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Die Nacht löschte die Lichter in Rom, als die Menschen sich nach und nach zur Ruhe begaben.

Der Zeiger der Wanduhr im Büro von Bariellos Chef Edoardo Graziano im Polizeirevier der Polizia di Stato sprang in diesem Augenblick auf Punkt Mitternacht.

Die Ader an Grazianos Schläfe pochte. »Sie fliegen, Visconti.«

Im Licht der Tischlampe hinter seinem Schreibtisch stehend und die Hände darauf gestützt, hatte Edoardo Grazianos massiger Körper etwas Monströses.

Leicht nach vorne gebeugt war er mit dem jungen Ispettore Fabio Visconti, der vor dem Schreibtisch stand, auf gleicher Augenhöhe.

»Aber die Ermittlungen hier, Boss.«

Die Ader an Grazianos Schläfe schwoll gefährlich an. »Habe ich hier das Sagen oder Sie?«

»Wir sind diesem Zeitungsverleger Emanuele Martino auf der Spur, Boss. Es gibt einen Hinweis, dass …«

»Das überlassen Sie den Kollegen, Ispettore. Sie fliegen nach Deutschland.« Grazianos Mundwinkel zuckten; sein Doppelkinn schwabbelte; Schweiß schimmerte über seiner Oberlippe. »Oder soll ich Sie beurlauben wie Bariello? Wie würde sich das wohl auf Ihre Karriere auswirken? So unwichtig, wie Sie denken, sind die Ermittlungen in Deutschland gar nicht. Es geht um einen Geldkoffer, der im Haus des Auftragskillers Sciutto gefunden wurde. Ein paar Bündel mit Geldscheinen waren noch darin.«

Visconti atmete hörbar ein. »Die Bezahlung von Sciuttos Auftraggebern für die Kardinalsmorde.«

Graziano nickte. »Das ist anzunehmen. Der braune Lederkoffer wurde in Deutschland hergestellt, in einem Dorf namens Heiligenbrück. Eine Handarbeit von einer kleinen Firma. Das Markenlabel ist auf dem Innenbezug des Koffers aufgenäht. Die Firma vertreibt ihre Waren auch im Internet. Allerdings wurden Koffer in der Art wie dieser bisher nur direkt in Deutschland in dem Ladengeschäft verkauft. Das wurde uns telefonisch bestätigt.«

Visconti strich sich durch das dichte dunkle Haar. »Sciuttos Auftraggeber könnte also aus Deutschland kommen.«

Graziano nickte. »Verstehen Sie jetzt, warum Sie dort hinfliegen sollen? Ihre Mutter ist Deutsche. Sie sind der Einzige hier, der fließend Deutsch kann, außer Commissaria Marisa Capecci. Aber die ist in Rom unabkömmlich. Hier.« Er reichte Ispettore Visconti eine dünne Akte. »Darin finden Sie alles, was Sie darüber wissen müssen.«

»Dazu fällt mir noch etwas ein.«

»Was?« Graziano hob die Augenbrauen.

»Die Wurzeln des Papstes liegen ebenfalls in Deutschland, Geburtsort Lübeck, und Gleiches gilt für Kardinal Gutenberg, Geburtsort Köln. Vielleicht hat …«

»Umso sinnvoller, dass Sie nach Deutschland reisen.«

»Wann soll ich fliegen?«

»Sofort. Und falls Sie Schlaf benötigen, dann im Flugzeug.« Grazianos Augen blitzten, als er sich zu Visconti vorbeugte. »Und wagen Sie ja nicht, irgendwas zu vermasseln. Sie halten mich regelmäßig auf dem Laufenden.«

Der Bürostuhl knarrte, als er sein massiges Gewicht darauf fallen ließ.

»Statt herumzunörgeln, sollten Sie mir lieber dankbar sein für das Vertrauen, das ich in Sie setze, Ispettore Visconti. Und die Ermittlungen gegen diesen Zeitungsverleger Emanuele Martino überlassen Sie den anderen.« Er griff zum Hörer, als das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. »Ja, Graziano hier? Eine Sekunde, Marisa, ich … Was? Bariello? Was ist mit ihm? Wie bitte?«

Fabio Visconti hatte Graziano nie zuvor derart erbleichen sehen.

*

Anfangs war es nur ein Klopfen.

