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Ich heiße diese Kirche den einen großen Fluch, die eine große innerlichste Verdorbenheit, den einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist.

Ein Zitat von Friedrich Wilhelm Nietzsche, allerdings abgewandelt. Denn im Original hieß es »das Christentum«, nicht »diese Kirche«.

Ein Zitat, das in Kardinal James William O'Neills Kopf hämmerte, weil er nicht vermeiden konnte, es anzusehen.

Es lag direkt vor ihm, in großer schwarzer Schrift auf ein weißes Blatt Papier geschrieben, auf dem massiven Eichentisch liegend, an dem er zu sitzen gezwungen war, an einen Stuhl gefesselt und den Mund geknebelt.

Die Sonne draußen fand keinen Weg zu ihm.

Der kleine Raum in dieser Wohnung im Vatikan war durch die goldenen Brokatvorhänge links am Fenster abgedunkelt. Rechts und hinter O'Neill standen Bücherregale und vor ihm nur der Eichentisch.

Durch die einen Spalt offene Tür vor dem Tisch mogelte sich ein Lichtstrahl in den Raum. Ein Raum wie ein Stachel im Fleisch des Vatikans, ausgerechnet in der Wohnung des Mannes, dem er zutiefst vertraut hatte.

Das bis zur Decke hochgebaute Regal rechts war voller Bücher mit Schriften von Religions- und Kirchenkritikern der Vergangenheit und Gegenwart, welche nicht die Gewalt, stattdessen das Wort gewählt hatten, um gegen die Kirche vorzugehen.

Für O'Neill war es etwas Vertrautes.

Als Mitglied der Kongregation für die Glaubenslehre kannte er die meisten von ihnen, die Schriften von Voltaire, Ludwig Feuerbach, Friedrich Wilhelm Nietzsche, Karl Marx, Karl-Heinz Deschner und anderen Kirchenkritikern, Autoren, Theologen, Philosophen, Lyrikern.

Einzig diese Schriften in dieser Quantität versammelt in diesem Raum mitten im Herzen des Vatikans zu sehen, war unerträglich, direkt neben der Heiligen Schrift stehend, neben Gebetsbüchern und Schriften von zutiefst im katholischen Glauben verwurzelten Kirchenlehrern.

Zwei Welten, die gegensätzlicher nicht hätten sein können. Schwarz und weiß, dunkel und hell, wobei es im Ermessen des Betrachters lag, welche Seite welche war.

Écrasez l'infâme. Zermalmt die Niederträchtige. Voltairs Ansicht zur katholischen Kirche; Schriften Voltairs neben Schriften des gläubigen Kirchenlehrers Thomas von Aquin.

Nichts als diese zwei Welten hätte mehr von der inneren Zerrissenheit, von dem Seitenwechsel des Mannes, der ihn in diesem Raum gesperrt hatte, zeugen können.

O'Neill schloss die Augen.

Dieser Raum war entsetzlich, die Schmerzen in seinen angeschwollenen gefesselten Händen und Füßen unerträglich und das Atmen schier unmöglich.

Diese Hitze!

Ein transportabler Heizstrahler auf dem Boden war auf das Bücherregal rechts neben ihm gerichtet, der Sinn und Zweck des Ganzen leicht zu durchschauen. Aber der Heizstrahler allein würde es nicht schaffen, die Bücher in Brand zu setzen.

Gott sei Dank. Das beruhigte ihn. Dennoch hing Brandgeruch in der Luft. Kein gutes Zeichen.

Im Nebenraum lief ein Fernseher.

Orgelspiel war zu hören.

Die Heilige Messe wurde aus dem Petersdom übertragen. Was folgte, war ein Gebet in lateinischer Sprache.

Es war Kardinal Rodriguez' Stimme. Warum Rodriguez? Warum sprach nicht der Papst?

Die Person in dem Nebenraum rührte sich nicht, aber ihre Anwesenheit war zu spüren.

Manchmal war an dem Spalt, den die Tür offen stand, ein Schatten zu sehen, und hin und wieder war ein Geräusch hörbar.

