Männer ihre jeweilige Lieblingswaffe zu Carlins erster Lektion beigesteuert. Angesichts dieser Geste bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. Trotz ihrer zuweilen alles andere als herausragenden Kochkünste zeigten sie ihr, dass sie um ihr Wohlergehen besorgt waren. Tränen traten ihr in die Augen, und sie schniefte. »Das ist so süß von euch allen«, brachte sie hervor und schenkte ihnen ein strahlendes, wenn auch etwas wässriges Lächeln.

Verlegen traten die Männer daraufhin von einem Fuß auf den anderen und murmelten zusammenhanglos durcheinander, was sie in etwa als »ach, nicht der Rede wert« auslegte. Selten war sie derart gerührt. Vor ein paar Monaten, als sie in Battle Ridge angekommen war, hatte sie sich völlig allein auf der Welt gefühlt und hatte aus Angst nicht einmal jemanden aus ihrer Familie angerufen. Sie war auf der Flucht gewesen, hatte einen sicheren Bau gesucht, in dem sie sich verstecken konnte, aber immer das Gefühl gehabt, als könnte jeder Augenblick ihr letzter sein. Seit dem Tag, an dem sie ins Pie Hole gegangen war, hatte sie Freunde gefunden, Sicherheit, Menschen, die sich kümmerten. Und sie hatte Zeke gefunden – aufreizend, sexy, stur, fähig, sexy … oh, halt, das hatte sie schon gesagt. Und sie sollte nicht in diese Richtung denken, sollte nicht einmal davon träumen, dass sie eines Tages womöglich wüsste, was sie wegen Brad unternehmen könnte, dass sie, wenn sie keine Zielscheibe auf dem Rücken hätte, wieder nach Battle Ridge zurückkehren könnte, und, falls Zeke noch alleinstehend war …

Hör auf, befahl sie ihrer Phantasie streng, oder ihrer Libido, oder beiden. Sie konnte ihr Leben nicht um Eventualitäten herum planen. Sie musste sich mit der Realität befassen. Und aus irgendeinem Grund musste sie sich das immer wieder sagen.

Zeke reichte ihr die Ohrenschützer. Sie wollte sie schon anlegen, hielt dann aber inne. Es gab nur das eine Paar. »Was ist mit den anderen?«

»Die anderen können sich die Finger in die Ohren stecken«, erwiderte er und holte eine Baumwollkugel aus seiner Tasche, teilte sie und steckte jeweils eine Hälfte in ein Ohr. »Wir beide sind die Einzigen, die das nicht können.«

Sie schaute die Männer an. »Habt ihr nicht alle Ohrenschützer?«

»Schicke«, sagte Walt grinsend. »Welche, die das Geräusch der Schüsse abtöten, aber einen trotzdem hören lassen, wenn ein Hirsch auf Zehenspitzen durch das Laub geht. Aber warum sollen wir die rausholen, wenn wir einfach die Finger in die Ohren stecken können, wie der Boss sagt?«

Damit ging es ihr besser. Sie wollte niemanden taub machen, und vielleicht war es männlicher, die Finger in die Ohren zu stecken, als Ohrenschützer zu tragen. Ihr dämmerte, dass die, die sie in der Hand hielt, wahrscheinlich Zeke gehörten.

»Los, setze sie auf«, wies er sie an. »Du wirst trotzdem alles hören können, was ich sage.«

Sie setzte die Ohrenschützer auf und verstellte sie, damit sie besser saßen. Im Gegensatz zu dem, was er gesagt hatte, funktionierten sie so gut, dass sie nun praktisch taub war. Dann umschloss er leicht ihr Kinn, um ihren Kopf still zu halten, machte etwas an einer Kapsel, und Carlin fuhr zusammen, als ein Laut in ihrem Ohr explodierte. Sie hörte jeden einzelnen Stiefel schlurfen, jedes Wort, das sie sagten, sogar ihren Atem, um Himmels willen. Nein – das war Zekes Atem, kräftig und gleichmäßig, direkt neben ihr.

