40

Unterdessen ließ die Abendsonne, die rechts und links durch die Fenster fiel, die Taube aus Glasmalerei hinter dem Altar am Ende des Petersdoms erstrahlen.

Das Licht streichelte auch die Cathedra Petri darunter, die überlebensgroße Abbildung eines Throns auf goldenen Wolken aus himmlischen Sphären hinabschwebend, eines von Berninis Meisterwerken.

Aber er sah das nicht, nahm selbst die Menschen, die mit ihm auf den Kirchenbänken vor dem Altar saßen, Nonnen, Priester, Journalisten, kaum wahr.

Sein Blick war auf Kardinal Rodriguez gerichtet, der hinter dem Altar stand, gesäumt von den Reihen der Kardinäle.

Andächtig der Heiligen Messe folgend saßen die alten Männer auf den Kirchenbänken rechts und links des Altars, alle wie Rodriguez mit scharlachroten Talaren und weißen knielangen Obergewändern bekleidet. Auf ihren Köpfen trugen sie die roten Kappen, die Pileoli.

Es war ein Augenblick des Schweigens und dennoch war es nicht still.

Sarah lachte.

Ein Lachen, das nur ihm gehörte, das nur in seinem Herzen und seinen Gedanken war, während sein Blick an Rodriguez hing.

Ein fröhliches Kind, ein glückliches Kind.

Wenn sie mit ihrer Mama Elisa in deren alten Ford unterwegs gewesen war, hatte sie auf der Rückbank sitzend meistens mit großen Augen aus einem der Seitenfenster des Wagens geblickt und manchmal in die Hände geklatscht, wenn sie etwas Aufregendes gesehen hatte.

Sicher auch an jenem Tag im November.

»Oremus. Lasset uns beten«, sagte Kardinal Rodriguez hinter dem Altar.

Sarahs Lachen verflüchtigte sich wie der Weihrauch, dessen Schwaden in der Luft hingen, wie der Rauch der Kerzen, so als würde sie davongleiten.

Kardinal Rodriguez' Stimme war wie etwas, das von weither zu kommen schien. Er hob die Hände und die Zeremoniare traten beiseite.

»Praeceptis salutaribus moniti –«, die lateinischen Worte, die er sprach, klangen weich durch die Petersbasilika, brachen sich an den Kuppeln, an den hellen Steinwänden und dem bunten Marmorfußboden, so als wollten sie sich sanft in die Herzen der Menschen schmeicheln, »et divina institutione formati, audemus dicere.«

Dem Wort unseres Herrn und Erlösers gehorsam und getreu seiner göttlichen Weisung, wagen wir zu sprechen, übersetzte er still die Worte, ohne den Blick von Rodriguez zu lassen.

»Pater noster, qui es in caelis«, betete Rodriguez das Vaterunser.

»Du hast mich sterben lassen«, sagte Sarah.

Sarahs braune Augen, so voller Leben, so voller Angst, kurz bevor sie im Tode erstarrt waren.

»Wann kommst du wieder, Papi?«, hatte sie noch einige Wochen zuvor gesagt. Zwei Kinderaugen, die rund und fragend zu ihm aufgeschaut hatten. »Du kommst doch wieder, oder?«

»Sanctificetur nomen tuum«, sagte Rodriguez.

Das Quietschen der Reifen.

»Adveniat regnum tuum.«

Das Krachen und Knirschen, als der Wagen mit Elisa und Sarah gegen die Brückenbrüstung fuhr, die dem nicht standhielt.

»Fiat voluntas tua –«

 Elisas und Sarahs grelle Schreie voller Todesangst, als der graue Ford über den Brückenrand hinausfuhr, bevor er in den Tiber stürzte, bevor er in dem eiskalten dunklen Wasser versank, Elisa verzweifelt versuchte, sich und ihre Tochter zu befreien, sich ihre Lungen schneller mit Wasser füllten, als sie ihrem Schicksal entfliehen konnten, sie qualvoll ertranken.

Er zitterte.

»– sicut in caelo et in terra.«

Die Journalisten auf den Sitzbänken vor dem Altar horchten auf Rodriguez' Worte.

Ein oder zwei, die des Lateinischen mächtig waren, beteten das Vaterunser leise mit. Doch tatsächlich stand in den Gesichtern nur eine Frage. Wo war der Papst? Warum las Kardinal Rodriguez die Messe?

»Panem nostrum cotidianum da nobis hodie.«

»Wann kommst du wieder, Papi?«, sagte Sarah.

Er hatte ihr versprochen wiederzukommen, und er war wiedergekommen, hatte den lebendigen warmen Körper seiner vierjährigen Tochter in die Arme schließen wollen.

Doch stattdessen war er leblos gewesen, als er ihn tatsächlich in den Armen gehalten hatte, aufgequollen, von grüngelben Algen umschlungen, kalt wie ein Eiskristall

An jenem Tag im November war er auf dem Weg zu Elisa und Sarah gewesen, wie immer mit einem Mietwagen und gerade eben erst aus dem Ausland zurückgekehrt.

An diesem Tag hatte er Elisa sagen wollen, dass er endgültig beschlossen hatte, der römisch-katholischen Kirche den Rücken zuzukehren und bei ihr und Sarah zu bleiben.

Nicht einmal umgezogen hatte er sich, hatte noch immer die dunkle Soutane getragen.

»Et dimitte nobis debita nostra, sicut et …«

Er hörte Kardinal Rodriguez' Worte nicht mehr.

Stattdessen waren sie wieder da, die Ereignisse von damals. Jener Augenblick –

Giorgia, Sarahs Großmutter, steht in der Haustür des Hauses am Rande Roms, wo sie mit Elisa und Sarah lebt.

