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»Wie lange sind wir jetzt schon hier?«
David blickte durch das vergitterte Sprossenfenster in dem Raum, in dem er mit Lena noch immer in Kloster Falzberg in Deutschland eingesperrt war, nach draußen.
Ihre Hilferufe durch den schmalen Spalt, den das Fenster sich im oberen Bereich hatte öffnen lassen, waren ungehört verhallt.
»Verdammt noch mal!« David blickte auf seine Armbanduhr. Inzwischen war es später Nachmittag.
Er lief durch den Raum und warf sich gegen die schwere Eichentür gegenüber dem Fenster. »Die können uns in diesem vergammelten Klostertrakt doch nicht verrotten lassen.« Er schlug mit der Faust gegen die Tür, lehnte die Stirn gegen das kühle Holz.
»Das ist sinnlos, David.«
Pater Maximilian lag noch immer bewusstlos und flach atmend auf dem Boden.
Lena massierte seine Hand. »Der wacht gar nicht mehr auf. Was haben die ihm nur gegeben?«
»Keine Ahnung.« David ließ sich an der Eichentür entlang zu Boden gleiten und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Glaubst du mir?«
»Was?«
»Das, was ich dir gerade erzählt habe. Dass ich nicht der Mörder von Marie Herzog bin? Dass ich unschuldig im Gefängnis war, nur ein Neunzehnjähriger, der in Marie verknallt war, sonst nichts? Marie war unglaublich schön und unglaublich arrogant. Sie hat meine Liebe zu ihr mit Wonne verspottet. Nahezu jeder hat über mich gelacht. Für die Polizei war das mein Motiv für den Mord.«
Lena setzte sich neben ihn und lehnte sich ebenfalls mit dem Rücken an die Eichentür. »Du hast mich die ganzen Jahre über gehasst, ja?«
»Weil du mich damals vor Gericht nicht entlastet hast.«
»Ich lag nach dem Unfall im Koma.«
»Ich wollte das aber nicht glauben, Lena. Ich wollte nicht glauben, dass du dich nicht erinnern konntest, als du aus dem Koma aufgewacht warst. Ja, ich habe dich gehasst. Ich konnte es nicht ertragen. Du warst an jenem Abend da. Ich hab dich gesehen. Du musstest den Mord doch gesehen haben. Du warst meine einzige Hoffnung. Du hättest mich aus dem Gefängnis holen können.«
Lena strich ihm eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. »Ja, ich glaube dir, dass du nicht der Mörder von Marie Herzog bist.«
»Warum?«
»Nicht weil ich ein Naivling wäre, oder weil ich mich in dich verliebt hätte und dir auf rosaroten Wolken schwebend alles glauben würde.« Sie lächelte. »Auch wenn es so ist.«
Ihre Blicke hingen ineinander.
»Ganz einfach, David. Wenn du Marie ermordet hättest, wären wir nicht hier. Kein Mensch hätte ein Problem mit uns.«
David lächelte. »Die Erklärung mit den rosaroten Wolken ist mir sympathischer.«
Seine Miene wurde ernst. Er stand auf und kniete sich neben Pater Maximilian, als der stöhnte. »Pater Maximilian.« Er tätschelte die Wange des Paters.
»Warum haben die Mönche dich nicht erkannt, als du dich hier als Hausmeister beworben hast, David?«
»Wie sollten sie? Damals war ich ein pickliger, dicklicher Teenager. Und ein falscher Name … In Wahrheit heiße ich David Brunn, nicht David Winter.«
Sie hörten ein Klirren.
»Josch! Josch kommen!«
»Amelie?« Lena stand auf und horchte an der Tür.
»Lena! Hnnn-nein!«
»Was geht da vor?« Lena trommelte gegen die Tür. »Lass sie los, du Schwein! Lass sie los!«
»Lena!« Amelies Stimme wurde leiser und verstummte.
»Mann!« Lena schlug mit solcher Wucht ihre Faust gegen die Tür, dass der Schmerz bis in ihren Arm zog. »Ich werde hier noch wahnsinnig.«
Sie hielt inne. Draußen herrschte Stille.
Sie setzte sich wieder auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und vergrub das Gesicht in den Händen.
Es war nicht sofort da.
Es dauerte, bis sie es wahrnahm.
Doch dann war es da, und für den Bruchteil einer Sekunde verstand Lena nicht, was geschah, als es durch den Spalt unter der Tür in den Raum kroch.
Sie nahm die Hände vom Gesicht und blickte neben sich auf den Boden. »David.«
David sah, wie Lenas Augen sich weiteten, sah die nackte Angst darin aufleuchten.
»Riechst du das nicht, David? Das ist Qualm. Brandgeruch. Es brennt.«
Zarte graue Rauchschwaden krochen durch den Spalt unter der Tür in den Raum.
Ihre entsetzten Blicke hingen ineinander. Feuer gleich Tod. Sie waren eingesperrt. Es gab kein Entfliehen.
David nahm das Seil, mit dem er an das Rohr gefesselt gewesen war, ballte die rechte Hand zur Faust und wickelte es darum.
»Was tust du?«
»Für frische Luft sorgen. Sonst sterben wir sofort an einer Rauchvergiftung.«
Mit ein paar Schritten war er an dem vergitterten Sprossenfenster und stieß seine Faust in die Scheibe. Pater Maximilians Lider flatterten, als das Glas zersplitterte.
»Es wird stärker, David. Wir müssen Pater Maximilian zum Fenster ziehen.« Der Rauch ließ Lena husten. Keine Chance zu fliehen! Wir werden sterben!
*
»Hnnn-nein!«
»Sei still, Amelie.«
Pater Nathan zerrte sie mit sich durch den Kiefernwald, der stellenweise an den Ostseestrand grenzte.
Die Sonne malte helle Flecken zwischen den Schatten der Bäume auf den Boden.
Amelie sah den Blutfleck auf dem Ärmel seiner Kutte, da, wo sie ihn gebissen hatte, riss sich los und rannte.
Er packte sie bei den Armen, als sie hinfiel, und zog sie hoch.
Sie sagte nichts. Sie sah ihn nur an. Das Licht der Sonne vereinigte die gelben und graublauen Pigmente in ihren Augen zu einem satten Grün. Augen so klar wie ein Gebirgsbach, in denen ein Mann zu ertrinken drohte.
»Sieh mich nicht so an, Amelie.« Seine Lippen bebten. »Ab insidiis diaboli, libera nos, domine. Befreie uns von den Nachstellungen des Teufels, Herr. Sieh mich nicht so an. Hörst du, Amelie? Sieh mich nicht so an. Ich muss es tun. Ich muss!« Er schüttelte sie. »Hör auf damit! Hör auf, mich so anzusehen!«
Einen Augenblick war er versucht, Amelie loszulassen, sie einfach gehen zu lassen; ein Augenblick der Schwäche.
Du bist raus, Nathan! Meine Entscheidung steht. Du wirst das Kloster verlassen – verlassen – verlassen –
Damit hatte nichts eine Bedeutung mehr.
»Hnnn-Josch.« Amelie drückte ihre Puppe fest an sich.
»Dein Josch hat dich verlassen.«
»Hnnn-Josch wiederkommen.« Amelies Stimme zitterte.
»Dass ich nicht lache.« Er zerrte sie wieder mit sich.
Wimmernd stolperte Amelie neben ihm her.
Seine Gedanken waren bei Gott. Du bist der eingeborene Sohn, o Herr, und die Mächte der Unterwelt werden deine Kirche nicht überwinden. Dafür sorge ich.
Das lauter werdende Rauschen der Wellen war wie Musik.