»Boah«, sagte sie mit weit aufgerissenen Augen über den verstärkten Lärm. »Magischer Gehörschutz.«

»Zu laut?«, fragte er in vermutlich sehr leisem Ton, und sie nickte nachdrücklich. Erneut berührte er die Kapsel, und der Lärm ließ nach. Offensichtlich gab es einen Schalter und einen Lautstärkeregler an den Ohrenschützern, Gott sei Dank. Das musste die schicke Variante sein, von der Walt gesprochen hatte.

Zeke berührte ihren Ellbogen und drehte sie zum Tapeziertisch um. »Zuerst zeigen wir dir, wie jede Waffe funktioniert.«

Jetzt war Schluss mit lustig. Jeder Mann musste demonstrieren, wie seine Lieblingswaffe zu laden und zu entladen war, und ihr Anweisungen geben, wenn sie es selbst machte. Ihre Haare zu föhnen, hatte ihr mehr Spaß gemacht. Aber sie hielt durch, bis sie nicht mehr das Gefühl hatte, zwei linke Hände zu haben, während sie an den Hülsen und Patronen herumfummelte und die Mechanismen der verschiedenen Waffen bediente. Zwei Pistolen, ein Revolver und eine halbautomatische Pistole gab es. Bis sie ihr den Unterschied zeigten, hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht. Für sie war eine Pistole eine Pistole. Sie hatte sich geirrt.

Die Schrotflinte war überraschend leicht zu laden und zu handhaben. Sie hatte damit gerechnet, dass sie ungewöhnlich schwer war, aber sie wog nicht viel mehr als eine der großen Jagdflinten mit den Suchern. Und … Mann. Sie hatte Ehrfurcht vor der Waffe. Sie mochte zwar eine gewöhnliche Schrotflinte sein, und die Männer waren ihr Leben lang an Schrotflinten gewöhnt, daher war es für sie nichts Besonderes, aber für jemanden, der noch nie zuvor eine Feuerwaffe in der Hand gehalten hatte, war es aufregend.

Sie spürte ein nervöses Kribbeln im Magen; sie hatte nicht nur Ehrfurcht, sondern war auch ein wenig ängstlich. »Die hier möchte ich zuerst abschießen«, sagte sie daher, weil sie Angst hatte, vollends zu kneifen, wenn sie sich noch mehr Zeit ließe. Sollte die Schrotflinte sie tatsächlich auf den Hosenboden werfen, würde Carlin es überleben. Alle würden lachen, sie würde aufstehen, sich den Staub vom Hintern klopfen und mit der nächsten Waffe weitermachen. Aber, Mann, sie hoffte, sie könnte mit dem Teil umgehen, denn eine Schrotflinte würde jeden Buhmann aufmerken lassen.

Zu ihrer Erleichterung versuchte niemand, ihr die Schrotflinte auszureden, denn sie befürchtete, auch nur ein Wort der Entmutigung würde ausreichen, dass sie es sich anders überlegte. Das Ziel, ein Stück Pappe mit einem großen Kreis in der Mitte, war bereits aufgerichtet und an einem Stapel Heuballen befestigt. Zeke trat hinter sie, und die Szene aus ihrer Phantasie wurde lebendig. Sein großer Körper umfing sie von hinten, seine Arme griffen um sie herum, während er ihr zeigte, wie sie den Schaft der Schrotflinte an ihre Schulter zu legen hatte. Seine muskulöse Gestalt drückte sich an ihren Rücken, seine Hitze brannte durch ihre Kleidung und ließ sie vergessen, was sie machte und warum …

Dann schnüffelte er, und schnüffelte noch einmal. »Wonach riecht das?«

Sie kam wieder auf den Boden. »Das ist deine Jacke«, erwiderte sie. »Die stinkt.«

»Jetzt wird nicht gestritten.«

»Hey, ich habe mich nicht in Kuhdung gesuhlt.«

Er half ihr, die Waffe auszurichten, zeigte ihr, wie man zielte … und dann ließ er die Arme sinken und trat zurück.