Es ist ein langer Augenblick des Schweigens, in dem Giorgia ihn anblickt, bevor sie ihm einfach die Haustür vor der Nase zuschlägt.

»Giorgia, was soll das?«

Ihr markerschüttender Schrei voller Schmerz hinter der Tür lässt ihn mit den Fäusten gegen die Tür hämmern. »Giorgia! Was ist? Was ist denn?«

Er hört sie weinen und rennt gegen die Tür, bis sie endlich nachgibt und aufspringt.

Giorgia sitzt bebend zusammengekauert links in der Ecke des schmalen halbdunklen Flures.

»Giorgia? Was ist? Wo sind Elisa und Sarah?«

Sie schlägt nach ihm, als er sie anfassen will.

»Geh weg! Du bist schuld! DU!«

»An was?«

Plötzlich spürt er diese Angst.

»AN WAS, GIORGIA?«

Sie blickt zu ihm hoch, das Gesicht tränenüberströmt. »Du hast nicht angerufen.«

»Ich war im Ausland.«

»Du bist nicht wiedergekommen, und dann hast du Elisa auch noch ausrichten lassen, du würdest niemals wiederkommen, du beschissener Feigling! Nicht einmal selbst sagen konntest du es ihr. Du wusstest, dass sie nicht stark genug sein würde. Du wusstest, dass sie wieder an zu trinken fangen würde.«

»Elisa trinkt wieder?«

»Du weißt doch, dass sie sensibel ist. Du weißt doch, dass ich ihr nur eine beschissene Kindheit bieten konnte, weil sich ihr Vater aus dem Staub gemacht hat. Und dann tust du ihr so etwas an?«

»Das habe ich nicht.«

»Aber jemand war hier.«

»Wer? Wer war hier?«

»Ein Kardinal namens James William O'Neill.«

»O'Neill war hier?«

»Du hast auf ihre Briefe nicht geantwortet.«

»Ich habe keine erhalten, Giorgia. Aber ich habe Elisa doch geschrieben, dass ich ohne sie nicht leben kann, dass ich mein Amt als römisch-katholischer Geistlicher niederlegen werde, weil ich mit meinem Keuschheitsgelübte, mit dem Zölibat, nicht länger leben kann und will.«

Giorgia scheint verblüfft. »Da war kein Brief, in dem so etwas stand. Elisa wollte heute zu dir, zum Vatikan. Sie war betrunken. Sie hat Sarah mitgenommen. Sie wollte dir sagen, was du ihr angetan hast. Ich konnte sie nicht davon abhalten, loszufahren.«

Wieder spürt er diese Angst. »Was soll das heißen?«

»Sie sind tot!«, schreit sie. »Der Anruf vor ein paar Minuten. Nicht die Polizei. Ein Bekannter von mir hat das Unglück gesehen. Es ist hier in der Nähe passiert. Elisa … Elisa ist tot und Sarah wahrscheinlich auch. Elisa ist von einer Brücke in den Fluss gefahren. Sie war betrunken. Wahrscheinlich hat sie die Kontrolle über den Wagen verloren.« Sie vergräbt das Gesicht in den Händen. »Ich konnte nicht … Ich konnte sie nicht davon abhalten, loszufahren. Sie hat Sarah einfach ins Auto gepackt und ist losgefahren, bevor ich zum Auto rennen konnte.« Sie atmet tief durch und blickt zu ihm auf. »Ich habe bereits im Vatikan angerufen. Ich wollte dich fertigmachen. Ich wollte dir sagen, dass du deine Familie auf dem Gewissen hast.«

Er spürt, dass er wankt. Der halbdunkle Flur verschwimmt vor seinen Augen. »Wo? Welche Brücke?«

»Ganz in der Nähe. Die Tiberbrücke, über welche die Via del Foro Italico führt.«

Wenige Augenblicke später ist er bereits am Unglücksort.

Polizei mit Blaulicht! Überall! Von Elisas grauem Ford ist nichts zu sehen. Wahrscheinlich ist er noch unter Wasser.

Elisas Körper liegt reglos am Ufer. Menschen stehen um sie herum. Jemand deckt sie mit einem hellen Tuch ab. Sarah wird in diesem Augenblick von Tauchern aus dem Wasser gezogen und Richtung Ufer getragen.

Schreiend rennt er ins Wasser und reißt den kalten leblosen Körper seiner vierjährigen Tochter in die Arme. »SARAH!«

Sie ist bleich.

Ein Auge ist geschlossen, das andere offen und starr.

»Sarah! Bitte!« Er wischt ihr die Algen aus dem Gesicht, presst seinen Mund auf ihren, versucht, sie zu beatmen. »Sarah! Atmen. Bitte! Du musst atmen! Atme

»Signore, Signore.« Der Taucher steht neben ihm. »Bitte. Sie ist tot. Geben Sie mir das Kind.«

»Nein! Sarah, du musst atmen! ATMEEEE!«

»Sie ist tot, Signore.«

Tot. Das Liebste, was er auf der Welt hat, ist tot. Er weiß es, aber seine Seele kann es nicht aushalten.

»Bitte. Geben Sie sie mir.« Der Taucher will ihm Sarah aus den Armen nehmen, tritt dabei auf seine Soutane, zerreißt sie.

Er kämpft um sein Kind, will es behalten, es festhalten, es nie wieder hergeben, presst es an sich.

Bisher hat er es nicht bemerkt, aber jetzt sieht er es.

Sarahs geschlossenes Auge hat sich geöffnet, blickt ihn an, ebenso starr wie das andere.

Du hast mich sterben lassen! Du!

Nein! Nein, das habe ich nicht! Sie waren es! Sie!

