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Der nächste Mord findet im Forum Romanum statt, Commissario.

Rebecca Favellis Stimme wühlte in Commissario Bariellos Schädel, während er sich mit seinem blauen Dienstwagen Fiat Bravo durch den dichten Stadtverkehr vom Vatikan zum Forum Romanum kämpfte.

»Das glaubst du doch selbst nicht, Mann!«

Dieses zuckersüße Pressegirl war in die Sache verstrickt, oder zumindest ihr Chef. Davon war er überzeugt. Er schüttelte den Kopf, während er auf die Hupe drückte, als ihm jemand an der Kreuzung vor dem Kolosseum die Vorfahrt nahm. Sanctus Satanas. Der alberne Titel, den die Presse dem Mörder von Dominguez und Martinez verpasst hatte, ließ ihn nicht los.

Der kurze Ton des Polizeifunks übertönte den Lärm der Stadt draußen. »Wo bist du, Carlo?« Marisas rauchige warme Stimme versank im Rauschen des Funkgerätes.

»Auf dem Weg zum Forum, Marisa. Ich erklär es dir später.«

»Vergiftet, Carlo. Kardinal Costa wurde in seiner Wohnung vergiftet. Seine Haushälterin hat ihn gefunden. An einigen Stellen wurde ihm mit einem scharfen Gegenstand die Haut vom Körper geschält, vermutlich postmortal.«

Bariello verschlug es den Atem. »Lass mich raten? Auch eine Foltermethode der kirchlichen Inquisition.«

»Auf Costas Brust lag ein Rosenkreuz, Carlo. Allerdings ein billiges Ding aus Holz, auf dessen Schnittpunkt eine Rose aufgemalt wurde, dilettantisch geschnitzt, als hätte es jemand sehr eilig gehabt, das Ding herzustellen.«

»Also ein Versuch, es dem Orden unterzuschieben.«

»Unklar. Aber trotzdem haben wir etwas. In der Engelsburg hat die Spurensicherung ein Handy gefunden. Vermutlich hat einer der Täter es dort verloren.«

»Woher wisst ihr, dass es einem der Täter gehört?«

»Als die Burg nach dem Mord auf der Engelsbrücke für Touristen geschlossen wurde, lag es noch nicht da, laut Spurensicherung.«

Bariello spürte ein Kribbeln in den Fingern.

»Kollege Visconti checkt die Daten gerade bei dem Telefonprovider und bei Interpol, Carlo.«

»Ich melde mich später, Marisa.«

»Was …?«

»Später.«

Die Carabinieri, die Bariello über Funk zum Forum Romanum gebeten hatte, warteten bereits auf der Piazza del Colosseo vor dem Ausgang des Forum Romanums, drei Dienstwagen mit jeweils zwei Männern.

Die mächtigen Mauern des Kolosseums links von Bariello waren wie üblich mit Touristen übervölkert, als er aus dem Wagen stieg.

»Commissario Bariello?« Der offensichtlich Älteste der Carabinieri trug das Abzeichen eines Appuntato, eines Oberstabsgefreiten, auf seinen Schultern. Die anderen waren Carabinieri Scelto, Stabsgefreite.

Die Miene des Appuntato hatte etwas Ironisches. »Hat die Polizia di Stato keine eigenen Leute mehr?«

Bariello straffte die Schultern. Der Mann war einen halben Kopf größer als er. »Es musste schnell gehen.«

Der Appuntato verengte die Augen zu Schlitzen. »Also ist diese Aktion nicht einmal genehmigt.« Er wollte sich abwenden. »Ohne uns, Commissario.«

»Sie wissen von den Kardinalsmorden? Sie haben die Chance, im Forum Romanum einen weiteren zu verhindern. Wenn Sie mir Ihre Hilfe verweigern und der Mann stirbt, mache ich Sie verantwortlich.«

*

Schon lange hatte Kardinal Georg Alexander Gutenberg überlegt, das Forum Romanum, in dem er seit einer Stunde umherlief, wieder zu verlassen.