Erschrocken, sowohl plötzlich verwundbar, als auch enttäuscht, weil seine Arme sie nicht mehr umfingen, zögerte Carlin und biss sich auf die Lippe. Okay. Sie konnte es. Wenn sie jemals im wahren Leben mit einer Schrotflinte schießen müsste, würde Zeke sie auch nicht mit beiden Armen umschließen.

Sie hob den Schaft an die Schulter, richtete ihn so ein, wie Zeke es ihr gezeigt hatte, hielt die Waffe so ruhig sie konnte, während sie das Visier ausrichtete … und drückte ab.

Sie hörte nicht viel; die zauberhaften Ohrenschützer dämpften, was ein ohrenbetäubender Knall gewesen sein musste. Die Schrotflinte bockte in ihren Händen, aber nicht so sehr, wie sie erwartet hatte. Sie spürte einen Schlag gegen die Schulter, aber auch der war nicht so schlimm. Rauch und der ätzende, aber irgendwie erfreuliche Geruch nach Schießpulver lag in der Luft.

»Ich hab es geschafft! Ich hab es geschafft!«, kreischte sie und hüpfte vor Freude auf und ab.

Zeke streckte den Arm aus und riss ihr hastig die Flinte aus der Hand. Er grinste. »Einigermaßen«, sagte er.

»Nein, ich hab es geschafft! Ich habe abgedrückt! Und es hat mich nicht umgehauen.«

Die Männer lachten, doch aufgrund der Geräuschdämmung war der Lärm gedämpft, was eigenartig war, denn Zekes Stimme war laut und deutlich, was ihr sagte, dass die Männer wirklich johlten. Sie stellte ihren Siegestanz ein und schaute sie wütend an. »Was gibt es da zu lachen?«, wollte sie wissen und kniff die Augen zusammen.

Zeke zeigte auf das Ziel.

O, genau, das Ziel. Sie drehte sich um und warf einen Blick auf das große Pappviereck.

Es war unberührt.

»Ich weiß nicht, wie du das gesamte Ziel mit einer ganzen Schrotladung verpassen konntest«, sagte Zeke. Sie sah ihm an, dass er sich ein Lachen verkniff. »Ich vermute, du hast auf einen Vogel gezielt.«

»Kleinigkeiten!« Sie tat die Frage nach der Genauigkeit mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Ich habe geschossen! Verstehst du nicht? Was jetzt noch kommt, ist ein Kinderspiel. Ich hatte Angst, überhaupt abzudrücken, also habe ich das zuerst gemacht. Wenn ich abdrücken könnte, dann könnte ich auf alles schießen. Und das habe ich gemacht.«

In seiner Miene war ein kurzes, unleserliches Aufflackern. »Möchtest du noch einmal schießen? Und diesmal vielleicht ins Ziel treffen?«, fragte er.

»Ja«, sagte sie überschwänglich. »Ich will alles schießen. Das macht Spaß!«

Sie nahmen sie beim Wort, und sie schoss immer wieder auf das Ziel. Beim zweiten Schuss aus der Schrotflinte traf ein Teil der Schrotkugeln tatsächlich das Ziel, und sie blieb dabei, bis die Pappe zerfetzt war und durch eine neue ersetzt wurde. Dann machten sie mit den verschiedenen anderen Waffen weiter. Eigenartig. Mit den Gewehren war sie viel zielgenauer, aber sie gefielen ihr nicht. Sie machten nicht so viel Spaß, die Sucher waren irgendwie unhandlich für sie, und ein Gewehr schlug schlimmer aus als die Schrotflinte. Nachdem sie damit geschossen hatte, riss sie es von ihrer Schulter und runzelte die Stirn. »Das hat wehgetan. Das Gewehr mag ich nicht.«

»Hab ich dir doch gesagt«, meinte Kenneth zu Eli.

