29
Zur gleichen Zeit schwebten in Deutschland Nebelschwaden durch den Kiefernwald hinter Kloster Falzberg.
Der Hunger war unsäglich, und die Erschöpfung trotz ein paar Stunden Schlaf machte Lenas Körper schwer wie Blei, während sie mit Amelie durch den Wald Richtung Küste lief. Zusammengekauert in einer Grotte hatten sie gemeinsam die kalte Nacht im Wald überstanden.
Amelie hatte sich am Abend zuvor vor dem Pistolenschuss erschreckt, der sich gelöst hatte, als David und Josua hinter dem Kloster miteinander gekämpft hatten, und war in das riesige Gebiet aus Kiefernwald gelaufen, und Lena war ihr gefolgt wie ein Reh seinem Kitz. Wenigstens war Amelie trotz ihres Sturzes den Abhang hinunter abgesehen von ein paar Schrammen unverletzt.
David, dachte Lena. Er war plötzlich da gewesen, nachdem sie aus dem Klosterkeller hatte entkommen können. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er sie während der Nacht im Wald suchen würde, gemeinsam mit der Polizei.
Sie orientierte sich am Stand der Sonne über den Wipfeln der Kiefern. Die Küste lag im Norden.
Vor ihnen war plötzlich eine Lichtung.
Die Wärme der Sonne tat gut, als sie aus dem Wald hinaustraten. Ein Kaninchen verschwand in seinem Erdloch, und aus dem hellgrünen Frühlingsgras drang das schrille Piepsen von Vögeln.
»Nicht, Amelie!«
Lena konnte nicht verhindern, dass Amelie in die sonnenhelle Lichtung hinauslief. Übermütig wie ein Fohlen hüpfte sie über das feuchte Gras, das Gesicht dem Himmel entgegenhaltend.
Ihre Stimme, als sie mit ausgebreiteten Armen umherwirbelnd eine Melodie summte, klang angenehm warm, ihr Lachen, als zwei Vögel aufgeschreckt davonflogen, umso schriller.
Lena bekam sie am Arm zu fassen, verlor sie aber gleich wieder. »Amelie, hör auf! Bleib hier! Hör auf damit! Na, gut. Wenn du es so willst. Wenn du nicht mitkommst, geh ich eben allein weiter.«
Erst, als sie den Waldrand auf der anderen Seite der Lichtung erreichte, sah Lena Amelies zarte Gestalt neben sich auftauchen und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »So, du hast dich also doch entschlossen mitzukommen. Jetzt sei aber leise, ja? Wir müssen aus dem Wald herausfinden und die Polizei rufen.«
Augenblicklich sackten Amelies Mundwinkel ab, und sie presste die Puppe an sich. Das rötliche Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie heftig den Kopf schüttelte. »Hn-nein. Josch.«
»Ja, ich weiß. Josua ist dein Freund.«
Ein Lächeln huschte über Amelies Gesicht. »Josch.«
Kein Vogel zwitscherte mehr, als sie den Wald auf der anderen Seite der Lichtung betraten, und Lena beschlich ein ungutes Gefühl.
Die wehenden Wipfel der Kiefern ließen Sonnenkegel auf dem Boden tanzen. Die Tannennadeln knirschten unter ihren Füßen.
Lena blieb stehen. Da war ein Knacken. Noch ein Knacken. Ihr Puls fing an zu rasen.
»Wir machen ein Spiel, ja, Amelie? Du kannst doch schnell rennen. Sieh mal, da vorn ist der Wald zu Ende. Wir spielen, wer schneller ist, du oder ich.«
Eine steile Falte bildete sich zwischen Amelies Augenbrauen. Den Kopf schief haltend drückte sie ihre Puppe an die Brust. »Hnnn-rennen?«
»Ja. Ganz, ganz schnell.«
Amelies breitlächelnder Mund bedeutete, dass sie verstanden hatte. Wieselflink huschte sie über das Moos.
