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Unterdessen prasselte Regen gegen die Fenster des Saales im Apostolischen Palast im Vatikan in Rom.
Das Gewitter hatte etwas Apokalyptisches, auch wenn die Sonne in Kürze das Wasser als Schwaden von dem erhitzten Asphalt der Straßen aufsteigen lassen würde.
Commissario Bariello blickte auf den Computer-Bildschirm an Marisas Arbeitsplatz, vor dem er saß.
Noch immer war dort Google-Maps aufgerufen, noch immer die Adresse dieses Psychiaters, zu dem Marisa anscheinend gefahren war. Stunden waren vergangen. Sie hätte längst zurück sein müssen.
Bariellos Blick glitt über die Personalakte mit dem Pseudonym »CDSS.LPB« und dem psychiatrischen Gutachten vor ihm auf dem Tisch, der offensichtliche Anlass für Marisas Besuch bei dem Psychiater. Warum das Pseudonym? Was hat der Vatikan zu verbergen?
Stille, nur das Prasseln der Regentropfen, kein Rascheln von Papier, keine Stimmen.
Der Saal im Apostolischen Palast, welcher der Polizia di Stato für ihre Untersuchungen zur Verfügung gestellt worden war, hatte sich geleert.
Nahezu alle Kräfte waren zur Sicherung des Petersdoms während der Heiligen Messe, die in Kürze beginnen würde, abgezogen worden. Nur Oberst Scarlatti, der Kommandant der Schweizergarde, stand neben Bariello.
»Das ist lächerlich, Commissario.« Oberst Scarlatti knallte ein Blatt Papier vor Bariello auf den dunklen Holztisch.
Sich durch das blonde Haar streichend lief der Kommandant der Schweizergarde hin und her. »Kardinal O'Neill würde keinen Abschiedsbrief schreiben.« Er blieb stehen und blickte auf Bariello hinab. »Dass er Selbstmord begehen würde, ist Unsinn. Gottes Gebot ›Du sollst nicht töten.‹ gilt auch für die eigene Person. Sein Verschwinden ist so unerklärlich wie bei den anderen Kardinälen.«
Bariello nahm das bedruckte Blatt in die Hand. »Zumindest muss ihn der Artikel in der La Piccola Gazzetta di Roma heute Morgen, dass er als Generalvikar angeblich den Missbrauch von Kindern vertuscht habe, schockiert haben, falls an den Vorwürfen etwas dran ist.« Er blickte zu Scarlatti hoch. »Die Heilige Messe im Petersdom muss noch abgesagt werden, egal wie viele Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden sind.«
»Kardinalstaatssekretär Rodriguez lässt nicht mit sich reden. Er besteht darauf.«
»Und der Papst?«
»Ist nicht zu sprechen.«
Bariello nahm sein Smartphone vom Tisch und wählte Marisas Handynummer. »Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar. Hinterlassen Sie eine Nachricht«, sagte die Frauenstimme.
Verdammt, Marisa, wo steckst du?
Er wählte eine andere Nummer.
»Christian Antonelli.«
»Wo sind Sie, Christian?«
»Im Petersdom, Commissario.«
»Ich mache mir Sorgen um Marisa, Christian.«
»Ich kümmere mich darum, Commissario.«
*
Der Boden, auf dem sie bäuchlings lag, war kühl, als Marisa in der psychiatrischen Praxis aufwachte.
Ihr Schädel brummte. Dennoch war sofort ihre Erinnerung wieder da.
Sie war wegen eines psychiatrischen Gutachtens, das sie in einer Personalakte im Vatikan entdeckt hatte, zu der Praxis des Psychiaters Lorenzo Castellari gefahren. Denn der Name des Mannes, dem diese Akte zuzuordnen war, war mit einem Pseudonym verschlüsselt: CDSS.LPB.
Der Psychiater hatte eingestanden, dass dieser Mann, sein Patient, vielleicht mit den Kardinalsmorden zu tun haben konnte, und hatte ihr dessen Namen sagen wollen. Doch Jan Herzog hatte das durch sein plötzliches Auftauchen verhindert.
Die letzten Sekunden vor ihrer Bewusstlosigkeit wurden wieder lebendig, der kalte Stahl der Pistolenmündung an ihrer Stirn, der Knall, als sich der Schuss aus Jan Herzogs Pistole gelöst hatte, der Schmerz durch den Schlag gegen ihre Stirn.
Jan Herzog musste sie mit dem Schaft seiner Pistole niedergeschlagen haben.