Er ist es nicht. Es ist jemand anderer.

»Mörder!« Der Hass in seinen Augen war unsäglich gewesen, als er O'Neill vorhin in den Raum gestoßen, ihn auf den Stuhl niedergezwungen und gefesselt und geknebelt hatte. »Mörder! Ihr alle!« Tränen hatten in seinen Augen gestanden.

Ich hätte es wissen müssen. Der Gedanke hämmerte gegen O'Neills Schädeldecke. Ich hätte wissen müssen, dass er es ist, als Dominguez, Martinez und Costa ermordet wurden. Aber Kardinal Gutenberg. Er hatte mit der Sache von vor viereinhalb Jahren nichts zu tun. Ein Ablenkungsmanöver.

Aus dem Fernseher im Nebenraum erklang wieder das Orgelspiel. »Benedictus es, Domine«, hörte er Rodriguez' Stimme.

Benedictus es, Domine, dachte er den Worten folgend. Gepriesen seist du, o Herr. Du bist mein Hirte, nichts wird mir fehlen …

Er hustete und kämpfte um Atem. Die Hitze war entsetzlich. O Herr, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Ich habe das doch nicht gewollt. Ich habe es nicht gewollt!

Warum hatte sie auch keine Ruhe gegeben?

Viereinhalb Jahre war es jetzt her.

Mit Augen wie zwei dunkle Perlen, groß, rund und voller Furcht, so hatte sie ihn damals angesehen, als er sie in dem kleinen Haus am Rande Roms aufgesucht hatte.

In einem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer hatte er mit Elisa di Loretto gesprochen.

»Hören Sie auf, ihm zu schreiben«, hatte er gesagt. »Er wird nicht mehr kommen. Zurzeit ist er sowieso im Ausland. Er hat sich für sein Amt als katholischer Geistlicher entschieden, für seine Kirche. Endgültig.«

»Und gegen mich und sein Kind.«

Er hatte die Tränen in den Augen dieser zarten dunkelhaarigen Frau glänzen sehen, obwohl ihr offensichtlich daran gelegen gewesen war, Haltung zu bewahren.

»Warum sagt er mir das nicht selbst?« Ihre Stimme hatte erstickt geklungen. »Er sagte, er würde wiederkommen.«

»Und? Ist er wiedergekommen?«

»Nein.« Ein Flüstern, kaum mehr als ein Hauch.

Das dunkle Haar war ihr ins Gesicht gefallen, als sie den Kopf gesenkt und auf den Boden geblickt hatte. Die Tränen waren jetzt haltlos über ihre blassen Wangen gelaufen.

»Hat er Ihnen geschrieben?«

Statt einer Antwort hatte sie geschwiegen.

»Also nicht, Signorina di Loretto.«

Natürlich nicht! Wie auch? Schließlich hatten Kardinal Dominguez und Kardinal Costa seine Briefe abgefangen, und Kardinal Martinez hatte ihn für eine Weile ins Ausland geschickt, um ihn von dieser Frau fernzuhalten. Es war nur zu seinem Besten gewesen.

»Einmal«, war ihre geflüsterte Antwort gewesen. »Einmal hat er mir geschrieben.«

»Und was?«

»Dass er nicht mehr kommen würde. Dass er sich endgültig für seine Kirche entschieden habe. Als römisch-katholischer Geistlicher habe er den Zölibat, die Ehelosigkeit, gelobt, und die Kirche sei sein Leben. Aber ich verstehe das nicht!«

Der Schmerz in ihren Augen war unsäglich gewesen, hatte sein Herz berührt, obwohl er sich diesem Gefühl zu verweigern versucht hatte.

»Ich verstehe das einfach nicht!« Ihre Stimme hatte glockenhell geklungen. »Mir hat er gesagt, er hätte sich entschieden, sein Amt niederzulegen.«

»Die Kirche braucht Männer wie ihn, Signorina di Loretto. Verstehen Sie das bitte. Er kann sein Amt nicht niederlegen. Denken Sie an die vielen Menschen, denen er seine Barmherzigkeit und seine Nächstenliebe entgegenbringen kann, die seine Seelsorge benötigen.«

»Aber warum kann er das denn nur bei anderen?«

Es war ein hysterischer Aufschrei gewesen.