Das Rauschen des Meeres drang in Lenas Bewusstsein, als sie Amelie einen steilen Hang hinabfolgte.
Vom Rande ihres Blickfeldes sah sie plötzlich katzenhaft schnell einen Schatten herannahen, fühlte das Gewicht eines harten Körpers gegen sich prallen, hörte ihr eigenes Aufstöhnen, als sie den Halt verlor, als sie hinfiel, als ein stechender Schmerz durch ihre rechte Schulter jagte.
Die Wipfel der Kiefern über ihr drehten sich, während sie, sich die Arme aufschrammend, den Hang hinunterrollte und benommen auf dem Bauch liegenblieb.
Zwei kräftige Hände drückten ihr das Gesicht in den Dreck und drehten ihr die Arme auf den Rücken. Neben ihr war ein Knacken, ein schweres Atmen. Jemand presste ihre Schultern zu Boden, während ein anderer ihre Hände auf dem Rücken fesselte.
»Hnnn-nicht, Josch. Nicht.« Das war Amelies Stimme.
Josuas Gesicht war vor Anstrengung verzerrt, als er Lena auf den Rücken drehte und anblickte.
Neben ihm stand der hagere Ordensbruder, dem sie gestern im Kerker des Klosterkellers begegnet war, der dort aufgetaucht war, bevor sie diesem Pater Nathan hatte entkommen können.
Licht und Schatten spielten mit seinen kantigen Gesichtszügen. Das silberne Kreuz auf seiner Brust schimmerte.
Pater Jerome! Lena starrte ihn an.
Sie kannte diesen Mann, und das nicht allein von ihrer Begegnung gestern im Keller.
Aber es war nur eine blasse Erinnerung, ein Fetzen, den ihr Unterbewusstsein an die Oberfläche gespült hatte.
*
Minuten später stand Pater Nathan in einem Säulengang des unbewohnten Traktes von Kloster Falzberg und wartete.
Das Zwitschern der Vögel in dem verwilderten Garten drang kaum in sein Bewusstsein.
Er war Josua und Pater Jerome in den Wald gefolgt und hatte beobachtet, dass sie Lena überwältigt hatten. Jerome wird sie hierhin bringen.
Sie würden kommen, und er wartete.
»Sie ist rein«, sagte sein Vater.
Die Stimme hämmerte in seinem Schädel.
Sein Vater war seit mehr als zwanzig Jahren tot.
»Ja, sie ist rein, Vater.«
»Sie ist vollkommen, mein Sohn.«
»Ja, sie ist vollkommen, Vater.«
Fast fünfzig Jahre war es jetzt her, dass diese Worte gefallen waren, Abend für Abend, wie ein Gebet, aber für ihn waren sie in jedem Augenblick gegenwärtig –
»Sie ist rein, Nathan. Frei von Sünde.«
»Ja, das ist sie, Vater.«
»Was wirst du tun, mein Sohn?«
Der Vater sitzt neben dem zwölfjährigen schmächtigen Jungen auf dem Bettrand, versilbert durch das Mondlicht, das durch das gardinenlose Fenster fällt, und der Junge blickt zu ihm auf in das scharf geschnittene, ihm so vertraute Gesicht, dem einzigen vertrauten Gesicht, denn der Vater duldet nicht, dass er Freunde hat.
Die feingliederige Hand des Vaters auf seinem zarten Arm ist warm, der Alkoholgestank, der aus dem Mund des Vaters strömt, abstoßend. »Also, was wirst du tun, mein Sohn?«
»Ich werde zu ihr beten, Vater.«
Nathans Blick gleitet zu der Kommode am Fußende seines Bettes. Die Statue der Madonna darauf ist ebenso vom Mondlicht versilbert wie sein Vater.
