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Konnte Folter schlimmer sein, als vom frühlingshaften Rom zur kalten deutschen Ostseeküste zu reisen und nach zwei Stunden Schlaf im Flugzeug frierend auf dieser menschenleeren Straße des Dorfes Heiligenbrück zu stehen?
»Was soll das heißen, Sie fangen mit den Ermittlungen in Deutschland erst an, Visconti?«, schnauzte Edoardo Grazianos Stimme aus Ispettore Viscontis Handy. »Es ist bereits Mittag, Mann!«
»Es gab keinen früheren Flug nach Deutschland, Boss.«
»Sie haben eine Stunde, Visconti. Dann sagen Sie mir, wer den Geldkoffer mit dem deutschen Markenlabel gekauft hat, den wir im Haus des Auftragskillers Sciutto in Rom gefunden haben. In dem Koffer waren noch einige Tausend Euro, die Sciutto wahrscheinlich von seinem Auftraggeber für die Kardinalsmorde erhalten hat, und Sciuttos Haus war von einem Mann namens Morrison angemietet.«
»Ich hab die Akte gelesen, Boss.«
»Morrison ist wahrscheinlich ein Deckname.«
»Selbstredend.«
»Eine Stunde, Visconti.«
Das Handy klickte, als Edoardo Graziano den Anruf beendete.
Visconti beschlich ein leises Gefühl von Schadenfreude. Dir geht der Arsch auf Grundeis, Boss, zu viele Tote, zu viel Presse und zu wenig Ermittlungserfolg.
Er fror. Im Vergleich zu Rom hatte die Mittagssonne hier an der deutschen Ostsee nur wenig Kraft.
Die Sonne schien weniger heiß, das Meer war rauer und weniger blau als in Italien, und doch war die Umgebung von einer faszinierenden Schönheit.
Überall fanden sich blühende Obstbäume, Wiesen, Felder, Wälder, die sich bis zur Küste zogen, und in die Landschaft geworfene Dörfer mit alten, zum Teil reetgedeckten Fachwerkhäusern wie jenes Haus in dem Dorf Heiligenbrück, vor dem Visconti in diesem Augenblick stand.
Die Türglocke klingelte, als er den Laden betrat. Der Geruch von Leder und Schuhputzmitteln war erstickend. Der Raum war vollgestellt mit Regalen, in denen sich Schuhe und Handtaschen aneinanderreihten.
Der Mann, der hinter der Ladentheke einen Schuh reparierte, drehte sich nicht um, beachtete weder die Türglocke noch Viscontis vernehmliches Räuspern.
»Guten Morgen.«
»Ja?« Jetzt drehte der Mann sich um.
»Sind Sie der Inhaber?«
»Lehmann, wie es draußen am Laden steht. Peter Lehmann.« Den Schuh beiseite legend, sich die Hände an seiner blauen Latzhose abwischend wanderte sein Blick über Viscontis Gesicht. »Italiener, hä? Man hört's.«
»Ispettore Visconti von der Polizia di Stato Rom.«
Peter Lehmann baute sich hinter der Theke vor Visconti auf. »Haben Sie mir die Fotos von dem Koffer übers Internet geschickt? Ich weiß nicht mehr, wer den gekauft hat. Das habe ich doch schon am Telefon gesagt.«
»Sehen Sie sich ihn bitte noch einmal an.« Visconti stellte den braunen Geldkoffer aus Sciuttos Haus auf die Theke. »Vielleicht fällt Ihnen etwas ein.«
»Mutter!« Lehmanns Blick wanderte zu einer Tür rechts von Visconti. »Mutter! Kundschaft! Sie kommt gleich. Möglich, dass sie etwas weiß.«
Es dauerte Minuten, in denen nur das surrende Geräusch der Schuhreparaturmaschine hinter der Theke zu hören war, an der Lehmann arbeitete, Minuten, die Visconti seine Müdigkeit spüren ließen.
»Was kann ich für Sie tun?« Die grauhaarige zarte Frau, die plötzlich neben Visconti stand, lächelte.