Starr vor Entsetzen lässt er sich Sarah aus den Armen nehmen. Jemand führt ihn aus dem Wasser ans Ufer, wo er zusammenbricht, auf die Knie geht, seinen Körper in irrsinnigem Schmerz hin und her wiegt.

Von diesem Augenblick an ist alles anders.

Wie in Trance steht er auf, geht zu Elisa und kniet sich vor ihr nieder. Es sieht aus, als ob sie schliefe, als er das Tuch von ihrem Gesicht nimmt.

»Elisa.« Er streichelt ihre blasse Wange. »Elisa, hörst du mich? Elisa, bitte wach auf! Wach auf, Elisa!«

Jemand legt eine Hand auf seine Schulter, ein Polizist. »Beruhigen Sie sich.« Doch er schüttelt die Hand ab.

Nur selten hat er in seinem Leben gejammert, geweint. Doch jetzt löscht die Qual seine gesamte bisherige Existenz aus. »Nein!« Er vergräbt das Gesicht in den Händen. »Nein!«, und dann schreit er es. »Neeeeiiiiin!«

Er weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als eine erneute Berührung an der Schulter ihn zusammenzucken lässt.

Er blickt zu dem Mann auf, der jetzt vor ihm steht.

Woher weiß er davon? Wie kann er hier sein?

Giorgia. Sie hat gesagt, sie hätte im Vatikan angerufen.

Die Miene des Mannes, der zu der Zeit noch nicht der Papst ist, ist ernst. Doch dann zeigt er ein mildes Lächeln und hält ihm seine Hand hin.

»Folge mir«, sagt er. »Bete zu Gott. Schenk ihm deine Liebe. Das wird deinen Schmerz lindern.«

Und er war ihm gefolgt.

Aber es hatte seinen Schmerz nicht gelindert.

Stattdessen hatte herausgefunden, wer ihm das angetan hatte, Dominguez, Martinez, Costa und O'Neill und die restriktiven Gesetze der Kirche, für die sie standen, aber vor allem er selbst.

Ich hätte Sarah und Elisa vor ihnen schützen müssen. Ich hätte mich früher für sie entscheiden müssen.

Seine Gedanken kehrten von der Vergangenheit zu der Gegenwart im Petersdom zurück.

Kardinal Rodriguez hatte das Gebet beendet.

Die Kameras der Fernsehteams liefen.

Die Journalisten wirkten gelangweilt.

Ihr giert nach Schlagzeilen? Ihr werdet sie bekommen.

*

Wie Nebelschwaden hing der Weihrauch über dem Altar, hinter dem Kardinal Josep Samuel Rodriguez stand, während einer der beiden Zeremoniare Rodriguez eine flache braune Dokumentenmappe aus Leder überreichte.

Commissario Bariello, links neben den Kirchenbänken vor dem Altar stehend, starrte Rodriguez an und wischte sich über die Stirn; kalter Schweiß. Die Schusswunde an seiner linken Bauchseite machte ihm zu schaffen, die Wundnaht schmerzte. Das lange Stehen kostete Kraft. Er fühlte den sorgenvollen Blick des Kollegen Tommasso Lacroix, der neben ihn getreten war, auf sich ruhen.

»Setzen Sie sich doch, Commissario.« Lacroix deutete auf die Kirchenbank rechts von ihnen. »Schließlich gehören Sie eigentlich noch ins Krankenhaus.«

Bariello schüttelte den Kopf und blickte hinter sich. »Wo ist Scarlatti?« Der Kommandant der Schweizergarde hatte hinter ihm gestanden.

»Gegangen, als er einen Anruf bekommen hat.«

Bariello blickte auf die Journalisten rechts auf den Kirchenbänken. In einigen der Gesichter spiegelte sich Langeweile, während die Priester und Nonnen in den Reihen dahinter aufmerksam der Messe folgten.

Kardinal Rodriguez' Miene war undurchdringlich, als er die braune Dokumentenmappe aufklappte, die ihm der Zeremoniar gereicht hatte. Doch seine Hand zitterte, ein Detail, das Bariello nicht entging.

Mit einer nervösen Bewegung rückte Kardinal Rodriguez seine Brille zurecht, sah die Menschen auf den Kirchenbänken vor ihm an, um dann wieder auf die aufgeklappte Dokumentenmappe zu blicken.

»Jesus sagt. ›Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet‹«, hallte seine Stimme über den Lautsprecher. Er sprach nicht weiter, seine Hand zitterte erbärmlich.

Einer der Zeremoniare kam ihm zu Hilfe, nahm ihm die Mappe aus der Hand und hielt sie ihm in Leseweite hin.

Lacroix und Bariello wechselten einen Blick.

»Jesus sagt. ›Richtet nicht.‹ Aber hat …«

Wieder hielt Kardinal Rodriguez inne.

Erwartungsvolle Stille herrschte.

Einen Augenblick schloss Rodriguez die Augen, bevor er erneut auf die Mappe blickte und weitersprach.

»Jesus sagt. ›Richtet nicht.‹ Aber hat unsere Kirche sich je daran gehalten? Sind wir es nicht, die Tag für Tag richten, indem wir vorgeben zu wissen, was Sünde gegen Gott ist und was nicht? Aber sündigen wir damit nicht selbst? Sündigen wir nicht, wenn wir vorgeben, als Menschen, die wir sind, gottgleich zu wissen, was Sünde ist und was nicht?«

Ein Raunen ging durch die Reihen der Menschen.

Bariellos Nerven fingen an zu flirren.

Diese Worte waren nicht im Sinne der Kirche.

Diese Worte waren Blasphemie, die Verhöhnung des römisch-katholischen Glaubens aus dem Mund des Kardinalsstaatssekretärs der katholischen Kirche. Denn die Kirche maß sich durchaus das Recht zu, im Namen Gottes Sünden vergeben zu dürfen.