»Sie wird dich nicht verlassen, Nathan, wie deine Mutter es getan hat. Sie wird dich niemals verlassen. Sie ist rein.«
»Ja, sie ist rein. Aber … aber Mama wollte mich doch auch nicht verlassen! Du hast sie hinausgeworfen. Hure, billiges Miststück hast du sie genannt.«
Die Worte sprudeln aus Nathan hinaus, auch wenn er die Folgen kennt. Denn die warme Stimme seiner Mutter ist in seinen Gedanken, jetzt und immer, jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde, seit damals, als sie gegangen ist. »Ich will dich nicht verlassen, Nathan«, sagt sie. »Ich liebe dich. Hörst du? Aber dein Vater kontrolliert mich tagein, tagaus.« Blut tropft von ihren zerschlagenen Lippen.
»Doch, sie wollte dich verlassen, Nathan.«
»Nein, das wollte sie nicht.«
Der erwartete Schlag lässt Nathan auf dem Bett erstarren.
Die Augen des Vaters sind dunkel. Lange betrachtet er Nathans Gesicht mit einer Traurigkeit, so unendlich, als würde er in einen bodenlosen Abgrund schauen.
»Du machst mir keine Freude, mein Sohn.«
»Doch, Vater.«
»Du denkst, ich will dir wehtun, wenn ich sage, dass die Hure, die sich deine Mutter nennt, nicht mehr kommt. Aber ich will dir nur eine Enttäuschung ersparen. Menschen, die man liebt, enttäuschen einen immer. Das wird dich das Leben lehren. Nur der Glaube macht uns stark. Ich war haltlos, bevor ich zum Glauben gefunden habe. Der Glaube ist ein Geschenk. Und dieses Geschenk will ich dir machen. Begreifst du das?«
»Ja, Vater.«
»Und warum bist du dann nicht dankbar?«
»Ich bin dankbar.«
»Warum willst du mich dann verlassen?«
»Ich will dich nicht verlassen, Vater.«
»Du bist wie sie, wie deine Mutter. Du hast die gleichen Augen. Du bist voller Sünde wie sie. Sag es.«
»Ja, ich bin voller Sünde. Nein, das bin ich nicht! Und sie wird kommen! Sie wird mich holen!«
Der Schlag ins Gesicht ist so brutal, dass Nathan glaubt, ohnmächtig zu werden.
Ein paar Tage danach war Nathan nach der Schule abgehauen, bevor sein Vater ihn wie immer dort hatte abholen können.
Voller Erwartung war er zu der Adresse seiner Mutter gelaufen (irgendwo zwischen den Papieren seines Vaters hatte er die Adresse gefunden), hatte vor dem Zweifamilienhaus gestanden, sich nicht überwinden können zu klingeln, sich deshalb hinter der Ecke eines Hauses gegenüber versteckt, gewartet, sehnsüchtig, voller Hoffnung, dass seine Mutter irgendwann das Haus verlassen, ihn sehen und glücklich in die Arme schließen würde, dass er ihre Wärme spüren, ihren vertrauten Geruch atmen würde.
Und sie war gekommen.
Und sie hatte glücklich ausgesehen.
Aber nicht wegen Nathan.
Nicht weil ihr Junge zu ihr gekommen war.
Ihr fröhliches Lachen hatte dem neuen Mann an ihrer Seite gegolten, mit dem sie das Haus verlassen hatte, und das Lächeln des Mannes an ihrer Seite hatte ihrem Bauch gegolten, der so rund wie eine Kugel gewesen war.
Ohne nachzudenken, war Nathan zu seiner Mutter über die Straße gerannt. »Du Hure! Ich hasse dich!«
Dann war er davongelaufen.
Der Glaube macht stark. Es tut nicht weh. Kein bisschen.
Das Flattern einer Amsel in dem verwilderten Klostergarten riss Pater Nathan Emanuel Lindenburg aus seinen Erinnerungen.
Eigentlich müssten sie längst hier sein.
Was, wenn Lena Pater Jerome überzeugt hatte, sie gehen zu lassen?
Seine Gedanken glitten zu Amelie.
Äußerlich war sie so rein wie Schnee.