»Der Mann ist Italiener, Mama. Er will wissen, an wen wir den Koffer verkauft haben. Lächerlich. Als wenn wir uns jeden Kunden merken könnten.«
»Zeigen Sie mal.«
Visconti reichte ihr den Koffer.
Klack. Der Koffer sprang auf, als die alte Frau das Schloss betätigte. »Von denen haben wir nur zwei hergestellt. Einen habe ich an einen Touristen verkauft. Die sind unsere häufigsten Kunden, wissen Sie? Sonst ging das mit dem Schuhladen hier gar nicht. Aber den anderen habe ich an Jan verkauft, vor einem Jahr etwa.«
»Jan?«
»Jan Herzog.«
»Wo finde ich diesen Mann?«
»Gar nicht.«
»Was?«
»Er ist weggezogen, vor fast zwanzig Jahren.«
»Aber Sie sagten doch, er habe den Koffer gekauft.«
»Deshalb erinnere ich mich ja so gut. Plötzlich war er wieder da, für ein paar Tage, soweit ich weiß. Wissen Sie, dieses schreckliche Unglück damals …«
»Unglück?«
»Jans Schwester Marie.«
»Mama, das hat doch keine Bedeutung mehr.«
»Nein. Das interessiert mich.« Visconti nahm den Koffer wieder an sich. »Erzählen Sie.«
»Marie wurde ermordet. Am Strand in der Nähe der weißen Kapelle, die dort am Kiefernwald steht. Siebzehn Jahre alt ist das arme Mädel nur geworden. Aber die haben den Mörder geschnappt. Mein Sohn hat recht. Es hat keine Bedeutung mehr.«
»Und Maries Familie?«
»Die Mutter von Marie und Jan war schon lange krank. Sie ist kurz nach dem Mord an Krebs gestorben, und der Vater hat das alles nicht verkraftet und ist dem Alkohol verfallen. Ich glaub, es war im Dezember, als Maries Bruder Jan seinen Vater gefunden hat, am Strand, an der Stelle, wo Marie ermordet wurde. Er war erfroren. Das müssen Sie sich mal vorstellen. Jan war damals erst sechzehn und musste innerhalb kürzester Zeit seine gesamte Familie beerdigen. Das Jugendamt wollte ihn in ein Heim stecken. Da ist er einfach abgehauen. Das Haus der Herzogs zerfällt seitdem. Schimmel überall, eine Ruine.«
»Hören Sie, Inspektor.« Die bisherige Gleichgültigkeit war aus Peter Lehmanns Gesicht gewichen. »Wenn Sie die alte Geschichte aufwärmen wollen, wenden Sie sich an die örtliche Polizeistation.«
»Jetzt reiß dich mal zusammen, Peter. Der Mann hat doch nur freundlich um Auskunft gebeten. Nehmen Sie es meinem Sohn nicht übel, Inspektor. Er ist eben so. Deshalb ist ihm auch schon seine Frau davongelaufen.«
»Sei still, Mutter. Das gehört nicht hierher. Was haben wir eigentlich mit den Morden in Rom zu tun?« Peter Lehmann sah Visconti nicht an, während er den Schuh in seiner Hand polierte. »Darum geht es doch, oder? Es kam in den Nachrichten. Warum sonst treibt sich jemand wie Sie hier rum?«
Visconti ignorierte die Frage. »Etwas muss ich noch wissen, Signora.« Er zog ein Foto aus seiner Jacketttasche. »Kennen Sie diesen, Mann? Haben Sie ihn hier irgendwann schon einmal gesehen?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Wer soll das sein?«
Visconti hielt das Foto Peter Lehmann hin. Der schüttelte ebenfalls den Kopf.
Visconti steckte das Foto wieder ein. »Ein deutscher Kardinal, Kardinal Gutenberg. Wär ja möglich …«
»Ist das einer von denen, die ermordet wurden?« Peter Lehmann stellte den Schuh neben die Reparaturmaschine.