»Und sündigen wir nicht ebenso, wenn wir vorgeben, all unsere Lehren und unser Handeln seien vom Anhauch des Heiligen Geistes beseelt, und uns so unantastbar machen? Obwohl wir unsere Lehren vielfach aus dem Neuen Testament schöpfen? Und obwohl wir um die Widersprüche darin wissen?«

Einige der Kardinäle waren von den Kirchenbänken rechts und links des Alters aufgesprungen.

Die Entrüstung war ihnen in die Mienen gemeißelt.

Die Journalisten hatten ihre Notizblöcke gezückt und schrieben eifrig. Die Fernsehkameras liefen.

Rodriguez wandte sein blasses Gesicht den Kardinälen zu. »Aufgrund der Ereignisse der letzten Tage bitte ich Sie, sich wieder zu setzen, Eminenzen. Denn diese Ereignisse haben noch immer kein Ende. Es ist doch offensichtlich, dass der Heilige Vater uns heute nicht beehren kann.«

Eine versteckte Anspielung auf das, was augenscheinlich war, die Abwesenheit des Papstes.

Dann hat er ihn, hörte Bariello die Worte, die Marisa vorhin am Telefon zu ihm gesagt hatte. Dann ist er in den Händen des Mannes, dessen Identität wir nicht kennen; und Marisa hatte recht. Erpressung war die einzige Erklärung für Rodriguez' Verhalten, außer er war selbst einer der Täter.

Bariellos Blick glitt über die Reihen aus Priestern und Nonnen rechts auf den Kirchenbänken; manche Gesichter waren wie versteinert, in den anderen stand Empörung oder Entsetzen.

»Denn haben nicht diejenigen von uns«, sagte Rodriguez, »die über Jahrhunderte hinweg gemordet haben, auch gesagt, sie seien vom Heiligen Geist beseelt? Und haben nicht diejenigen von uns, die Menschen versklavt haben, auch gesagt, sie seien vom Heiligen Geist beseelt? Und geben nicht auch wir vor, unter dem Anhauch des Heiligen Geistes zu lehren, obwohl wir Menschen dafür erniedrigen, wie Gott sie geschaffen hat?«

»Aufhören!« Einer der Kardinäle strebte dem Altar zu, doch Rodriguez' persönlicher Bodyguard hielt ihn zurück. »Das ist Blasphemie! Sofort aufhören!«

»Sind Frauen nicht Gottes Schöpfung und stoßen wir sie nicht von uns, indem wir ihnen das Priesteramt verweigern? Und ist nicht auch die Sexualität Gottes Schöpfung und entwerten wir sie nicht, indem wir sie unseren Geistlichen von Grund auf versagen? Und ist nicht das Leid jedes Kindes, das weint, weil sein Vater nicht sein Vater sein darf, da er ein römisch-katholischer Priester ist, eine Sünde, die wir begangen haben?«

Einige der Kardinäle standen auf und verließen aus Protest die Apsis, andere blieben regungslos sitzen.

»Er ist hier, Lacroix«, sagte Bariello.

»Bitte, Commissario?«

Bariello ließ den Blick umhergleiten. Einige der Nonnen und Priester standen auf und verließen den Dom.

»Er muss hier sein, Lacroix. Das ist sein Triumpf. Das lässt er sich nicht entgehen. Und er hat den Papst in seiner Gewalt, irgendwo.« Er musterte die Gesichter der Menschen.

»Hat Gott nicht auch die Homosexualität geschaffen«, Rodriguez' Stimme klang verhaltener als zuvor, »und quälen wir nicht die Betroffenen, indem wir zwar nicht ihre Veranlagung, aber das Ausleben ihrer Sexualität als Sünde deklarieren? Stoßen wir nicht Gott von uns, wenn wir seine Kinder von uns stoßen, die er so geschaffen hat, wie sie sind? Zählt nicht die Würde eines jeden einzelnen Menschen mehr als all unsere Lehren?«

Das Vibrieren seines Handys ließ Bariello zusammenzucken. Er nahm den Anruf an und hielt es ans Ohr.

»Hör mir zu, Carlo«, erklang Marisas Stimme aus dem Handy. »Sie wollte es mir nicht sagen, aber …«

»Wer?«

»Giorgia di Loretto, die Mutter von Elisa di Loretto.«

»Wer?«

»Später. Sie wollte es mir nicht sagen. Aber ich habe dennoch herausgefunden, mit wem sie ohne offiziellen Grund im Vatikan häufig Kontakt hatte und sein echter Name passt zu dem Pseudonym in der Personalakte.«

»Wie bitte?«

»Hör mir einfach zu, Carlo.«

Bariello blickte umher, während Marisa ihm den Namen des Mannes sagte, der sie seit zwei Tagen in Atem hielt.

»Er war hier, Marisa. Ich habe ihn gesehen. Aber er ist gegangen. Kommen Sie mit, Lacroix.« Bariello packte Tommasso Lacroix am Arm. »Kommen Sie!« Er drückte den Anruf weg, während er mit Lacroix über den bunten Marmorfußboden durch das Kirchenschiff Richtung Ausgang lief.

Anfangs verstellte der erhöhte Papstalter in der Mitte des Doms den Blick auf die hohen Türen, hinter denen man durch die Säulenhalle auf den Petersplatz gelangte.

Bariello zog seine Waffe und musterte jeden, der den Dom verließ. Verdammt noch mal! Du hattest ihn direkt vor Augen.

Im Portikus, der Säulenhalle vor dem Dom, blieb er stehen und blickte durch das weitoffene eiserne Gittertor auf den Peterplatz. Er ist dir entkommen.