»Warum nicht auch bei uns? Warum nicht? Warum nicht auch bei uns?«

Ihr zarter Körper hatte gebebt, als sie die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. »Bitte! Bitte! Sagen Sie es mir! Warum denn nicht auch bei uns? Sein Herz ist groß genug für uns und die Kirche.«

Einen Moment war er versucht gewesen, sich ihr zu nähern, sie an der Schulter zu berühren, sie zu trösten; ein Moment der Schwäche, wo er versucht gewesen war, ihr die Wahrheit zu sagen.

Doch er hatte es nicht getan.

Ohne ein weiteres Wort war er gegangen.

Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Bist du damals zu weit gegangen? Um deiner Kirche willen?

Sein Blick fiel auf ein Buch in dem Regal rechts neben ihm. Karl-Heinz Deschner »Die Kriminalgeschichte des Christentums«.

Lächerlich, dachte er, dieser Mann, der seit Jahrzehnten versuchte, alles Negative über die römisch-katholische Kirche zusammenzutragen. Worte! Nichts als Worte!

Die Menschen sind schwach. Sie brauchen uns.

Im ersten Augenblick dachte er an eine Halluzination wegen der unerträglichen Hitze und des beißenden Geruchs des Heizstrahlers, als er sah, was plötzlich geschah, von einer Sekunde auf die andere.

Ein Zeichen Gottes war sein erster Gedanke.

Ein Zeichen Satans war sein zweiter.

Er verstand es.

Er begriff es.

Wenn auch erst im zweiten Augenblick.

Du wirst brennen!

Ein Leuchten!

Es war die Heilige Bibel in dem Regal rechts neben ihm, die zuerst entflammte.

Dann war da wieder ein Leuchten und wieder und wieder und wieder und wieder.

Es waren die Gebetbücher und die Schriften von Thomas von Aquin, Voltair, Marx, Nietzsche und den anderen, die nach und nach in lodernden Flammen aufgingen.

Er fing an zu husten und versuchte, sich von seinen Fesseln an Händen und Füßen zu befreien.

Es gelang ihm nicht. Natürlich nicht.

Rauch, überall Rauch!

Er biss ihm in die Augen und fraß sich in seine Lunge, als hätte jemand das Feuer der Hölle entfacht. Der Feuerschein der brennenden Bücher erhellte den Raum.

»Nein! Bitte!« Sein Aufschrei unter dem Knebel war nur ein Krächzen. Luft! Atmen! Bitteeee!

Er fühlte Hoffnung, als die Tür vor dem Eichentisch, hinter dem er saß, sich weit öffnete und frische Luft einströmte.

Seine Erleichterung war groß, als er die Haushälterin von Kardinal Rodriguez im Türrahmen stehen sah.

Er kannte sie vom Sehen, allerdings nicht ihren Namen, eine Frau zwischen fünfzig und sechzig, die ihm stets ein freundliches Lächeln geschenkt hatte, wenn sie sich über den Weg gelaufen waren. Das Leuchten der brennenden Bücher in den Regalen spiegelte sich auf ihrem Gesicht.

Was tut sie hier? Es war nur ein flüchtiger Gedanke, der sofort wieder verschwand.

Sie rührte sich nicht.

Er hustete. »Bitte …«, krächzte er unter dem Knebel.

Der Blick der Frau war starr.

Das Leuchten der Flammen verlieh ihren braunen Augen etwas von dunklen Perlen, Augen voller Trauer und tiefem Schmerz.

»Weißer Phosphor, Eminenz«, ihre Stimme klang dunkel. »Weißer Phosphor verstreut zwischen den Büchern und in alle Ecken dieses Raumes, bei Hitze selbstentflammbar und hochgiftige Dämpfe verströmend. Sie werden daran ersticken, bevor sie verbrennen.« Sie bekreuzigte sich. »Möge Gott ihnen vergeben, Eminenz. Ich kann es nicht.«