Doch Schnee bedeckt dunkle Erde.
Schweiß trat auf seine Stirn. Du sollst nicht töten.
Aber welche Wahl hatte er denn?
Du bist der eingeborene Sohn, o Herr, und die Mächte der Unterwelt werden deine Kirche nicht überwinden.
*
Eine Viertelstunde später bohrte sich Amelies verzweifeltes Flehen in Lenas Hirn, als Pater Nathan die geistig behinderte Frau in dem unbewohnten Klostertrakt durch den Säulengang mit sich zerrte.
»Hnnnn-Josch, nicht weggehen!« Amelie weinte und kämpfte mit aller Kraft gegen Pater Nathans Griff. »Hnnn-Josch! Josch!«
Ihr Flehen war wie die Schreie eines Jungtieres, das dem Wesen, das es liebte, entrissen worden war.
Denn Josua war gegangen, wohin auch immer, nachdem er Amelie und Lena zusammen mit Pater Jerome durch den Wald hierhin gebracht hatte.
Amelie hatte sich an ihn geklammert, bettelnd und weinend gefleht, dass er nicht gehen möge. »Hnnn-nicht weggehen, Josch«, und Josua hatte sie klammern lassen, hatte ihr über das Haar gestrichen. »Schon morgen bin ich ja wieder da.«
Dann hatte er sie von sich gedrückt und ihr in die Augen geschaut. »Und dann bleiben wir für immer zusammen, ja?« Danach war er gegangen.
»Josch! Josch zurückkommen!«
Lena sah, wie Amelies Puppe auf den Steinboden fiel, getreten, zermalmt in dem Gefecht von Pater Nathans und Amelies Füßen. »L-Lena! Hnnnn-Josch! Josch zurückkommen!«
»Lassen Sie sie los!« Lena bebte vor Zorn über ihre Machtlosigkeit. Wären ihre Hände nicht auf dem Rücken gefesselt gewesen …
»Sperr Amelie da links in den Raum, Nathan«, sagte Pater Jerome. »Sie muss sich beruhigen.«
»Hör auf damit, Amelie!« Pater Nathan stieß mit dem Fuß eine dunkle Eichentür vor ihnen auf.
»Josch! Josch kommen!«
Die Kraft, die Amelie aufbrachte, um sich zu befreien, hatte etwas von jemandem, der um sein Leben kämpft.
Mit Armen und Beinen stemmte sie sich gegen den Türrahmen, als Nathan sie durch die Öffnung schieben wollte, wand sich wie eine Katze und biss ihm in den Arm.
»Verdammt!« Pater Nathan ließ sie los, und Lena sah sie auf sich zu rennen, fühlte die Wärme ihrer Umarmung. Doch im nächsten Augenblick wurde ihr Amelie entrissen.
Patsch. Der Schlag in Amelies Gesicht war brutal, unerwartet und schleuderte Amelie gegen die Wand. Blut spritzte aus ihrer Nase, während sie wimmernd und mit den Armen ihren Kopf schützend an der Wand entlang auf die Knie sank.
»Bist irre, Nathan?« Pater Jerome beugte sich zu Amelie hinab. Amelie krümmte sich und fing an zu weinen.
»Sie hat mich gebissen, Jerome.«
Pater Jerome ging auf ihn zu. »Das ist kein Grund, sie zu schlagen. Es reicht, Nathan. Ich habe mir das lange genug angesehen. Seit Abt Daniel tot ist …«
»Abt Daniel war ein Mann, vor dem man Respekt haben konnte, ein Mann, der den Glauben vermittelt hat. Du hingegen …«
»Du bist krank, Nathan. Abt Daniel wusste das, aber er hatte dich im Griff. Mir zollst du leider keinen Respekt als Abt. Das hat jetzt ein Ende. Ich werde dein Verhalten der Diözese melden, und jeder unserer Mitbrüder wird meine Aussage bestätigen. Damit bist du raus.«
»Das kannst du nicht …«
»Wer sollte mich daran hindern?«
Amelie wehrte sich nicht, als Pater Jerome sie auf die Füße zog. Aus dem Ärmel seiner Kutte zauberte er ein Taschentuch und reichte es ihr.