Lacroix blieb neben ihm stehen. »Sie schulden mir eine Erklärung, Carlo.«

Bariello nahm den Anruf an, als sein Handy vibrierte, und hielt es ans Ohr. »Bariello?«

»Christian Antonelli hier, Commissario.« Das Handy rauschte. »Ich habe versucht Marisa zu erreichen, aber sie ist nicht …«

»Ich weiß. Es war besetzt. Sie hat mit mir telefoniert.«

»Gut dann ruf ich Marisa …«

»Sagen Sie mir, was Sie wissen, Christian.«

»Ich habe die Krankenakte des Mannes mit diesem Pseudonym studiert, Commissario. Gotteswahn, Schuld- und Selbstmordfantasien, über die er mit dem Psychiater in langen Sitzungen gesprochen hat. Er gibt der römisch-katholischen Kirche die Schuld an dem Verlust seiner Familie.«

»Was wir brauchen, ist ein Ort, Christian, wohlmöglich ein Ort, dem er eine besondere Bedeutung zumisst, wohin er den Papst gebracht haben könnte.«

»Der Papst ist …?«

»Haben Sie eine Idee?«

»Orte werden in der Krankenakte kaum erwähnt. Die Brücke, über welche die Via del Foro Italico führt, wo seine Familie zu Tode gekommen ist, oder …«

»Oder was?«

»Es ist kein Ort in dem Sinne, was Sie wahrscheinlich von mir hören wollen, Commissario.« Die Verbindung rauschte, als Antonelli stockte. »In seinen Sitzungen mit dem Psychiater hat er immer wieder vom Leiden Christi gesprochen, und wie sehr sich die Kirche schuldig mache, dass sie Christus' Gebot der Nächstenliebe ihren Gesetzen unterwerfe, anstatt umgekehrt die Kirchengesetze dem Gebot der Nächstenliebe. Das Leiden Christi, der für diese Welt gestorben ist, und der Kreuzweg, den er gegangen ist, bis zu seinem Tod am Kreuz. Aber das …«

»Einsatzwagen zu der Brücke. Richten Sie Marisa das aus.«

»Sie denken …?«

»Unwahrscheinlich. Die Via del Foro Italico ist eine stark befahrene Straße.«

»Aber das andere ist nur Spekulation.«

»Einsatzwagen zu beiden Orten. Sagen Sie es ihr.« Bariello blickte Tommasso Lacroix an, als er den Anruf weggedrückt hatte. »Wo steht Ihr Wagen, Lacroix?«

*

Der schwarze Alfa Romeo ließ ein saftiges Brummen hören, als Tommasso Lacroix Minuten später das Gaspedal durchdrückte.

Das Blaulicht auf dem Dach räumte ihnen eine Schneise durch den Verkehr auf der Via dei Fori Imperiali frei.

»Unmöglich, Commissario.« Tommasso Lacroix schüttelte den Kopf. »Selbst für ihn muss es unmöglich gewesen sein, den Heiligen Vater ungesehen aus dem Vatikan zu schaffen.« Er schwieg einen Augenblick. »Via Crucis, der Kreuzweg. Das ist doch … Glauben Sie das tatsächlich?« Er warf einen Blick auf Bariello. »Sie sind bleich wie der Tod. Sie gehören in ein Krankenhaus.«

»Fahren Sie einfach.«

Bariello kämpfte gegen den Schwindel in seinem Kopf, spürte die warme Flüssigkeit, die sein Hemd durchnässte.

Die Schusswunde an seiner linken Bauchseite hatte angefangen zu bluten.

Die letzten Strahlen des Sonnenuntergangs tauchten die Dächer der Häuser in gelbes Licht.

 Allmählich legte sich Dunkelheit über die Stadt.

*

Währenddessen rollte ein dunkelblauer Streifenwagen der Carabinieri über die Piazza del Colosseo.

Wie jeden Abend, wenn er mit Timo Verdone Dienst tat, fuhr Roberto Cassini einmal an der über vierzig Meter hohen Fassade des Kolosseums in Rom entlang.

Rechts von ihnen erhob sich die höher gelegene Straße Via Celio Vibenna und links von ihnen erstrahlten die unzähligen Öffnungen des römischen Kolosseums in den Flutlichtern, die das elliptische antike Amphitheater aus seinem Inneren heraus erhellten.

»Nichts Auffälliges, Roberto.«

Roberto Cassini warf einen Seitenblick auf seinen jüngeren Kollegen, als der herzhaft gähnte. »Hat Matteo euch wieder wach gehalten?« Was es bedeutete, Vater eines erst wenige Monate alten Babys zu sein, wusste er nur zu gut.

»Stundenlang. Der Arzt tippt auf übermäßige Blähungen, weil der Kleine dauernd schreit.« Timo Verdone öffnete das Fenster und atmete tief die kühle Luft des Abends ein.

Straßenlärm drang von der Via Celio Vibenna zu ihnen hinab in den Wagen. Einzelne Gestalten liefen dort den Fußgängerweg entlang. Die meisten von ihnen vermutlich Touristen, die wie jedes Frühjahr die Stadt bevölkerten.

»Lass uns wieder fahren, Roberto.«

»Warte.«

»Was?«

»Da, der Wagen vor der Mauer neben der Treppe, die hoch zur Straße führt.«

Als sie näher heranfuhren, entpuppte sich der schwarze Wagen als ein BMW E70 mit vatikanischem Kennzeichen.

»Ein nächtlicher Ausflug Seiner Heiligkeit ins Kolosseum?« Timo Verdone grinste, während sie ausstiegen.

