16
Du hast am Forum Romanum den Jungen erschossen.
Die haben dich identifiziert.
Die wissen, dass du ein Auftragsmörder bist.
Die jagen dich.
Sie sind da. Möglicherweise. Sicher war Albuin Sciutto sich nicht.
Seit dem Unfall mit dem Fluchtwagen nach der Sache am Forum Romanum war alles anders.
Jede Bewegung war Schmerz, so, als würde sich ein glühendes Schwert in seine Schulter bohren.
So tief geduckt, wie seine schmerzende Schulter es zuließ, schlich Sciutto auf einer Wiese an der Via Appia Pignatelli hinter den Büschen her.
Die Dunkelheit des Abends legte sich wie ein graues Tuch über das kleine Haus auf der anderen Straßenseite.
Welche Wahl hatte er denn, als hier Zuflucht zu suchen? Möglicherweise hatten sie noch nicht herausgefunden, wo er wohnte.
Wenn sie da sind, bist du tot.
Klickend leuchteten die Straßenlaternen auf, eine nach der anderen, und beleuchteten den Vorgarten vor dem Haus. Niemand war zu sehen.
Zur Sicherheit zog er seine Halbautomatik, bevor er sich aus der Deckung hinter den Büschen wagte.
Am Rande der Wiese blieb er stehen. So musste sich ein Lamm fühlen, das mit dem Angriff von Wölfen rechnet. Diese Stille war seltsam, kein Geräusch, keine Bewegung, nicht einmal ein zwitschernder Vogel, so, als hielte die Welt den Atem an.
Nichts geschah, als er die Straße betrat.
Nichts geschah, als er sie überquert hatte.
Nichts geschah, als er das kleine eiserne Tor in der Mauer zu dem Vorgarten des Hauses, in dem er wohnte, öffnete.
Schlagartig blieb er stehen.
Sie waren da.
Er hörte ein Rascheln, ein unterdrücktes Atmen.
Damit bist du tot, Sciutto.
Seine Glieder wurden kalt.
Wie viele warteten auf ihn? Möglicherweise war es eine Spezialeinheit der Polizei, GIS oder NOCS.
Kein Ausweg.
Das Ende.
Hinter ihm raste ein Wagen heran.
Die Wucht der Vollbremsung ließ die Reifen über die Straße schliddern. Die Beifahrertür wurde aufgestoßen, als der dunkle Alfa Romeo neben ihm zum Stehen kam.
»Einsteigen, Sciutto!«
Ein Schuss. Die Kugel durchbohrte Sciuttos Bein, während er in den Wagen stieg.
Der Motor heulte auf, als der Alfa Romeo mit Vollgas losfuhr und die Straße entlangraste.
Schüsse prasselten gegen den Kofferraum. Ein paar Schüsse zertrümmerten die Rückscheibe, ließen Glasscherben hageln. Funken sprühten, als ein Hinterreifen platzte und der Wagen auf der Felge weiterfuhr.
»Raus aus dem Wagen!«, brüllte der Fahrer nach der nächsten Kurve. Der Wagen bremste. »Rechts in die Seitenstraße! Warten Sie da!«
Der Alfa Romeo fuhr weiter, während Sciutto nach rechts in die Straße rannte.
Nach einem kurzen Stück sprang der Fahrer aus dem fahrenden Wagen, ließ sich gekonnt abrollen, war mit einem Satz auf den Beinen und folgte Sciutto in die Straße.
Der Alfa Romeo fuhr und fuhr, hundert Meter, zweihundert, dreihundert.
Das Donnern, das Knirschen von Metall, als er wie ein Geschoss irgendwo gegen fuhr, hallte in Sciuttos pochendem Schädel wieder, während sie beide bereits die schmale Seitenstraße entlangrannten. Er schrie von dem Schmerz in seiner Schulter gequält auf, als der Mann ihn jäh in den Schatten einer Gartenmauer drückte.
In der nächsten Sekunde rasten zwei Geländewagen der Polizei an der Mündung der Straße vorbei.
»Los weiter, Sciutto!«
Am Ende der schmalen Straße materialisierte sich im Licht der Laternen ein schwarzer Mercedes mit einem Kennzeichen des Vatikans.
»Steigen Sie ein, Sciutto!«
Es dauerte nur Sekunden, bis Sciutto auf dem Beifahrersitz und der schlanke blonde Mann in dem dunklen Anzug auf dem Fahrersitz Platz genommen hatten und Sciutto ihm die Mündung seiner halbautomatischen Pistole gegen die Schläfe drückte.
»Was soll das, Sciutto? Sollten Sie mir nicht eher dankbar sein, als mir eine Pistole gegen den Schädel zu pressen?«
»Warum haben Sie mich da rausgeholt?«
»Wir haben einen Deal miteinander, oder nicht? Tun Sie das Ding weg, Mann. Ohne mich wären Sie tot.«
»Oder auch nicht. Lebend bin ich doch viel interessanter für die Bullen, ein Auftragskiller, den man über die Hintermänner ausfragen kann. Gut für mich, doch beschissen für Sie als meinen Auftraggeber. Wer sagt also, dass Sie mich nicht töten und verschwinden lassen wollen? Ein Zeuge weniger.«
»Vielleicht die Tatsache, dass ich Sie gerettet habe. Was, zum Teufel, war das mit dem Jungen am Forum Romanum? Warum mussten Sie auf ihn schießen?«
»Ich war nervös. Es war nicht meine Absicht.«
In den grauen Augen des Mannes spiegelte sich Ironie. »Ein Killer mit Gewissen, hä?«
»Woher wussten die Bullen so plötzlich, wer ich bin?«
»Wenig professionell, sein Handy zu verlieren, Sciutto.«
»Wo?«
»In der Engelsburg.«
»Es war nicht auf meinen Namen angemeldet.«
»Aber Ihre Fingerabdrücke waren darauf. Hören Sie, Sciutto. Ich will nur, dass Sie aus dem Land verschwinden, mehr nicht.«
Zögerlich ließ Sciutto die Waffe sinken. Die Schmerzen in der Schulter, die unsägliche Erschöpfung, die Wärme im Wagen, die aufkeimende Entspannung forderten ihren Tribut.
Welche Wahl habe ich denn?