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Als der Anruf ihn an diesem Abend erreichte, hatte Commissario Carlo Bariello sein Haus in Rom fast erreicht.

Stundenlang war er, nachdem sein Chef Edoardo Graziano ihn wegen der misslungen Aktion im Forum Romanum beurlaubt hatte, mit seinem grauen Privatwagen Citroen C4 sinnlos durch Rom gefahren, hatte irgendwo am Tiber angehalten, war ausgestiegen, hatte auf den nachtdunklen Fluss gestarrt, um irgendwann wieder einzusteigen und sinnlos weiterzufahren. Zuhause wartete zurzeit niemand auf ihn. Alessia war in Florenz.

Alles Scheiße.

Drei tote Kardinäle, ein toter Carabinieri, mehrere Verletzte und Kardinal Gutenberg und der Auftragskiller Albuin Sciutto spurlos aus dem Forum Romanum verschwunden, und er – Bariello fühlte Wut in sich hochkochen – musste jetzt als Sündenbock dafür herhalten.

Der Citroen schnurrte, als Bariello nach rechts abbog.

»Sie fehlen mir gerade noch!«, blaffte er, als auf dem Display der Freisprechanlage die Telefonnummer dieser Reporterin Rebecca Favelli aufleuchtete, die ihm am Morgen den Tipp mit dem Forum Romanum gegeben hatte.

»Die Sache im Forum Romanum ist wohl schiefgegangen, Commissario.« Ihre Stimme hatte nichts Ironisches. »Es kam in den Nachrichten.«

»Lassen Sie mich in Ruhe, Rebecca.«

»Dass der Killer im Forum Romanum aufgetaucht ist, sagt doch alles. Die Frau, die mich angerufen hat, hat also die Wahrheit gesagt.«

»Ja, natürlich die große Unbekannte. Wahrscheinlich gibt es sie gar nicht und Sie stecken selbst mit drin.«

»Ich möchte mich mit Ihnen treffen, Commissario.«

»Keine Chance, Rebecca.«

»Ich werde Ihnen auch die ganze Wahrheit sagen.«

»Sie bluffen.«

»Probieren Sie es aus.«

Verdammt noch mal! Hinter der nächsten Straßenecke war er zuhause. Die Sache wird mir ja doch keine Ruhe lassen. Zuhause sitzen und abwarten, was noch passierte. Unmöglich! »Wo sind Sie, Rebecca?«

»Via Aurelia Antica.«

Der Fahrer des Wagens hinter Bariello fuhr hupend vorbei, als Bariello bremste, um zu wenden.

»Wo befinden Sie sich genau?«

»Ecke Via Aurelia Antica, Via della Noccetta.«

»Warten Sie dort auf mich, Rebecca.«

*

»Wohin fahren Sie?«, sagte Bariello, als Rebecca mit ihm bereits zwanzig Minuten später in ihrem knallroter Lancia in halsbrecherischem Tempo durch die engen Kurven der Via della Noccetta fuhr.

»Ich konnte Ihnen vorhin am Telefon nicht sagen, worum es geht, Commissario. Nach der Sache im Forum Romanum wären Sie vielleicht nicht gekommen.«

Bariello warf einen Blick auf das schöne Profil der jungen Reporterin. Eine rassige Italienerin, wie man sie sich erträumt. Doch im Wechsel von Licht und Schatten der Laternen hatte ihr Profil etwas Gespenstisches. »Dann sagen Sie es mir jetzt, Rebecca.«

»Diese Frau, die mich angerufen hat …«

»Hören Sie auf. Ich glaube Ihnen kein Wort. Diese mysteriöse Signora X gibt es nicht. In Wahrheit haben Sie die Finger im Spiel. Was plagt Sie? Ihr schlechtes Gewissen, weil Sie in die Mordserie verwickelt sind?«

»Nein.«

»Was dann?«

»Ich bin nicht darin verwickelt. Es gibt diese Frau, und ich bin auf der Jagd nach einer guten Story.«

»Passen Sie auf, Mann!« Bariello verkniff es sich, an das Lenkrad zu greifen, als der Wagen haarscharf an der rechten Straßenmauer vorbeischlidderte. »Mal angenommen, es gäbe diese Frau wirklich, Rebecca. Was hat sie damit zu tun, dass Sie uns mit diesem irren Tempo umbringen wollen?«

»Vielleicht kommen wir schon zu spät. Ohne dass Sie bei mir waren, habe ich mich nicht getraut.«

»Was haben Sie sich nicht getraut?«

»Diese Frau hat mich wieder angerufen. Sie hat mir gesagt, wo Kardinal Gutenberg sein könnte.«

Bariello hielt den Atem an. »Nur der Vatikan und die Polizei wissen, dass er aus dem Forum Romanum verschwunden ist.«

Rebecca warf ihm einen Blick zu. »Und die Täter, oder?«

Bariello lächelte. »Aber Sie sind ja keiner von denen, Rebecca.«

»Ach, glauben Sie doch, was Sie wollen, Commissario.«

»Also gut. Sie sagen, Sie haben nichts damit zu tun. Und ihr Chef, der Verleger der La Piccola Gazzetta di Roma? Was ist mit dem?«

»Manchmal …« Rebecca zögerte. »Manchmal bin ich mir nicht mehr so sicher, dass er nichts damit zu tun hat. Er ist ein Kirchenhasser. Ein wunderbarer Mensch, aber in dieser Hinsicht fanatisch, und ich hab keine Ahnung, warum. Wir sind da.«

Sie fuhr langsamer, lenkte den Wagen nach links durch ein offenes schwarzes Eisentor in der Straßenmauer und hielt hinter der Mauer nach wenigen Metern an.

