19

Der mondhelle Raum, den David und Pater Maximilian Augenblicke später betraten, war wohl der jämmerlichste Ort des Klosters.

Der Geruch von zu feucht verbranntem Holz drang aus dem kalten Kamin links an der Wand des winzigen Zimmers, verlieh der Atemluft eine rauchige Schärfe, ätzte in Davids Lunge.

Ein karger Ort, in dem es an allem fehlte, außer an Trostlosigkeit. Ein Kreuz an der Wand, ein kahler Holzschreibtisch, ein abgeschabter Stuhl, ein vergittertes Fenster rechts in der Mauer, der Vollmond draußen, der eine silbrige Kopie des Fensters auf den Schreibtisch malte.

Wenn die Atmosphäre eines Raumes die Seele eines Menschen widerspiegelt, dann war die Seele des Menschen, der in diesem Büro arbeitete, eine Wüste. Sah es so in Pater Nathans Seele aus? War das der Grund, warum er war, wie er war?

»Nein, nicht.« Pater Maximilian schob Davids Hand beiseite, als er den Lichtschalter betätigen wollte. »Besser, es sieht uns hier niemand. Das Mondlicht muss reichen.«

Vorher hatte David es nicht wahrgenommen, und auch jetzt sah er es nur für den Bruchteil einer Sekunde: Der Ringfinger der rechten Hand des Paters fehlte.

Pater Maximilian war der Blick nicht entgangen. »Ein Unfall, als ich noch ein Kind war.«

David verzog keine Miene. »Die Schlüssel, Pater.«

Der Schlüsselbund für den unbewohnten Klostertrakt  klimperte, als Pater Maximilian ihn aus der obersten Schublade des Schreibtisches nahm. Sein mit Mondlicht übergossenes Gesicht ließ Zufriedenheit erkennen. »Die müssen es sein. Ob auch die Schlüssel zum Keller dabei sind, weiß ich nicht. Sie sind mir immer noch eine Erklärung schuldig, David, warum wir das tun.«

»Das sagte ich doch schon, um Lena Meissner zu finden.«

»Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass sie in dem unbewohnten Klostertrakt oder im Keller eingesperrt ist. Das ist absurd. Lassen Sie das. Das geht uns nichts an«, zischte er, als David neben ihn getreten war und in der Schublade wühlte. »Ich sagte, das geht uns nichts an, David.«

»Das sehe ich anders, Pater.« David drückte die Schublade zu und zog die darunter auf, nahm eine Kladde heraus, blätterte darin, legte sie wieder hinein und zog an der untersten Schublade. Sie ließ sich nicht öffnen.

Es dauerte den Bruchteil eines Augenblicks, bis er das Schloss mit einer Büroklammer geknackt hatte. »So etwas lernt man im Gefängnis, Pater. Was haben wir denn da?« David atmete hörbar aus, als er in der offenen Schublade das Porträtfoto einer attraktiven jungen Frau liegen sah. Er nahm es heraus.

»Legen Sie es wieder weg, David.«

»Das ist Marie Herzog.«

»Wie bitte?«

»Marie Herzog.«

»Die Frau, die Sie vorhin kurz erwähnt haben, David?«

David schob das Foto in seine Hosentasche. »Warum hat Pater Nathan ein Foto von ihr?«

»Wer ist diese Frau, David?«

»Niemand.«

»Sie lügen.«

»Sie ist tot. Sie hat keine Bedeutung mehr.« Der Einband der abgenutzten Bibel, die David von ganz hinten aus der Schublade zog, raschelte, als er die erste Seite aufschlug. »Was ist das, Pater?«

»Eine Ausgabe der Heiligen Schrift.«

»Ich bin nicht blind. Ich meine die handschriftlichen Kritzeleien neben dem Text.«

»Das ist Pater Nathans Schrift.« Zögerlich nahm Pater Maximilian das Buch entgegen. »Schlecht ist das Weib von Natur, da es schneller am Glauben zweifelt, auch schneller den Glauben ableugnet, was die Grundlage für die Hexerei ist.« Er blätterte auf die nächste Seite. »Alles geschieht aus fleischlicher Begierde, die bei Weibern unersättlich ist. Besessen davon locken sie aus reiner Bosheit gar besonders gern den gottesfrommen Mann, ihre feuchten Leiber zu begatten, damit sich mit ihm Ihresgleichen vermehre und der fromme Mann Satan anheimfalle.« Er schloss das Buch. »Das sind Passagen aus dem Hexenhammer ›Malleus Maleficarum‹, abgewandelt durch Bruder Nathans eigene Worte.«