Emanuele Martino, der Zeitungsverleger der La Piccola Gazzetta di Roma, ignorierte es.

Regungslos saß er an seinem Schreibtisch in seinem Haus in der Via del Belvedere Montello in Rom.

Die Cognacflasche starrte ihn an, und er starrte zurück. Alles im Arsch, Mann. Deine Zeitung ist pleite. Du bist pleite. Begreif es endlich.

Die Fensterläden hinter ihm am Fenster seines Arbeitszimmers waren zugeklappt. Er wollte niemanden sehen, nicht einmal Fußgänger, die an seinem Haus vorbeigingen.

Seine Zigarre verglühte in dem Aschenbecher auf dem Schreibtisch.

Das Klopfen wurde lauter.

Sie kommen.

Welche Rolle spielte das noch? Seine Frau hatte ihn verlassen, und sein Zeitungsverlag war am Ende, endgültig. Die heutige Steigerung der Auflage wegen der Morde in Rom konnte da auch nichts mehr retten.

Den Spiegel im Flur hatte er gemieden, bevor er an diesem Abend sein Arbeitszimmer betreten hatte. Was sollte er darin auch entdecken außer den Scherben seiner selbst? Der Cognac brannte in seiner Kehle. Er benutzte kein Glas. Wozu auch?

Mechanisch setzte er die Flasche an den Hals. Die bräunliche Flüssigkeit lief ihm über Kinn und Hals auf sein weißes Hemd und schwappte aus der Flasche, als er sie mit Wucht auf den Schreibtisch stellte.

Verflucht! Der Gedanke an seine Mitarbeiter, denen er immer noch nicht gesagt hatte, dass sie bald arbeitslos sein würden, versetzte ihm einen Stich, besonders der Gedanke an Rebecca.

Er lächelte zynisch. Nur eines war ihm noch gelungen, nämlich die Kopien der beiden erpresserischen Briefe, die der Vatikan gestern erhalten hatte, zu veröffentlichen. Ein Seitenhieb gegen diese selbstherrliche Institution, der passender nicht hätte sein können.

Es war kein Klopfen mehr. Jetzt schlugen sie die Haustür ein. Sie würden ihn holen.

Sollen sie doch.

Er lehnte sich zurück und atmete tief durch.

So wie es jetzt war, die Fensterläden geschlossen, diffuses Licht, das alles erweckte ein vertrautes Gefühl. Das war der Spiegel seiner Kindheit. So war es oft gewesen. So hatte er die Stunden mit seinem Vater verbracht, der nicht sein Vater sein durfte; sein Vater, der römisch-katholische Priester.

»Du darfst das niemals jemandem sagen, hörst du, Emanuele?« Noch heute konnte er sich erinnern, wie sein Vater beschwörend den Zeigefinger auf den Mund gelegt hatte, als er das gesagt hatte, als sie hier zusammengesessen waren, hier in diesem Zimmer, dem damaligen Wohnzimmer. Natürlich waren die Fensterläden geschlossen gewesen.

»Wenn es jemand erfährt, kann ich nicht mehr zu euch kommen«, hatte sein Vater gesagt. »Das ist unser kleines Geheimnis. Jeder Junge in deinem Alter möchte doch ein Geheimnis haben, nicht wahr?«

Dabei hatte sein Vater gelächelt, und Emanuele hatte ebenfalls gelächelt, weil das seinen Vater glücklich gemacht hatte, obwohl er es gehasst hatte, dass sein Vater ein Geheimnis war und es ihn sogar als Teenager noch verwirrt hatte.

Warum durften katholische Priester keine Kinder haben? Warum durfte sein Vater für so viele Menschen da sein, nur für ihn nicht und wenn, dann heimlich?

Andere Kinder hatten Väter, die sie von der Schule abholten, die mit den Lehrern sprachen, wenn es Probleme gab. Nur er hatte stets gestottert und gestammelt, wenn ihn jemand nach seinem Vater gefragt hatte.

Und dann war der Tag gekommen, an dem er seinen Vater zum letzten Mal gesehen hatte.

»Aber ich kann doch nichts dafür«, sagte die verzweifelte Stimme seiner Mutter in seiner Erinnerung, während er die Cognacflasche wieder an den Hals setzte, »und der Junge auch nicht.«

Damals hatte er an der Zimmertür gelauscht.