Sein Bruder würde nicht kommen. Doch noch wollte er das nicht wahrhaben. Seit Jahren waren sie zerstritten, und dann heute Morgen plötzlich dieser Brief vor seiner Wohnungstür, dass sein Bruder sich mit ihm im Forum Romanum treffen wollte.

Verpasst haben konnten sie sich nicht. Eine Zielscheibe in roter Signalfarbe hätte zwischen den meist leicht bekleideten Touristen nicht auffälliger sein können als er, in dem dunklen Anzug mit dem weißen Priesterkragen in der Hitze der Sonne aus allen Poren schwitzend. Sein Bruder hätte ihn sehen müssen. Außerdem waren sie genau hier verabredet, mitten auf dem zentralen Forumsplatz.

Schweiß tropfte von seinem Kinn. Da war kaum der Schatten eines Gebäudes. Zwar war er umgeben von Tempeln, Basiliken, Säulen und Triumphbögen, allesamt Jahrhunderte, Jahrtausende alt. Aber es waren nahezu nur noch Ruinen, und manchmal nicht einmal mehr das.

»Eminenz? Commissario Bariello, Polizia di Stato. Bitte kommen Sie mit mir.« Der kleine Mann, mit der Halbglatze, der plötzlich neben ihm stand, hielt ihm einen Ausweis unter die Nase. »Sie sind hier in Gefahr, Eminenz.«

»Woher wissen Sie, wer ich bin?«

»Nur eine Schlussfolgerung. Ihr Priesterkragen.«

»Kardinal Georg Alexander Gutenberg. Was …?«

»Bitte kommen Sie mit, Eminenz.«

»Was soll das? Ich …«

»Zu Ihrer eigenen Sicherheit.«

»Sie müssen es doch in der Zeitung gelesen haben.« Der junge Carabinieri, der neben dem Commissario aufgetaucht war, fasste Gutenberg an den Arm. »Zwei tote Kardinäle. Der Artikel in der La Piccola Gazzetta di Roma war ausführlich.«

Gutenberg befreite sich aus dem Griff. »Das Schmierblatt dieses Kirchenhassers lese ich nicht.«

Bariello blickte auf sein Smartphone, als es vibrierte. Seine Finger fingen an zu kribbelten, als er die MMS aufgerufen hatte, die der Kollege Visconti ihm zugestellt hatte: das Foto eines grobschlächtigen Mannes mit bleicher Haut.

Das ist ein Foto des Mannes, dessen Handy wir in der Engelsburg gefunden haben, stand unter dem Bild. Albuin Sciutto, laut Interpol ein international gesuchter Auftragsmörder.

Der junge Carabinieri neben Bariello atmete hörbar aus. »Dieser Mann ist hier, Commissario. Während wir im Forum auf der Suche nach dem Kardinal waren, ist er mir bereits aufgefallen, wegen seiner krankhaften Blässe und bulligen Statur.« Sein Blick wanderte zu der hohen Mauer, die hinter dem Septimus Severus Bogen das im Vergleich zu den Gebäuden auf dem Kapitolshügel tiefer gelegene Forum Romanum umgab. »Und er ist noch immer da, zwischen den Touristen am Forumsausgang, dort oben auf dem Platz vor der Kirche Santi Luca e Martina. Sehen Sie ihn? Der Kerl starrt in das Forum Romanum. Zwei von unseren Männern sind in seiner Nähe.« Er griff zu seinem Funkgerät. »Antonio, hörst du mich? Aber verhalte dich unauffällig. Der große bleiche Mann in dem schwarzen T-Shirt an der Mauer zum Forum …«

»Sind Sie verrückt?« Bariello riss dem jungen Carabinieri das Funkgerät aus der Hand. »Zu spät, Mann. Jetzt ist er auf ihre Kollegen aufmerksam geworden.«

Sie sahen es.

Sie sahen die Carabinieri oben auf dem Platz vor der Kirche zu dem Auftragsmörder Albuin Sciutto gehen.

Sie sahen, wie der sich versteifte.

