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In Deutschland fand sich Lena im gleichen Augenblick auf einem Bahnsteig des Berliner Hauptbahnhofs wieder. Es hatte aufgehört zu regnen, und die Mittagssonne wagte einen Blick durch ein Loch in der grauschwarzen Wolkendecke.
Lenas Magen ließ ein leises Knurren hören.
Im Zug würde sie etwas essen können.
Eine Diskussion mit ihrem Chef beim Landeskriminalamt Berlin hatte sich erübrigt. Ihrer Bitte um Urlaub war er mit den Worten »Sie sehen aus, als könnten Sie Urlaub gebrauchen.« sofort nachgekommen. »Und schlafen Sie sich mal richtig aus, Lena.«
Ratternd fuhr der Zug in den Bahnhof ein und kam quietschend zum Stehen, während die Menschen auf dem Bahnsteig nach ihren Taschen und Koffern griffen und die Waggons ansteuerten. Eine pummelige Frau mittleren Alters mit einem Dackel auf dem Arm drängelte sich an den aussteigenden Passagieren vorbei zur Waggontür.
Lena zögerte. Bist du verrückt? Was tust du hier?
Sie war dem Foto eines goldenen Kreuzes mit einer Rose gefolgt, abgebildet im Online-Nachrichtenticker bei Google. Das Kreuz war bei einer Leiche in Rom gefunden worden, und es hatte sie hierhin geführt wie an einem unsichtbaren Faden, zwang sie an einen Ort zurückzukehren, der …
Die Frau mit dem Dackel steckte den Kopf aus dem Waggonfenster. Ihr Blick blieb an Lena haften. »Warten Sie auf jemanden? Ist er nicht gekommen?« Ihre Mundwinkel zuckten. »Also, dem würde ich keine Träne nachweinen.«
Das tat Lena auch nicht mehr. Marc hatte sie vor zwei Wochen einfach sitzenlassen, war ohne viele Worte einfach ausgezogen, und Schmerz, Wut, Verzweiflung und ihr angeknackstes Selbstwertgefühl hatten sie viele Tränen gekostet, sie am Schlafen und Essen gehindert. Wie ein Tier war sie, wenn sie freihatte, durch ihre Wohnung getigert oder aus ihr geflüchtet und blindlings durch Berlins Straßen gelaufen, aber jetzt …
Sie schenkte dem stark geschminkten Gesicht, unter dem die spitze hechelnde Schnauze des Dackels zu sehen war, ein Lächeln. »Nein. So ist es nicht. Ich erwarte niemanden.«
Die Frau erwiderte das Lächeln. »Na dann. Wenn Sie noch mitfahren wollen …«
Lena fröstelte, als sie in den Zug stieg.
»Hier rein.« Die Dackelfrau winkte sie in ihr Abteil. »Urlaub?« Die Frau setzte den Dackel auf den Boden, während Lena ihre Reisetasche auf der Ablage über ihr verstaute.
»Nein, heim.« Lena fröstelte wieder, als sie sich setzte. »Ich fahre heim.« Sofern man einen Ort, an dem man siebzehn Jahre nicht gewesen war, noch als Heimat bezeichnen konnte.
»Ich heiße Beate Hoffmann und …«
»Was ist?« Der erstaunte Blick entging Lena nicht, als Beate Hoffmann sich rechts neben sie setzte. Hastig knöpfte sie ihr dunkelblaues Damenjackett zu, um das Waffenhalfter zu verdecken. Natürlich hätte sie ihre Dienstwaffe zuhause lassen müssen. Aber sie hatte es nicht über sich gebracht.
»Ist die geladen? Hab ich etwas zu befürchten?« Beate Hoffmann nahm es offenbar mit Humor.
Entschlossen hielt Lena ihr die Hand hin. »Lena Meissner, Landeskriminalamt Berlin.« Ihr Lächeln war herzlich. »Außer Dienst, falls Sie keinen Mord begangen haben.«