»Sie haben es herausgefunden, Carla«, sagte die Stimme seines Vaters. »Ich werde woandershin versetzt, weit weg von hier. Finanziell werde ich euch aber weiterhin unterstützen, soweit es geht.«

»Aber der Junge braucht dich doch.«

Die nächsten Sätze seines Vaters würde Martino nie vergessen. »Der Junge dürfte gar nicht existieren. In den Augen der Kirche ist er Sünde, und trotzdem liebe ich ihn. Aber bleiben kann ich nicht, Carla. Sie würden mir meine Existenz nehmen. Wovon sollen wir denn leben? Ich bin Priester. Ich habe nichts anderes gelernt. Es tut mir leid.« Und dann war er gegangen, für immer.

Dafür hatte er seinen Vater gehasst, und sich selbst nicht weniger. Du bist Sünde, Emanuele. In den Augen der Kirche dürftest du nicht existieren. Gottes Kirche will dich nicht. Gott will dich nicht. Natürlich hatte sich als Erwachsener alles relativiert, aber Spuren davon waren geblieben, bis heute.

Er hörte sie kommen, durch den Flur.

Zwei bewaffnete Polizisten in Uniform stürmten durch die Tür seines Arbeitszimmers. Als sie sahen, dass er unbewaffnet war, gab einer ein Zeichen und ein Mann in Zivil betrat den Raum.

»Ispettore Tony Cortese, Polizia di Stato.« Er zückte seinen Polizeiausweis. »Emanuele Martino, Sie sind verhaftet.

»Weswegen?« Martinos Lächeln war alkoholtrunken.

Tony Corteses Miene war unbewegt. »Wegen des Verdachtes der Mittäterschaft an der Ermordung von Kardinal Dominguez, Kardinal Costa und Kardinal Martinez. Sie haben das Recht zu schweigen und auf einen Anwalt.«

»Lächerlich. Sie haben nichts gegen mich in der Hand.«

»Unsere Ermittlungen haben ergeben, dass Sie mit dem über Interpol gesuchten Auftragskiller Albuin Sciutto telefonischen Kontakt hatten.«

Emanuele Martino schwankte leicht, als er aufstand. »Dieser Kerl hat mit unterdrückter Nummer angerufen und mir gesagt, wo die Kopien der Briefe …« Die Handschellen klickten, als sie sich um seine Handgelenke schlossen. »Hören Sie, Ispettore, ich …«

»Alles Weitere auf dem Revier, Martino.«

Niemand sah den Mann, der sich draußen hinter der Hausecke von Martinos Haus versteckte, als die Beamten mit Emanuele Martino das Haus verließen.

Major Joel Born warf einen Blick um die Ecke, sah die Polizisten und Martino und schnellte zurück.

Sein rechtes Bein knickte ein. Der Schmerz von der Schusswunde, die ihm dieser kleine Mann mit der Halbglatze auf der Anhöhe aus Wiesen und Sträuchern zugefügt hatte, raste durch seinen Körper.

Erst im Nachhinein hatte er sich erinnert, das Gesicht dieses Mannes heute in einer Zeitung bereits gesehen zu haben; Carlo Bariello, leitender Commissario in den Fällen der Kardinalsmorde in Rom.

Dieser Mann hatte ihn daran gehindert, Kardinal Gutenberg zu erschießen. Dafür habe ich dich kalt gemacht, Commissario. Du verhinderst nicht, dass wir es zu Ende bringen. Viele Jahre lang, seit er Deutschland verlassen hatte, hatte er darauf gewartet und niemand würde ihm das nehmen. Niemand!

Gutenberg. Wenn er noch lebt, kann er mich identifizieren.

Verdammt! Die Kugel in seinem Bein musste raus.

Erneut warf er einen Blick um die Hausecke. Unklar, ob dieser kirchenhassende Verleger der La Piccola Gazzetta di Roma ihm freiwillig Zuflucht gewährt hätte.

Allerdings hatte sich das erübrigt. Denn in dieser Sekunde wurde Martino in einen Streifenwagen gesetzt.

Born wartete, bis die Wagen der Polizia di Stato sich entfernt hatten, bis es still war, er nur noch seinen eigenen Atem hörte. Die Straße war leer und Martinos Haus dunkel. Hier konnte er die Nacht verbringen.