David runzelte die Stirn. »Hexenhammer?«

»Ja. Eine scholastische Abhandlung des Dominikaner Mönches Heinrich Kramer aus dem fünfzehnten Jahrhundert, der unberechtigt eine päpstliche Bulle, eine Urkunde mit Siegel, beigefügt war. Das Buch war ein Grundstein für die aufflammende Hexenverfolgung zu jener Zeit. Frauen wird dort Geschlechtsverkehr mit Dämonen unterstellt, die brutale Hexenverfolgung gerechtfertigt und sogar eine genaue Anleitung dafür gegeben. Schätzungsweise sechzigtausend Menschen sollen dem Hexenhammer durch Folter und Hinrichtung zum Opfer gefallen sein.« Pater Maximilians Blick glitt zu David. »Was ist mit dieser Marie Herzog, von der Sie das Foto in Pater Nathans Schublade gefunden haben, geschehen, David? Erklären Sie es mir.«

David nahm ihm den Schlüsselbund aus der Hand. »Im Moment geht es um Lena Meissner.«

*

Der Hoffnung, Lena zu finden, folgte das Nichts.

Es folgte die Leere hinter den Türen in dem unbewohnten Trakt der Klosterabtei Falzberg, der nur durch eine Mauer getrennt an den bewohnten Trakt grenzte.

Auch hier war der Klostergarten umgeben von Säulengängen, doch statt gepflegt war er verwildert, statt nach Flieder roch es nach Moder.

Gott, lass mich Lena endlich finden.

Es war wohl die zigste schwere Eichentür, das zigste knackende Eisenschloss, das David, die Säulengänge entlanggehend, aufschloss.

Nichts, wieder nur ein menschenleerer Raum, vollgepackt mit verschlissenen alten Möbeln, ausrangierten Schulbüchern.

»Hier ist sie nicht, mein Sohn.«

Das Gefühl von Pater Maximilians Hand auf seiner Schulter ließ David zu ihm herumfahren. Das flackernde Licht der Öllampe in der anderen Hand des Paters spielte mit den Kanten von dessen Gesicht.

»Offensichtlich fürchten Sie um das Leben dieser Frau, David, und sind mir deswegen endlich eine Erklärung schuldig.«

»Ihnen bin ich gar nichts schuldig, Pater.«

»Sie wollen mir keine Erklärung geben. Also warum sollte ich Ihnen noch helfen, diese Frau zu finden?«

»Weil etwas auf diesem Kloster lastet, von dem Sie nichts wissen. Weil er hier ist. Das weiß ich, und er wird Lena töten. Er muss sie töten. Er hat keine Wahl.«

»Was reden Sie da, David? Das ist ja lächerlich.«

David fasst Pater Maximilian an den Arm, als der sich abwenden wollte. »Wer es ist und was damals genau geschehen ist, kann ich bisher selbst nur ahnen. Bitte, Sie müssen mir helfen.«

»Sie trauen mir nicht. Deshalb reden Sie in Rätseln.«

»Seit damals traue ich niemandem mehr, Pater.«

»Wenn Sie befürchteten, dass diese Frau in Kloster Falzberg in Gefahr ist, warum haben Sie sie dann überhaupt erst mit hierhin gebracht?«

David hielt Pater Maximilians Blick stand. »Weil ich verrückt war, verrückt vor Hass auf Lena. Aber sie ist nicht so, wie ich dachte. Sie ist … Ich hätte ihr von Anfang an die Wahrheit sagen müssen.«

»So wie mir auch. Verschonen Sie mich mit weiteren Rätseln, David. Entweder Sie erzählen mir die ganze Geschichte, alles, was Sie wissen, oder gar nichts.«

»Sie würden es mir sowieso nicht glauben, Pater. Niemand hat das in all den Jahren.«