Roberto Cassini ignorierte die Bemerkung und ging zu dem Wagen. »Gestohlen, Timo. Was sonst?«

Er warf einen Blick in das Innere des Wagens. »Abgeschlossen.« Er ging um den Wagen herum. »Der Kofferraum auch.« Er zog sein Funkgerät aus dem Halfter. »Ja, Roberto Cassini hier. Wir haben hier einen Wagen auf der Piazza del Colosseo mit vatikanischem Kennzeichen, vermutlich gestohlen.«

Während er das vatikanische Kennzeichen durchsagte, folgte er seinem Kollegen Timo Verdone zu dem Metallgitter, das rund um das Kolosseum den Zugang in dessen Inneres versperrte.

»Das hat jemand aufgebrochen, Roberto.«

Die Scharniere des Gittertores quietschten leise, als Timo Verdone es öffnete.

Nervös zog Roberto Cassini seine Waffe, als er einen schwarzen Alfa Romeo auf die Piazza fahren sah, der neben ihrem Streifenwagen anhielt.

Zwei Männer stiegen hastig aus und kamen auf sie zu.

Der kleinere der beiden zückte seinen Ausweis und warf einen Blick auf das Dienstgradabzeichen an Roberto Cassinis Schulter. »Commissario Carlo Bariello, Polizia di Stato.« Er sah krank aus. Schweiß glitzerte auf seiner Stirn.

Roberto Cassini ließ die Waffe sinken. Im Vergleich zu seinem Dienstgrad bei den Carabinieri war der Commissario bei der Polizia di Stato der erheblich Ranghöhere, also fragte er nicht lang. »Ein Wagen des Vatikan, Commissario. Er parkt dahinten an der Mauer, vermutlich gestohlen. Außerdem ist das Tor in dem Gitter hier aufgebrochen.«

Bariello sah ihn an. »Zeit für Erklärungen haben wir nicht. Sie und Ihr Kollege bleiben hier und sichern die Ausgänge, während Tommasso Lacroix und ich im Kolosseum sind. Aber seien Sie vorsichtig. Der, den wir suchen, könnte eine Geisel haben.«

Stille herrschte, als Bariello und Lacroix das Kolosseum durch das Gittertor betraten; selbst der Lärm der Straße verstummte, verschluckt von den Mauern des riesigen Amphitheaters.

In dem äußeren Ring des Gebäudes blendeten sie die Lichter, die die Fassade beleuchteten. Geduckt arbeiteten sie sich in das Innere des Kolosseums vor und verbargen sich hinter den Säulen.

Bariello huschte in den Gang unter freiem Himmel direkt an der riesigen Arena, in der zu der Zeit des antiken Roms mehr Blut vergossen worden war als an jedem anderen vergleichbaren Ort.

Alle Sinne geschärft verbarg er sich hinter der Steinbrüstung, welche die Arena umgab. Der Mond tauchte die alten Steine aus Travertin in silbernes Licht.

Bei einem kurzen Blick aus seiner Deckung über die Brüstung stockte ihm der Atem, weil er nicht glauben wollte, was er sah. Einen Augenblick übermannte ihn der Schwindel, gegen den er bereits geraume Zeit ankämpfte.

Via Crucis, die Stationen des Kreuzweges von Jesus Christus. Im 18. Jahrhundert waren sie von Papst Benedict XIV. hier am Kolosseum errichtet worden und ebenso das meterhohe Kreuz, das auf der anderen Seite der Arena an deren oberen Rand stand.

Nur konturenhaft hob sich das Kreuz von der beleuchteten Fassade des Kolosseums und dem Licht der zwei brennenden Fackeln ab, die rechts und links dahinter auf dem Boden platziert waren.

Die menschliche Gestalt, die mit ausgebreiteten Armen an das Kreuz gefesselt war, war nur ein Schatten.

Nur die weiße Soutane, die sie trug, und die weiße flache Kappe, der Pileolus, auf ihrem Kopf fingen das Licht des Mondes ein.

Bariello suchte wieder Deckung hinter der Steinbrüstung.

»Sie hatten recht, Commissario«, hörte er Tommasso Lacroix neben sich flüstern. »Er hat ihn, und er wird ihn töten.«

*

Du kannst mich nicht daran hindern, Commissario, dachte er.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er Bariellos Halbglatze auf der anderen Seite der Arena im Mondlicht schimmern sehen.

Er lächelte, verborgen im Schatten einer der Säulen des Kolosseums. Die beiden brennenden Fackeln vor ihm knisterten leise.

Er wusste längst, dass sie kamen.

Sie hatte es ihm gesagt. Sie hatte ihn gewarnt. Sie hatte den Wagen der Carabinieri und den schwarzen Alfa Romeo kommen sehen. Sie wollte Vergeltung wie er.

Sein Blick glitt über die Rückseite des mächtigen Bronzekreuzes, das sich nur wenige Meter vor ihm am oberen Rand der Arena erhob.

Das Licht der Fackeln spielte damit, und die weiße Soutane der Gestalt, die an das Kreuz gefesselt war, wehte kaum merklich.

Eine zarte Brise trug den Geruch des Benzins, mit dem er die Soutane getränkt hatte, zu ihm.

Er lächelte.

Ihr wollt mich töten?

Das könnt ihr nicht.

Tot bin ich längst.

Jan Herzog hatte ihn damals gerettet, doch nur seine Hülle, nicht seine Seele.

Ein tiefer Schlaf, weiter nichts, so hatte es ausgesehen, als er damals in der kleinen Kirche auf Elisas und Sarahs Leichname geblickt hatte, so, als ob der Tod sie nicht besiegt hätte, so, als ob sie gleich aufwachen, aus den Särgen steigen und ihn anlächeln würden wie zu noch unbeschwerten Zeiten.

Dann war er auf den Kirchturm gestiegen.

Doch er war nicht gesprungen.

Er hatte dort gesessen und gewartet, ohne zu wissen auf was, die ganze Nacht, den ganzen Tag.