Sie blinzelte. Vor sich sah sie die metallenen Beine des Nussbaumschreibtisches, vor dem sie zuvor gesessen und mit dem Psychiater gesprochen hatte, und die Schuhe und Hosenbeine von zwei Menschen, eines davon blutdurchtränkt. Der Psychiater Lorenzo Castellari lag dahinter reglos auf dem Boden, die Arme ausgebreitet, das Gesicht ihr zugewandt, seine Hornbrille neben ihm. Sein Blick war leer. Ein blutiges Loch prangte auf seiner Stirn. Die Empfangsdame hockte noch immer an die Wand gekauert auf dem Boden, die Augen rund vor Entsetzen.
Wie lange war ich bewusstlos? Nahezu ohne sich zu bewegen, riskierte Marisa einen Blick auf ihre Armbanduhr. Die Heilige Messe hat schon begonnen.
»Lass uns gehen, Jan.« Die Männerstimme sprach deutsch. Marisa kannte sie nicht. Es kostete sie Mühe, die Worte zu verstehen. »Du wolltest doch, dass wir beide uns mit Amelie ein Leben hier in Rom aufbauen, Jan. Nur deshalb hatten wir verabredet, dass ich heute zu dir nach Rom fliege. Wir wollten eine Familie sein und jetzt das. Erklär es mir.«
»Da ist nichts zu erklären, Josua.« Jan Herzog sprach ebenfalls deutsch. »Eine Weile warten wir noch ab, dann bringst du mich hier raus und alles ist gut.«
»Alles ist gut?« Die Stimme klang wütend. »Du hast den Mann da erschossen, Jan. Hast du Gottes Gebote vergessen? Du sollst nicht töten?«
»Du bist in einem Kloster aufgewachsen, Josua.«
»Scheiße, Mann! Was hat das damit zu tun?«
Marisas Schädel pochte. Keine Chance, Jan Herzog auszutricksen. Er hatte ihre Pistole und ihr Handy. Ein Trommelwirbel raste durch ihren Schädel, als sie sich langsam aufsetzte.
Das Zimmer schwankte. Sie spürte warmes Blut von ihrer Stirn über Nase und Mund laufen und sah Jan Herzog hinter dem Schreibtisch sitzen. Der schlaksige Mann, der neben ihm stand, war jung, fast noch ein Kind.
»Keine falsche Bewegung, Commissaria!« Jan Herzog sprach wieder Italienisch.
Seine Stimme hatte etwas Peitschendes, ließ das Entsichern der Pistole, die er auf Marisa richtete, doppelt widerhallen. Seine Hand zitterte, Schweißtropfen schimmerten auf seinem Gesicht, seine Augen waren blutunterlaufen.
Marisa deutete auf den Psychiater. »Sie haben ihn erschossen. Warum?«
»Notwehr. Er hat eine Pistole aus seinem Schreibtisch gezogen.«
Marisa sah Josua an. »Von wegen Notwehr. Der Psychiater ist nicht der Einzige, den Jan auf dem Gewissen hat, Josua.« Sie sprach Deutsch. Ihr Blick glitt zurück zu Jan Herzog. »Wie viele waren es doch noch gleich?«
»Glaub ihr nicht, Josua.«
Josua sah Jan Herzog an. »Dann erklär es mir.«
Marisas Miene war unbewegt. »Zugegeben. Er wollte es nicht selbst tun. Er hatte einen Auftragskiller engagiert.«
»Seien Sie still!« Jan Herzog schwankte leicht, als er aufsprang. »Sie wissen doch gar nicht, wovon Sie reden! Er hat meine Familie auf dem Gewissen! Er hat meine Schwester Marie getötet, und Mutter und Vater sind daran zugrunde gegangen. Wissen Sie, wie sich das anfühlt, wenn alle, die Ihr Leben ausgemacht haben, unter der Erde verfaulen?«
Josuas Stimme zitterte. »Ich hätte dir nicht erzählen dürfen, dass er es war.«
»Er hat Marie getötet!«
Josua starrte ihn an. »Der Schutz von Gottes wahrer Kirche ist bedeutender, als dass ein Einzelner bestraft wird. Gott wird ihn richten.«
»Scheiße, Mann! Was haben die im Kloster mit dir gemacht, Josua? Er hat Marie getötet und jetzt segnet er Kinder.«
»Josua ist jung und beeinflussbar, Jan.« Marisa stand auf. »Aber Sie wissen es besser. Sie wissen, dass er bestraft werden muss. Wer ist es? Sagen Sie es mir, und ich verspreche, er wird seine Strafe bekommen.«
Jan Herzogs Auflachen hatte etwas Kehliges. »Er ist unantastbar.«
»Also ist er es? Ist es der Papst? Aber warum mussten dann die Kardinäle sterben?«
»Hören Sie auf mit diesen Spielchen, Commissaria.«
Die Antwort blieb Marisa im Hals stecken, als die Tür aufgestoßen wurde und ihr Kollege Christian Antonelli in der Öffnung erschien, seine Pistole im Anschlag. »Waffe runter, Herzog!«, brüllte er.