»Ein Kardinal also.« Die alte Frau lächelte. »Naja, warum nicht. Der Papst war ja auch manchmal hier.«
Visconti stockte der Atem. »Wie bitte?«
»Ja, nicht so, wie Sie jetzt denken, nicht seit er Papst ist natürlich, aber früher. Er und Daniel Hoffmann, das ist unser inzwischen verstorbener Abt von Kloster Falzberg, waren Studienkollegen, wissen Sie? Und gute Freunde. Damals war der Papst noch ein deutscher Bischof und hat Kloster Falzberg ab und zu besucht.«
*
»Erst morgen?«, fauchte Visconti eine Viertelstunde später in der Polizeistation von Heiligenbrück.
Der Duft von frischem Kaffee lag in der Luft, und auf einem der drei Schreibtische hinter der Theke der Polizeistation warf ein Faxgerät Blätter aus. Die Polizeistation am Rande des Dorfes zu finden, hatte bereits Zeit gekostet, und jetzt auch noch diese … diese …
Die dunkelhaarige Polizistin hinter der Theke schenkte ihm ein unechtes Lächeln. Die strähnige, zu einem Pferdeschwanz zusammengefasste Langhaarfrisur machte sie nicht sympathischer. »Fast zwanzig Jahre liegt der Fall Marie Herzog ad acta«, sagte sie. »Da wird es wohl auf einen Tag nicht ankommen.«
Hast du eine Ahnung, dachte Visconti.
»Ihre Akteneinsicht in den Fall Herzog muss erst genehmigt werden, Herr …«
»Ispettore Visconti. Verbinden Sie mich mit dem Chef des für diesen Fall zuständigen Kommissariats, mit dem Sie gerade telefoniert haben.«
»Der hat jetzt Mittagspause.«
»Merda!« Visconti riss der Geduldsfaden. »Ich brauche die Information jetzt, jetzt sofort.«
»Eine Stunde. Vorher kann ich nichts tun.« Die Polizistin ließ sich nicht beirren. »Sie können hier warten oder wiederkommen, wie Sie wollen.« Sie blickte an ihm vorbei. »Und Sie sollten endlich auch gehen, Magda. Wir benachrichtigen Sie, wenn wir Ihre Nichte gefunden haben.«
»Bitte tun Sie alles, was Sie können.« Die zarte Frau von circa Mitte fünfzig, die neben Visconti vor der Theke stand, schien den Tränen nah. »Lena muss etwas zugestoßen sein.«
Die Miene der Polizistin war abschätzig. »Wir kümmern uns, Magda. Was soll das?«, fauchte sie, als Visconti plötzlich neben ihr hinter der Theke stand und sich das Telefon griff. »Sie können doch nicht …«
Die Telefonnummer des Kommissariats, bei dem die Polizistin angerufen hatte, war noch gespeichert. »Ja, Ispettore Visconti von der Polizia di Stato Rom. Ich möchte den Leiter des Kommissariats sprechen. Sofort.«
Was folgte, war eine langwierige Diskussion, nach deren Ende das Faxgerät der Polizeistation von Heiligenbrück den Mordfall Marie Herzog ausspuckte, und was Visconti als Erstes sah, war das Foto einer jungen Frau mit zertrümmertem Schädel.
Er nahm alle Blätter aus dem Fax und setzte sich an einen der drei leeren Schreibtische.
Die Polizistin ignorierte das geflissentlich.
Die Augen starr, das Gesicht blutverklebt, die Lippen leicht geöffnet. Die Fotos von der toten jungen Frau, obwohl durch das Faxen nur schwarzweiß, zeugten von der Brutalität des Mörders.
Marie Herzog, 17 Jahre alt, vor gut siebzehn Jahren an einem abgelegenen Strandstück erschlagen, zwischen der Kapelle namens St. Anna und dem Fuß des Hügels, auf dem Kloster Falzberg stand.
Visconti hielt den Atem an. An einer zarten Kette um ihren Hals hing ein winziges goldenes Rosenkreuz.