Die Schweizergarde hatte ihn gesucht, und Major Joel Born, der sich später als Jan Herzog entpuppt hatte, hatte ihn gefunden, ein Mann mit einem ähnlichen Schicksal wie sein eigenes. Auch er hatte seine Familie verloren, seine Schwester Marie, seine Mutter, seinen Vater.

Lange hatten sie auf dem Kirchturm miteinander geredet, und später dann hatten sie in seiner Wohnung geredet, wieder und wieder, über Jahre hinweg.

Er schnippte mit dem Feuerzeug, das er in der Hand hielt. Sie kommen. Du musst es jetzt tun. Jetzt!

Wie viele Jahre hatte er darauf gewartet, auf diesen einen letzten Augenblick.

Mit wenigen Schritten stand er vor der rechten der Fackeln hinter dem Bronzekreuz.

Der Benzingeruch, der von der weißen Soutane der Gestalt am Kreuz ausging, war penetrant.

Er lächelte.

»Keine Bewegung!«

Das war die Stimme des Commissarios. Sie schien von weither zu kommen.

Ohne sie zu beachten, nahm er die brennende Fackel aus der Halterung.

Der Schuss aus Bariellos Pistole hallte durch die Arena.

Die Kugel bohrte sich in seine rechte Schulter, ließ ihn wanken; Schmerz durchzuckte ihn, und dennoch hielt er die brennende Fackel an die weiße Soutane der Gestalt an dem Kreuz.

Ein zweiter Schuss.

Die Kugel bohrte sich in seine rechte Brust.

»Neeeeiiiiin!«

Bariellos Stimme hallte ihm in den Ohren, als die Flammen fauchend an dem Kreuz in die Höhe schossen, eine benzingespeiste heiße Feuersäule, die die Gestalt am Kreuz verschlang.

Die Kugel des Commissarios hatte sich in seine Lunge gebohrt, ließ ihn rückwärts taumeln, und der plötzliche Schwindel in seinem Kopf ließ ihn auf die Knie sinken.

Alles geschah wie in Zeitlupe.

Die Fackel löste sich aus seiner Hand, rollte zur Arena und fiel in die Tiefe.

Der mondhelle Himmel über ihm verschwamm, als er keuchend zur Seite kippte. Der Steinboden war kühl, als seine Wange ihn berührte, das Atmen schwer, das Blut auf seinen Lippen warm.

Er sah Bariello an der Brüstung entlang, welche die Arena umgab, auf sich zulaufen, den entsetzten Blick auf die Feuersäule gerichtet.

Einen Augenblick glaubte er, der Commissario würde sich in die Flammen stürzen, um zu retten, wo nichts mehr zu retten war. Doch dann sah er ihn wenige Meter vor sich keuchend auf die Knie gehen, das Gesicht in den Händen vergrabend.

Hinter Bariello tauchte der Mann auf, der sich ihm im Vatikan als Tommasso Lacroix vorgestellt hatte.

Bariello nahm die Hände vom Gesicht. Er war schweißnass und sein Jackett an seiner linken Bauchseite blutdurchtränkt. Sein Blick glitt zu dem flammenden Kreuz und dann zu dem blutenden Mann auf dem Boden vor ihm. Seine Stimme spiegelte sein Entsetzen wieder. »Warum, Monsignore Belusco? Warum?«

Leicht wankend stand er auf, sackte direkt neben Luca Belusco, der jahrelang der Privatsekretär und Vertraute des Papstes gewesen war, auf die Knie, drehte ihn auf den Rücken, packte ihn mit beiden Händen bei den Schultern und schüttelte ihn. »Warum, Monsignore Belusco? Waruuum?«

Mit weit aufgerissenen Augen sah Monsignore Luca Belusco ihn an. »Weil Jesus geweint hat, als er damals die Scheiterhaufen hat brennen sehen, und weil er weint, wenn seine Kirche noch heute Kinder Gottes von sich stößt, nur weil sie ihr nicht genehm sind.« Er hob den Kopf und umklammerte Bariellos Arm. Blut sickerte aus seinem Mundwinkel. »Jesus war menschlich. Diese Kirche ist nicht menschlich. Sie trägt nur eine menschliche Maske.«

Bariello kam Luca Belusco ganz nah. Seine Stimme war nur ein Zischen. »Ich sage Ihnen, was Sie tatsächlich wollten. Rache. Rache für den Tod ihrer Familie.«

»Nein, nicht Rache, sondern Strafe … Strafe für unsere Schuld. Für Dominguez', Costas, Martinez', O'Neills und meine. Wir haben Elisa und Sarah getötet. Ich hätte sie beschützen müssen. Es … es tut mir leid, glauben Sie mir. Ich wollte nicht, dass Unschuldige … Ich hatte Jan Herzog nicht als so unberechenbar eingeschätzt.«

Bariello ließ ihn los, als er ihn Blut husten sah.

»Aber warum er, Belusco? Warum der Heilige Vater?«

»Er hat in Deutschland ein junges Mädchen getötet.«

»Das hat er nicht, Mann! Das war eine Lüge!« Bariello hielt sich seine blutende linke Seite, als er aufstehen wollte. Schwindel packte ihn und er sackte zurück auf die Knie. »Du sollst nicht töten – Gottes fünftes Gebot.« Er blickte Belusco an. »Irgendwann einmal hat Ihnen das doch etwas bedeutet.«

Tommasso Lacroix berührte ihn am Arm. »Sehen Sie nur, Commissario, das Kreuz!«

Die Flammen loderten schwächer und ließen einen verkohlten Holzbalken erkennen, der mit einer Kette an dem bronzenen Kreuz befestigt war.

Sonst war da nichts, nicht die verbrannten Reste eines Menschen, kein verkohltes Skelett. Die weiße Soutane war verschwunden.