Sie zuckte zurück, als er ihre blutige Nase betastete. »Gebrochen scheint nichts zu sein, Amelie. Drück dir das Taschentuch auf die Nase. Dann wird es besser.«
Lena wunderte sich über die Zärtlichkeit in seiner Stimme.
»Hör zu, Amelie.« Pater Jerome streichelte liebevoll Amelies Wange. »Du weißt, dass du hierbleiben musst, bis du dich beruhigt hast. Sonst erschreckst du unsere Klosterschüler. Jetzt sei lieb und geh in den Raum. Ich bring dir nachher etwas zu essen und zu trinken und dann schläfst du ein bisschen. Josua kommt schon morgen wieder und dann bleibt ihr zusammen.«
»Hnnn-Josch.« Ein Lächeln huschte über Amelies tränennasses geschundenes Gesicht. Sie wehrte sich nicht, als Pater Jerome sie sanft durch die Tür schubste, die Pater Nathan zuvor aufgestoßen hatte.
Der Knall, als er die Tür schloss, bevor er den eisernen Riegel davor schob, ließ Lena zusammenzucken.
Pater Nathan stand reglos da. »Das kannst du nicht machen, Jerome. Du nimmst mir alles. Das … Wir müssen darüber reden. Ich werde mich ändern.«
»Du kannst dich nicht ändern. Wir wollen die Schüler hier im Sinne des Evangeliums unterrichten und ihnen nicht deinen surrealen Gotteswahn vermitteln, Nathan. Du wirst Kloster Falzberg verlassen. Alles Weitere liegt im Ermessen des Bischofs.«
Da war kein Zorn, kein Hass, nur Leere in dem Blick des Mannes, der Amelie soeben noch ins Gesicht geschlagen hatte, so als hätte Pater Jerome seine innere Flamme erstickt.
Einen Augenblick hingen die Blicke der beiden Mönche ineinander. »Das Kloster ist mein Leben, Jerome. Sonst ist da nichts, gar nichts.«
»Die Entscheidung steht. Endgültig.«
Schweigend wandte Pater Nathan sich ab.
Blut tropfte aus dem Ärmel seiner Kutte, wo Amelie ihn gebissen hatte, während er durch den Gang davonging.
Pater Jerome packte Lena am Arm.
Lena riss sich los. »Fassen Sie mich nicht an! Wäre ich nicht gefesselt, dann …«
»Was dann?«
»Warum halten Sie mich hier fest, verdammt?«
»Jetzt tu doch nicht so, als ob du dich immer noch nicht erinnerst.«
»Nein, Mann!«
»Du lügst.« Pater Jerome packte Lena am Arm, zog sie nach links den Gang entlang und blieb vor einer der schweren Eichentüren stehen.
Sie riss sich los. »Das werden Sie bereuen.«
»Wie sollte ich?« Er lächelte. »Du bist unbefugt in unser Kloster eingedrungen und David hat sich beteiligt.«
»Es gibt Zeugen. Amelie kann nicht lügen.«
»Sie wird nicht mehr hier sein.«
»Dieser Pater Nathan …«
»Der ist jetzt Wachs in meinen Händen.« Er lächelte wieder. »Er soll ruhig ein bisschen zappeln.«
»Das heißt, Sie wollen ihn gar nicht …?«
Die Eichentür, vor der sie standen, knarrte, als Pater Jerome sie öffnete und Lena durch den Spalt schubste.
Der Knall, als er die Tür hinter ihr zuschlug, ließ sie zu der Tür zurückwirbeln. Doch auf der Stelle drehte sie sich wieder um und starrte auf die beiden Menschen vor ihren Füßen auf dem Boden.
Durch ein kleines vergittertes Sprossenfenster gegenüber von ihr drang Licht in den unmöblierten Raum.
