22
Wie ein gefallener Engel.
Riccardo hatte keine Ahnung, warum ihm ausgerechnet dieser Gedanke kam, als der alte Mann in dem dunklen Anzug wie aus dem Nichts von links kommend auf der Via Aurelia Antica auftauchte.
Sein Fuß schnellte zur Bremse.
Seine Freundin Sophie neben ihm schrie. Ihr Aufschrei übertönte sogar das Quietschen der Reifen, bevor der rote Fiat 500 über die Fahrbahn schliddernd zum Stehen kam.
Riccardo hatte alles getan, um den Wagen zum Stehen zu bringen, hatte die schnellstmögliche Reaktionszeit gezeigt, und dennoch brach der Mann vor seinem Wagen zusammen.
»O Gott! Nein!« Sekundenlang saßen Sophie und Riccardo wie gelähmt da. »Du hast ihn …«
»Zum Teufel, ich habe ihn nicht mal berührt.«
Sophie folgte Riccardo, als er ausstieg und zur Front des Wagens rannte. Der grauhaarige Mann in dem dunklen Anzug, der bäuchlings mit dem Gesicht nach unten vor ihnen auf der einsamen Straße lag, rührte sich nicht, und im Licht der Laternen schimmerte Blut, überall Blut, auf dem Anzug, auf dem Straßenasphalt.
Die Stille nach dem Quietschen der Reifen, nach Sophies Aufschrei war, als wären sie von einem Vakuum umfangen. Sophies leises Schluchzen brachte Riccardo in die Wirklichkeit zurück. »Die Verletzungen stammen von keinem Aufprall.« Er wusste nicht, ob er deswegen Erleichterung oder noch mehr Entsetzen fühlen sollte. »Der hat ein Loch im Rücken. Der wurde angeschossen.« Mechanisch wie eine Maschine beugte er sich hinab und drehte den Mann auf den Rücken.
»Ein Priester.« Sophie schlug die Hände vor den Mund. »Der trägt einen weißen Priesterkragen.«
Riccardo ging in die Hocke und betastete das Handgelenk des Priesters. »Er lebt noch. Sein Puls ist schwach. Hallo? Hören Sie mich?«
»Die Kardinäle.« Sophie starrte auf Riccardo hinab, während sie ihr Handy aus ihrer Jackentasche zog, um einen Rettungswagen zu rufen. »Ja, hast du denn nichts von den Morden gehört?«, sagte sie, als Riccardo verständnislos zu ihr hochblickte. »Es kam doch überall in den Nachrichten. Die Presse nennt den Killer Sanctus Satanas. Meine Oma ist seitdem völlig fertig, bekreuzigt sich dauernd und faselt was von, der Antichrist sei gekommen. Mann, Riccardo, wie der röchelt. Der stirbt.« Sie kämpfte gegen den aufsteigenden Brechreiz an, als sie Blut aus dem Mundwinkel des Priesters laufen sah.
Riccardo tätschelte ihm die Wange. »He. Hören Sie mich?«
Die Lider des Mannes flatterten.
»Wer sind Sie?«, fragte Riccardo.
»Gutenberg. Kardinal Georg Alexander Gutenberg.« Die Worte waren nur ein Hauch.
Sophie hielt sich das Handy ans Ohr. »Ja. Schnell. Kommen …«
»Lass das!«, schrie Riccardo wie von Sinnen.
»He, was soll das?«, empörte sich Sophie, als er so hastig aufsprang, dass er sie anrempelte.
»Steck das Handy weg!« Panik schwang in Riccardos Stimme mit, während er sich gehetzt umsah. »Den Rettungswagen kannst du auch aus dem Auto anrufen. Er soll uns entgegenfahren. Du schnappst dir die Beine, ich den Oberkörper, und dann schaffen wir ihn in den Wagen.«
»Spinnst du?«
»Tu einfach, was ich sage! Einmal nur. Nur dieses eine Mal, Sophie. Wir müssen hier weg.«
»Du glaubst, er ist noch hier? Der, der geschossen hat?« Sophies Übelkeit war vergessen. Die Tatsache ignorierend, dass der alte Mann unglaublich schwer war, dass er blutverschmiert war, ergriff sie seine Beine. Er ließ keinen Laut hören, als sie ihn zu der rechten Hintertür des Fiat 500 zogen.
Sophie öffnete die Tür.
Die Rückbank war eindeutig viel zu kurz.
Riccardo rannte auf die linke Seite des Wagens, öffnete die Hintertür und krabbelte in den Wagen. »Mann, ist der schwer.« Keuchend hievte er den alten Mann zu sich auf den Sitz.
Dessen blutverschmiertes Gesicht fiel gegen die Scheibe, als Riccardo wieder ausstieg und die Tür hinter sich schloss. Hastig rannte er zu Sophie zurück, und es brauchte Gezerre und Geschiebe, bis sie die Beine des alten Mannes endlich auf die Rückbank gestopft hatten.
Aufatmend drückten sie die Tür zu.
»Los, weg hier, Sophie! Schnell!« Riccardo lief zu der Fahrertür. Nur Sekunden, bis sie im Wagen saßen.
»Mist. Mist. Mist.« Der Motor benötigte zwei Startversuche, bevor er ansprang. Doch dann fuhr der Fiat 500 mit quietschenden Reifen los.
Der Pistolenschuss, der die Rückscheibe zum Splittern brachte, gefolgt von Sophies gellendem Aufschrei, ließ Riccardo das Lenkrad verreißen. Funken sprühten, als der Wagen an der rechten Straßenmauer entlang schrammte.
Riccardo lenkte gegen, überlenkte, krachte mit dem Wagen beinah gegen die Straßenmauer der Gegenfahrbahn, schrammte die Laterne, fand zurück auf die Fahrbahn.
»Mann. Scheiße, Riccardo! Fahr! Fahr!«