Das Mondlicht zeichnete die sanft abfallende schmale Straße vor ihnen als hellen Strich in die Landschaft aus Wiesen und Sträuchern. Laternen gab es hier keine. Nur in der Ferne glitzerten Lichter.

»Wo, Rebecca?«

»Das Haus da vorn.«

»Da soll Kardinal Gutenberg sein?«

»Ja.«

Obwohl einige Fenster des circa hundert Meter entfernten Hauses erleuchtet waren, wirkte es düster.

»Sie bleiben hier, Rebecca.«

»Ich denk ni…«

»Was Sie denken, ist mir egal. Wenn ich in zehn Minuten nicht zurück bin, rufen Sie Commissaria Marisa Capecci an.« Bariello zog einen Kugelschreiber aus seiner Jacketttasche. »Ihre Hand, Rebecca.«

»Wie bitte?«

»Halten Sie mir Ihre Hand hin.« Er nahm ihre Hand und kritzelte Marisas Telefonnummer auf ihren Handrücken.

*

Eine Minute später stand Bariello seitlich neben dem Haus. Die Fensterläden waren auf dieser Seite des Hauses bis auf einen Spalt zugeklappt. Viel sah er nicht, nur dass in dem erleuchteten Raum jemand in einem Sessel saß.

Ein knackender Zweig hinter ihm ließ ihn herumschnellen.

»Tut mir leid, Commissario.« Das Mondlicht überzog Rebeccas Gesicht mit einem Silberschimmer. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

»Sie gehen sofort zurück zu Ihrem Wagen«, zischte Bariello.

»Ich habe Sie auf diese Spur gebracht, oder, Commissario?«

»Das hier ist kein Spiel, Rebecca.«

»Das weiß ich.« Sie starrte auf die Pistole in Bariellos Händen. »Es ist mein Risiko, nicht Ihres.«

Bariello schüttelte den Kopf. »Sie sind ja nicht zu retten. Warten Sie hier.«

Leicht geduckt lief er nach links an der Wand entlang, warf einen Blick nach rechts um die Ecke des Hauses und schnellte wieder zurück. Die Haustür stand einen Spaltbreit offen. Bist du irre, das zu tun? Graziano wird dich endgültig suspendieren, nein, umbringen.

Trotzdem tat er es.

Schritt für Schritt näherte er sich der Haustür.

Der offene Spalt war dunkel. Die Tür knarrte, als er vorsichtig dagegen drückte, sodass sie sich etwas weiter öffnete. Nur Sekunden, bis er in den finsteren Flur dahinter geschlüpft war und sich an die Wand neben der Tür drückte.

Kein Geräusch war zu hören.

Aus einer offenen Zimmertür zu seiner Rechten in der Wand gegenüber fiel ein Lichtschimmer in den Flur. Er schnellte auf die andere Seite des Flures und arbeitete sich an der Wand entlang bis zu der offenen Tür. Noch immer war es still, bis auf das leise Surren von Fliegen.

Ein kurzer Blick um die Ecke, dann schnellte er in das beleuchtete Zimmer. Niemand war dort, niemand der noch lebte.

Die Pistole im Anschlag inspizierte er die angrenzenden Räume und den Rest des Hauses. Nichts. Die Waffe sinken lassend ging er zurück in das Zimmer, das er zuerst betreten hatte.

»Commissario.« Rebecca tauchte in der Zimmertür auf. »Ich habe Sie durch ein Fenster beobachtet. Hier ist niemand, od…? Santo cielo!«, rief sie entsetzt aus.

Fliegen umschwirrten den Toten in dem Sessel. Sein kalkiges, leichenstarres Gesicht stand im krassen Gegensatz zu dem schwarzen T-Shirt, das er trug. Seine mit einer schwarzen Jeans bekleideten Beine hingen aus dem Sessel. Seine eisblauen leblosen Augen starrten an die Decke. Sein Kopf war nach hinten über die Sessellehne gekippt, der Mund aufgeklappt. Fliegen krabbelten über den angetrockneten Sabber, der von seinem Mundwinkel auf die Sessellehne getropft war.

Rebecca lehnte sich mit offensichtlich weichen Knien an den Türrahmen. »Ich glaub, ich muss kotzen. Wer ist das?«

»Der Auftragskiller namens Albuin Sciutto, dem ich im Forum Romanum begegnet bin.« Bariellos Blick haftete an Rebeccas Gesicht. »Vergiftet, so wie es aussieht. Vermutlich von seinem Auftraggeber, um ihn aus dem Weg zu räumen. Sie sagten, die unbekannte Anruferin hätte behauptet, Kardinal Gutenberg solle hier sein. Wahrscheinlich ist er geflohen.«

»Wie bitte?«

»Hier.« Bariello hielt einen kleinen goldglänzenden Gegenstand hoch. »Der Kardinalsring lag im Nebenraum.« Er fischte sein Handy aus seinem Jackett. »Ja, Carlo hier, Marisa. Ich hab hier etwas für euch. Schick sofort ein paar Leute her.« Er drückte Rebecca das Handy in die Hand. »Sie erklären Commissaria Capecci, wo wir sind, und gehen zurück zu Ihrem Wagen. Hier sind Sie nicht sicher.«

Rebecca starrte ihm hinterher, als er das Zimmer verlassen wollte. »Wo wollen Sie hin?«

»Wie ich schon sagte. Wohlmöglich ist Kardinal Gutenberg demjenigen, der ihn in diesem Haus festgehalten hat, entkommen.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Das Fenster des Nebenraums steht offen.«

»Hinter dem Haus steht ein Wagen des Vatikans, Commissario, versteckt zwischen Büschen.«

»Wie bitte?« Bariello blieb stehen.

»Ein schwarzer Mercedes mit dem Kennzeichen SCV.«