Ein Ordensbruder, den sie nicht kannte, lag links von ihren Füßen ausgestreckt auf dem kalten Steinboden.
Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht war wächsern, sein Atem flach. In seiner dunklen Kutte zeichnete sich ein Fleck ab. Ein Hauch von Ammoniakgeruch hing in der Luft. Offenbar hatte der Mann sich eingenässt.
»Bin ich froh, Sie zu sehen, Lena.«
Der zweite menschliche Körper auf dem Boden war David. Er lehnte rücklings an der Mauer neben dem Fenster.
»Allerdings hatte ich gehofft, Sie kämen mit Verstärkung, Lena, vielleicht mit ein paar ihrer Polizeikollegen und nicht mit auf dem Rücken gefesselten Händen.«
Sein Gesicht war verdreckt, sein dunkles Haar zerzaust, seine Jacke zerrissen und seine Hände auf dem Rücken an ein Rohr gefesselt, das an der Wand entlang aus dem Boden bis in die Decke führte.
Lenas Blick glitt zurück zu dem Mönch. »Was ist mit dem Mann?«
»Betäubt, denke ich. Mit irgendwas, Chloroform vielleicht. Pater Maximilian liegt so da, seit die mich hier eingesperrt haben. Er wollte mir helfen, Sie zu finden, Lena.«
»Was ist passiert, David? Sie hatten die Waffe, als ich Amelie gestern Abend in den Wald gefolgt bin. Sie hatten die Sache im Griff.«
»Ein Schlag auf meinen Hinterkopf. Dann bin ich hier aufgewacht.«
Lena ließ sich an der Tür entlang zu Boden gleiten. »Sind Sie ernsthaft verletzt?«
»Mir brummt der Schädel. Und Sie?«
»Geht schon. Meine Schulter hat was abgekriegt. Seit gestern Abend sind Sie an das Rohr gefesselt?«
»Sozusagen. Naja, zweimal hat Josua die Güte besessen, mir Wasser zu geben und mich mein Bedürfnis verrichten zu lassen.« Er blickte zu einem mit einem Tuch abgedeckten Eimer in einer Ecke des Raumes.«
»Ich bin ziemlich froh, Sie lebendig zu sehen, David. Ich dachte schon …«
»Nur ziemlich?«
»Nein, eigentlich heilfroh.«
»Einfach so?« Seine Augen wurden dunkel.
»Wie bitte?«
»Sind Sie nur so froh, oder hat das was zu bedeuten?«
»Das ist wohl kaum der richtige Augenblick für so etwas.«
»Rutschen Sie zu mir.«
»Bitte?«
»Meine Fesseln. Ich hab sie halbwegs lösen können. Wenn Sie mir helfen, kann ich mich befreien.«
Der Strick, mit dem ihre Hände auf dem Rücken gefesselt waren, schnitt Lena in die Handgelenke, als sie zu David gerutscht war, sich mit dem Rücken zur Wand drehte und die Finger bewegte.
Um seine Fesseln zu erreichen, rutschte sie so nah wie möglich an David heran. Das Rohr war kalt, als ihre Finger es ertasteten, Davids Hände ebenso, als sie sie fand. Seine Schulter, an die sie sich lehnte, dagegen warm, eine Wärme, die ihr gut tat. Seine Fesseln ließen sich lösen.
»Das ist verrückt, David.« Sie spürte seinen Atem im Nacken, während er ihre Fesseln löste. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. »Ich bin sicher, dass das alles mit mir zu tun hat, aber ich habe keine Ahnung, wieso.«
Als sie frei war, rutschte sie zu Pater Maximilian, ertastete an seinem Handgelenk den Puls und tätschelte sein Gesicht. »Pater? Hören Sie mich?«
David stand auf und hantierte an dem von außen vergitterten Sprossenfenster. Es ließ sich nicht öffnen, nur im oberen Bereich auf Kipp stellen.