»Sie haben es tatsächlich geglaubt, ja?«

Ein Blutschwall schwappte aus Luca Beluscos Mund, als er erstickt lachte. »Wie denn, Commissario? Wie hätte ich den Papst denn ungesehen hierhin bringen sollen? Selbst für mich unmöglich.«

Bariello starrte ihn an. »Wozu das?« Er beugte sich vor und packte Belusco wieder bei den Schultern. »Was hat das für einen Sinn?«

»Ein Schauspiel, weiter nichts.« Luca Belusco kämpfte um Atem. »Brennen … Brennen soll, wer Gott nicht dient. Ist das nicht eine Erfindung von Klerikern?«

»Sie wollten, dass ich Sie erschieße. Deshalb dieses Schmierentheater. Wo ist der Papst, Belusco? Wo haben Sie ihn hingebracht? Wo?«

Luca Belusco röchelte. »Das werden Sie nie erfahren.« Seine Finger krallten sich in Bariellos Jackett.

Bariello schüttelte ihn. »Wo? Wo ist er?«

»Sie … Sie werden ihn nicht finden.« Luca Beluscos Augen wurden glasig. Ein Gluckern entrang sich seiner Kehle. »Niemand wird ihn …« Sein Körper zuckte, doch plötzlich entspannte er sich. Sein Kopf sackte zur Seite.

»Wo? Wo ist er? Wo?« Bariello hob Luca Beluscos Kopf an. Beluscos Augen waren starr. »Sagen Sie es mir! Woooo? Wo, zum Teufel, ist er? Wo?«

»Commissario.« Tommasso Lacroix berührte ihn an der Schulter. »Commissario, er ist tot.«

Bariello ließ Luca Belusco los, starrte einen Augenblick auf ihn hinab und vergrub das Gesicht in den Händen. »Mein Fehler. Wir hätten ihn längst identifizieren können. Das Pseudonym. Mein Gott …« Er nahm die Hände vom Gesicht und starrte auf Luca Beluscos Leichnam. »Sein Ehrentitel, Kaplan Seiner Heiligkeit. CDSS.LPB bedeutet Cappellano di Sua Santità Luca Philippo Belusco

Lacroix beugte sich zu Bariello hinab. »Es ist nicht Ihre Schuld, dass jemand so viel Wert darauf gelegt hat, die Krankengeschichte dieses Mannes zu verheimlichen.«

»Wir müssen den Papst finden, Lacroix.«

»Aber sicher nicht Sie, Commissario. Sie sehen aus wie der Tod. Ich bring Sie auf der Stelle in ein Krankenhaus. Ihre Wunde blutet.«

Bariello stand auf und verharrte einen Augenblick, bis sich der Schwindel legte. Draußen vor dem Kolosseum huschten Blaulichter durch den Abend.

»Carlo!« Marisa lief an der Brüstung der Arena entlang auf sie zu, blickte erst auf den Leichnam am Boden, dann auf das noch immer glühende Kreuz. »Was …?«

Lacroix winkte ab. »Wir sollten gehen. Ich erkläre Ihnen das unterwegs. Commissario Bariello braucht dringend medizinische Versorgung.«

*

»Lassen Sie mich!«

Die Wutschreie einer Frau hallten wider, als sie das Gittertor erreichten, durch das sie das Kolosseum zuvor betreten hatten.

»Rebecca.«

Der Blick der jungen Reporterin Rebecca Favelli, die Bariello immer wieder angerufen hatte, die im Krankenhaus sogar an seinem Bett gesessen hatte, schnellte zu ihm, als er durch das Tor auf die Piazza del Colosseo hinaustrat. Mehrere Streifenwagen der Polizia di Stato standen auf der Piazza.

Rebecca Favellis Hände waren in Handschellen.

Der Carabinieri Roberto Cassini stand neben ihr. »Ich habe sie im Kolosseum herumschleichen sehen. Sie wollte verschwinden. Das hier hatte sie bei sich.« Er hielt eine Filmkamera und ein Computer-Notebook hoch.

»Rebecca.« Bariello trat vor sie. »Was …?«

In ihren Augen stand Wut. »Ja, Commissario. Ja, ja, ja, ich war an der ganzen Sache beteiligt. Ich wollte nur nicht, dass Kardinal Gutenberg … Er hatte doch nichts damit zu tun. Er war nur ein Ablenkungsmanöver, damit niemand darauf kommt, dass Luca etwas damit zu tun hat. Deshalb habe ich Sie angerufen. Sie sollten Gutenberg retten. Elisa di Loretto war meine Schwester, verstehen Sie? Ich war verheiratet, deshalb heiße ich Favelli. Sie war meine große Schwester und diese … diese … haben sie in den Tod getrieben. Ich habe Elisa geliebt, verstehen Sie? Sie war ein ganz besonderer Mensch.«

»Ispettore Filippo Endrizzi wurde von seiner Familie auch geliebt, Signora Favelli.« Marisas rauchige Stimme rauschte in Bariellos Ohren. »Leider können seine Frau und seine zwei Kinder ihm jetzt nur noch Blumen aufs Grab stellen, weil Jan Herzog ihn erschossen hat. Also kommen Sie mir nicht mit Liebe.«

»Wo ist er, Rebecca?« Bariello packte sie bei den Armen. »Wo ist der Papst?«

Rebecca hielt seinem Blick stand. »Ich weiß es nicht, Commissario. Ich schwöre, Luca hat es mir nicht gesagt.«

»Kommen Sie, Commissario.« Tommasso Lacroix berührte Bariello am Arm. »Ich bringe Sie in ein Krankenhaus.« Er lächelte. »Aber vorher geben Sie mir noch die Handynummer Ihrer Frau, damit ich sie für Sie anrufen kann.«