Die Anspannung im Raum knisterte. Die Empfangsdame auf dem Boden vor der Wand wimmerte.
Christian Antonelli zielte auf Jan Herzog und Jan Herzog noch immer auf Marisa.
»Waffe runter, Herzog!«
Marisa sah es wie in Zeitlupe, dass Jan Herzog seine Pistole auf Christian Antonelli richtete.
»Niiiicht!« Josua beugte sich in der Sekunde zu Jan Herzog vor, als der Schuss aus Antonellis Pistole peitschte.
»Josua!« Jan Herzog erstarrte, als er sah, wie sich Josua von der Kugel getroffen an die Schulter fasste, zurückwankte und neben dem toten Psychiater auf die Knie sackte. Blut quoll zwischen Josuas Fingern hervor.
Marisa hastete um den Schreibtisch herum, schlug Jan Herzog die Pistole aus der Hand, packte den Mann von hinten und drehte ihm die Arme auf den Rücken.
Er stöhnte auf, als sie seinen Oberkörper auf den Schreibtisch drückte.
Sekunden später ließ Antonelli die Handschellen klicken. »Sie sind verhaftet, Jan Herzog, wegen des Verdachtes der Verschwörung gegen den Vatikan und des mehrfachen Mordes.« Er zog Jan Herzog von dem Schreibtisch und drückte ihn zurück auf den Stuhl dahinter.
Marisa hob Jan Herzogs Pistole auf und holte ihre Dienstpistole und ihr Handy aus seiner Jackentasche.
Antonelli nahm ihr das Handy aus der Hand und wählte eine Nummer. »Ispettore Antonelli hier. Einen Rettungswagen zur Viale Cortina d'Ampezzo …«
Marisa musste sich zurückhalten, um Jan Herzog nicht ins Gesicht zu schlagen. »Machen Sie den Mund auf! Wer ist Ihr Komplize? Und was hat er vor?«
Jan Herzog lächelte. »Sie kommen zu spät. Er wird es tun.«
»Während der Heiligen Messe?«
»Ich sage nichts mehr.«
Marisas Blick glitt zu Josua, der sich die blutende Schulter haltend neben der Leiche des Psychiaters auf dem Boden saß. »Geht es tatsächlich um den Papst?«
Josua blickte auf den Boden. »Niemand sollte erfahren, welche Schuld er auf sich geladen hat. Ein Kirchenskandal ohnegleichen. Jerome und … Wir haben alles getan, um zu verhindern, dass es jemand erfährt.«
»Das ist absurd. Sie wissen, dass das absurd ist.«
»Er hat Marie getötet, glauben Sie mir.«
»Gibt es noch etwas, mit dem Sie mir helfen können?«
»Nein. Bitte glauben Sie mir, ich …«
Marisa stand auf, ging zu einem Waschbecken in der Ecke und wusch sich das Blut vom Gesicht.
Ihr Spiegelbild in dem halbblinden Spiegel ließ eine Platzwunde und ein rotblau unterlaufenes Hämatom auf ihrer Stirn erkennen.
Sie blickte Antonelli an. »Check den Computer des Psychiaters, Christian. Wenn du etwas herausfindest, ruf mich an.« Dann lief sie aus dem Raum.
Sie fühlte ihre Hände zittern, als sie auf der Viale Cortina d'Ampezzo den Motor des schwarzen Lancia Delta anwarf, mit dem sie gekommen war. Sie nahm das Blaulicht aus dem Handschuhfach und setzte es durch das Fenster an der Fahrerseite aufs Dach.
»Wo bist du, Marisa?«, drang Carlo Bariellos Stimme aus der Freisprechanlage, nachdem sie seine Handynummer gewählt hatte.
»Der Papst selbst ist das Ziel, Carlo. Hat die Messe bereits begonnen?«
»Ich bin im Petersdom. Die Kardinäle ziehen gerade ein und die Presse ist versammelt.«
»Du musst das sofort stoppen, Carlo.«
»Ich kann es nicht stoppen. Kardinalstaatssekretär Rodriguez hat das untersagt. Wir hätten kein Recht, uns so tief in die Belange des Vatikans einzumischen.« Er stockte. »Und jetzt verstehe ich auch, warum.« Seine Stimme hatte plötzlich einen eigenartigen Klang.
»Bitte?«
»Er ist nicht da, Marisa. Der Heilige Vater ist nicht anwesend. Kardinal Rodriguez führt die Kardinäle in den Dom, nicht der Papst.«
»Dann hat er ihn, Carlo. Dann ist er in den Händen des Mannes, dessen Identität wir nicht kennen, und vielleicht ist er bereits tot.«
Es dauerte einen Augenblick, bis Bariellos Stimme wieder erklang. »Kardinal James William O'Neill ist auch verschwunden, Marisa, bereits seit längerer Zeit. Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen.«