Lena stand ebenfalls auf, als der Mönch sich trotz ihrer Aufweckversuche nicht rührte, ging zu David und rief durch den schmalen Spalt um Hilfe.
»Das ist zwecklos, Lena. Hinter dem Fenster ist nur Kiefernwald.« David blickte zu der Eichentür. »Und die Tür ist so massiv …«
»Und von außen verriegelt.« Lena setzte sich unter das Fenster auf den kalten Steinboden. »Es muss mit mir zu tun haben. Mit dem, was damals geschehen ist.«
»An was erinnern Sie sich?« Davids Blick ruhte auf ihrem Gesicht, während sie sich die schmerzenden Handgelenke rieb.
»An wenig, David. Eigentlich an gar nichts. Es sind nur Albträume. Vor siebzehn Jahren hatte ich hier in Heiligenbrück einen Unfall mit dem Fahrrad. Was folgte, war ein monatelanges Koma. Damit muss es zu tun haben.«
David setzte sich vor ihr auf den Boden, sah sie an. »Sagt Ihnen der Name Marie Herzog etwas?«
»Ja, ich …« Lena runzelte die Stirn. »Marie Herzog. Sie war damals manchmal bei Magda auf dem Hof. Sie wohnte im Dorf, soweit ich mich erinnere. Aber …«
»Sie wurde ermordet. Sie wurde an dem Tag ermordet, als Sie Ihren Unfall hatten, Lena.« Davids Blick war hart, fragend, argwöhnisch, wurde kaum merklich weicher, als sie ihm standhielt. »Sie erinnern sich tatsächlich nicht daran.« Seine Finger waren noch immer kalt, als sie sich zögerlich um ihre Hand schlossen. »Ich habe das nie glauben wollen. Ich war überzeugt, Ihre Erinnerung müsste längst wieder …«
Sie entzog ihm die Hand. »Woher wissen Sie davon?«
»Ich war Schüler dieses Klosters.«
»Was wissen Sie noch?«
»Nichts.«
»Wie ist Marie Herzog gestorben?«
»Man hat ihr den Schädel eingeschlagen.«
»Und der Mörder?«
Er senkte den Blick.
»David.«
»Ich weiß es nicht, Lena.« Er sah sie wieder an. »Ich war nur Schüler hier, sonst nichts.«
»Sie wissen mehr, als Sie sagen.«
Sein Blick hatte etwas Kaltes. »Unsinn.« Da war er wieder, der harte Zug um seinen Mund. Seine Augen waren dunkel, als er aufstand, zu dem vergitterten Sprossenfenster ging und hinausstarrte.
»David.« Das Schweigen im Raum ließ die Stille hören. Lena stand auf, trat neben ihn und musterte sein gut geschnittenes Profil. »Bitte sagen Sie mir, was Sie wissen.« Sie berührte ihn am Arm.
Er zuckte zurück. »Hören Sie auf.« Seine Stimme klang rau. Er sah sie an. Sein Blick streifte ihr Gesicht, ihre Lippen und glitt zurück zum Fenster.
Erneut berührte Lena ihn am Arm, ließ ihre Hand dort liegen und kam ihm ganz nah.
»Sagten Sie nicht, das sei nicht der richtige Augenblick für so etwas, Lena?«
»Vielleicht doch. Vielleicht gerade.«
David atmete hörbar aus, als sie ihre Hand über seine Brust gleiten ließ. Der Hemdstoff fühlte sich weich an, die Muskeln darunter hart. Er sah sie wieder an. »Sie wissen nicht, was Sie tun, Lena. Sie kennen mich nicht.«
»Dann erzähl mir von dir, David.« Sein Körper verkrampfte sich, während ihre Hand unter sein Hemd glitt.