Doch als sie die erste Pistole in die Hand nahm, spürte sie, wie etwas in ihr klickte. So viel Spaß die Schrotflinte auch gemacht hatte, in ihr richtete sich ein primitives Gen auf und wurde aufmerksam, als sich ihre Hand um den Pistolengriff schloss. O mein Gott. Das war es. Das passte ihr am besten. Kenneth hatte genau recht gehabt.

»Die gefällt mir«, murmelte sie.

»Wenn du deinen Gesichtsausdruck sehen könntest«, sagte Zeke mit leiser Stimme, die jedoch deutlich durch den Kopfhörer drang. Er schaute sie unter schweren Lidern eindringlich an.

Sie schüttelte sich innerlich, trat einen Schritt von ihm weg und ging in Ausgangsposition. »So ungefähr?«, fragte sie ihn und nahm die Pistole in beide Hände, während sie den Sucher auf das Ziel richtete.

»Genau so.« Diesmal trat er nicht hinter sie, zeigte ihr nicht, wohin sie die Hände legen sollte. Das Laden und Endladen, die Sicherung oder die fehlende Sicherung, den Abzug und den Hahn und das alles waren sie bereits durchgegangen. Das hier war ein Revolver, der große, den Kenneth ihr zu Übungszwecken zur Verfügung gestellt hatte. Sie richtete den Sucher aus und drückte auf den Abzug. Der Lauf sprang nach oben, und sie zog ihn nach unten, wie man sie angewiesen hatte, fand den Sucher und drückte noch einmal ab. Sie schoss, bis das Magazin leer war, dann überprüften sie das Ziel.

Die gute Nachricht war, dass sie die Pappe mit jedem Schuss getroffen hatte. Die schlechte war, dass nur drei Schüsse tatsächlich ins Schwarze getroffen hatten.

»Sie werden sich bessern«, sagte Spencer aufmunternd, als er sah, wie enttäuscht sie war.

»Verdammt, das werde ich«, sagte sie fest entschlossen. »Lasst mich die halbautomatische Pistole sehen.«

Als Zeke das Ende der Sitzung ausrief, hatte sie vier Zielscheiben zerschmettert und mehr Munition verballert, als sie sich auszudenken wagte. Zögernd stimmte sie zu, dass sie aufhören mussten, die Männer hatten zu arbeiten, und sie auch. Aber sie hatte ihre Waffe gefunden. So gut sich der Revolver auch angefühlt hatte, als sie ihn in die Hand genommen hatte, die halbautomatische Pistole war noch besser. Sie war schwieriger zu laden, schwieriger abzufeuern, aber mit ihr hatte sie besser getroffen. Mit etwas mehr Übung – wahrscheinlich viel mehr Übung – wäre sie in der Lage, zumindest zu fünfzig Prozent ins Ziel zu treffen.

Und sie wäre nicht mehr hilflos, wenn Brad sie das nächste Mal aufspüren würde. Sie kam sich nicht unbesiegbar vor, aber auch nicht mehr so verwundbar und verängstigt. Das könnte gut oder schlecht sein. Aus reinem Machtgefühl würde sie nichts Leichtfertiges tun, aber es war schön zu wissen, dass sie wusste, wie sie sich selbst schützen konnte.

Erstaunlich, was eine Waffe mit einer Frau anstellen konnte.

Dir bleibt nur Angst
cover.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-1.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-2.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-3.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-4.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-5.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-6.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-7.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-8.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-9.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-10.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-11.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-12.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-13.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-14.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-15.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-16.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-17.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-18.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-19.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-20.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-21.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-22.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-23.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-24.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-25.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-26.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-27.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-28.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-29.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-30.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-31.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-32.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-33.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-34.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-35.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-36.html
Howard_Jones_Dir_bleibt_nur_Angst-37.html