Irgendjemand hatte den Unterlagen auch ein Foto von Marie und ihrer Familie beigefügt; Vater, Mutter und Maries jüngerer Bruder Jan Herzog, ein Foto aus glücklichen Zeiten.
Der Junge auf dem Foto lächelte.
Visconti starrte ihn an. Jans Mutter war an Krebs gestorben, die Schwester ermordet worden und der Vater (deswegen zum Alkoholiker geworden) im volltrunkenen Zustand bei eisiger Kälte draußen erfroren.
Was für ein Schicksal!
Es dauerte keine Viertelstunde, bis er die gesamte Akte gelesen hatte.
Dann fischte er sein Handy aus seiner Jacketttasche und fotografierte die Bilder ab.
Danach schickte er sie an Commissaria Marisa Capeccis Handy und wählte ihre Nummer. »Ja, Ispettore Fabio Visconti hier, Marisa. Ich habe dir ein paar Fotos geschickt. Unser Fall scheint mit einem Mordfall hier in Heiligenbrück in Verbindung zu stehen.«
»Warum hattest du dein Handy ausgeschaltet, Fabio? Der Boss tobt. Er hat versucht, dich anzurufen.«
Genau deswegen hatte ich es ja ausgeschaltet, dachte Visconti. »Der bekommt noch einen Herzinfarkt«, sagte er laut.
»Nimm das nicht so auf die leichte Schulter, Fabio.«
»Hör zu, Marisa. Vor siebzehn Jahren gab es hier in Heiligenbrück einen Mord, und Jan Herzog, der Bruder der ermordeten jungen Frau, hat den Geldkoffer gekauft, der im Haus des Killers Sciutto in Rom gefunden wurde.«
Marisa atmete hörbar ein. »Also ist dieser Jan Herzog möglicherweise einer von Sciuttos Auftraggebern.«
Visconti schwieg.
»Fabio? Bist du noch dran? Was ist los?«
»Ich sage dir jetzt, wie sich mir die Verbindung zwischen den Morden in Rom und dem Mord hier in Heiligenbrück erschließt, Marisa. Aber du wirst mir das nicht glauben.«
»Versuch es.«
»Vor siebzehn Jahren wurde hier in Heiligenbrück in der Nähe von Kloster Falzberg eine junge Frau ermordet. Der Täter soll ein Klosterschüler sein, David Brunn, damals neunzehn Jahre alt. Zu seiner Verurteilung kam es allerdings nur, weil ein Mönch geschworen hat, den Mord mit eigenen Augen gesehen zu haben, Pater Jerome Chevalier.«
»Was hat das mit unseren Morden zu tun?«
»Was, wenn dieser Mönch gelogen hätte, Marisa, vielleicht um jemanden zu schützen, den wahren Mörder?«
»Sich selbst, weil er der Mörder ist?«
»Wohl kaum. Wo wäre dann die Verbindung zu unseren Morden in Rom? Aber was, wenn er stattdessen versucht hat, eine ranghohe Persönlichkeit zu schützen? Es gibt nur einen, von dem ich erfahren habe, dass er zur damaligen Zeit oft hier in Heiligenbrück war, Marisa. Das ist der Papst, damals noch ein deutscher Bischof.«
»Das ist absurd.«
»Ich sagte ja, du würdest mir nicht glauben, Marisa.«
»Wenn da etwas dran wäre, wäre das ein Faustschlag in das Gesicht der Kirche, eine Bombe, von der sie sich kaum erholen würde.«
»Was, wenn Jan Herzog, der Bruder der ermordeten Frau, in Rom ist und Vergeltung am Papst üben will, Marisa? Was, wenn er ihn für den Mörder seiner Schwester …«
»Alles wilde Spekulation. Das ist mir zu wenig. Ich will noch mehr wissen. Außerdem ist es keine Erklärung für die Morde an Kardinal Dominguez, Costa, Martinez und die Entführung von Gutenberg.«
»Es gibt noch einen Hinweis auf eine Verbindung der Mordfälle, Marisa. Marie Herzog trug eine Halskette mit einem goldenen Rosenkreuz.«