»Du machst mich verrückt, Lena.«
Sie lehnte sich an ihn, hörte sein Herz pochen. »Und du verschweigst mir etwas.«
»Du hast mich von Anfang an verrückt gemacht.« Sanft drückte er sie von sich weg, als ihre warmen vollen Lippen sein Kinn streichelten, seinen Mund suchten. Er hielt sie an den Armen von sich fern. »Du bist verrückt, Lena.«
»Bin ich, und zwar verrückt nach dir.«
Der Widerstreit seiner Gefühle spiegelte sich in seinen Augen. Seine Lippen waren warm und weich, als er sie zögerlich auf ihre legte, der Kuss nur zart, doch der Ausdruck in seinen Augen ein anderer, als sie sich voneinander lösten.
»Das reicht nicht, David. Für dein Schweigen schuldest du mir mehr.«
Der nächste Kuss war fordernd und sinnesraubend. Sein Körper entspannte sich, als er sie so fest an sich drückte, als wäre sie etwas, an das er sich klammern konnte. Seine Küsse glitten über ihr Haar, ihr Gesicht und seine feingliederigen Hände über ihre Brüste, ihren Po.
»Willst du das wirklich, Lena, hier und jetzt?«
»Ja.«
»Und der Mönch?«
»Der schläft.«
»Du bist verrückt, nein, völlig irre.«
»Bin ich.« Sie genoss sein Aufstöhnen, als sie ihren Bauch an seinem harten Glied rieb. Sie wehrte sich nicht, als er ungeschickt ihre Jeans öffnete, die Hose zu Boden gleiten ließ und ihr den Slip abstreifte.
Als sei sie eine Feder, hob er sie auf die niedrige Fensterbank, küsste und streichelte die Innenseite ihrer Oberschenkel und legte seine Hand auf ihre Vagina. Sein Mund und seine Hände fanden jede Stelle ihres Körpers.
Beinah schmerzte es, als er seine Hose öffnete und hart in sie eindrang, wieder und wieder, aber es war ein wohliger Schmerz.
Minutenlang klammerten sie sich in Ekstase aneinander, bis sie gemeinsam den Höhepunkt erreichten, verharrten eine Weile, sich küssend und streichelnd, bis sie ruhiger wurden. Lena fühlte den Schweiß auf seiner Stirn, als sie darüber strich.
»Danke, Lena.« Er sah ihr in die Augen, strich ihr mit dem Zeigefinger über die Lippen und drückte ihr einen zarten Kuss darauf, bevor er sich von ihr löste und seine Hose schloss. Er lächelte. »Du bist total verrückt.« Seine Miene wurde wieder ernst. »Aber du hast mich aus der Hölle geholt.«
Ihre Blicke trafen sich, als Lena von der Fensterbank glitt. »Erzähl mir davon«, sagte sie, während sie Slip und Jeans wieder anzog.
»Da ist nichts.« Er setzte sich unter der Fensterbank auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.
»Erzähl es mir.« Lena warf einen Blick auf Pater Maximilian, während sie sich neben David unter das Fenster setzte. Noch immer lag der Ordensbruder regungslos und flach atmend mit geschlossenen Augen da.
David strich sich durch das zerzauste Haar. »Du würdest es mir ja sowieso nicht glauben. Du hast es vergessen.«
»Versuch es. Habe ich gerade mit Maries Mörder geschlafen?«
Sie sah das Aufblitzen in seinen Augen.
Zögerlich nahm er ihre Hand und drückte sie an seine Wange. Einen Augenblick schloss er die Augen. »Ausgerechnet in die Frau, die ich mein halbes Leben lang gehasst habe, muss ich mich verlieben. Als ich dich zum ersten Mal sah, hatte ich den Impuls, dich zu töten.« Er spielte mit ihren Fingern.
»Und jetzt?«
Kleine Fältchen untermalten den Ansatz seines Lächelns. Seine Finger glitten über die Abdrücke, die die Fesseln an ihrem Handgelenk hinterlassen hatten. Er sah Lena an. Ihre Blicke trafen sich. »Jetzt bin ich froh, dass ich diesem Impuls nicht nachgegeben habe.«
»Erzähl es mir.«