»Der zieht eine Waffe.« Bariello gab dem Carabinieri das Funkgerät zurück. »Er ist zu weit weg, um Gutenberg zu erschießen. Bringen Sie ihn in Sicherheit.« Er rannte los.

Es waren Sekunden der Stille. Sekunden, in denen nur die Stimmen der Touristen im Forum zu hören waren, Sekunden wie Minuten, bevor der Schuss fiel.

Wie ein einziger Tropfen ein volles Glas Wasser überlaufen lässt, ließ der Pistolenschuss die Menschen oben auf dem Platz vor der Kirche schreiend auseinanderströmen.

Kardinal Gutenberg sah Bariello die Treppe am Forumsausgang erreichen, die zu dem Platz hinaufführte, während sich die Hand des jungen Carabinieri auf seine Schulter legte. »Kommen Sie mit mir, Eminenz. Ich bringe Sie in Sicherheit.«

Gutenberg riss sich von ihm los. »Lassen Sie mich, Mann.« Sein Kreislauf zahlte der Hitze und Aufregung Tribut. Er wankte. Die Woge aus Menschen auf dem Platz vor der Kirche war zum Stillstand gekommen.

Gott, steh ihr bei!, flehte Gutenberg. Denn das Gesicht einer zarten dunkelblonden Frau oben auf dem Platz schimmerte fahl vor dem schwarzen T-Shirt des muskulösen großen Mannes, der sie an sich presste, ein Mann wie ein Schatten, weiß wie der Tod.

»Er hat recht. Sie sollten sich in Sicherheit bringen.« Das war nicht die Stimme des jungen Carabinieri neben Gutenberg.

Kardinal Gutenberg zuckte zusammen, als er plötzlich einen Major der Schweizergarde vor sich stehen sah. Er hatte den Mann im dunklen Anzug nicht kommen sehen.

Die Hand des Carabinieri zuckte zu seiner Halbautomatik.

»Lassen Sie die Pistole stecken. Ich bin von der vatikanischen Schweizergarde. Oberst Scarlatti hat mich beauftragt, Kardinal Gutenberg in Sicherheit zu bringen.«

Der Unterkiefer des Carabinieri neben Gutenberg malte hin und her. »Commissario Bariello hat nichts davon erwähnt, dass die Schweizergarde über die Vorgänge hier informiert ist. Vorhin wusste der Commissario ja selbst nicht einmal, ob an dem Hinweis, den er erhalten hat, etwas dran ist.«

»Die Schweizergarde hat den gleichen Hinweis erhalten wie der Commissario. Meine Aufgabe ist es, Kardinal Gutenberg wohlbehalten zurück zum Vatikan zu bringen.«

»Ich kenne den Major«, sagte Kardinal Gutenberg, »und ich würde für ihn meine Hand ins Feuer legen.«

»Gut.« Der Carabinieri nahm die Hand von seiner Waffe. »Aber ich begleite Sie.«

*

Das Gesicht zu einer zynischen Fratze verzerrt, presste Albuin Sciutto oben auf dem Platz vor der Kirche Santi Luca e Martina der dunkelblonden Frau, die er an sich drückte, eine Pistole gegen den Schädel. Ihre Augen waren aufgerissen, ihr Körper bebte.

Die Pistolen der beiden Carabinieri vor Albuin Sciutto blitzten im Sonnenlicht, als Commissario Bariello die Treppe erklommen hatte und den Platz betrat.

»Mamaaaa!« Der kleine Junge, der zu der Frau und ihrem Peiniger lief, kam kaum ein paar Meter weit, bevor sein wohl größerer Bruder ihn einfing. Wie am Spieß fing der Kleine an zu schreien.

»Geben Sie auf, Sciutto!« Bariellos Worte gingen in den Schreien des Jungen unter.

»Keiner rührt sich!«, brüllte Albuin Sciutto. »Mein Finger ist direkt am Abzug. Wenn ihr schießt, ist die Frau tot. Sein Kopf ruckte in Richtung des dunkelblauen Dienstwagens der Carabinieri. Er schaute einen der beiden Carabinieri an. »Weg mit der Waffe, Bulle! Du fährst!« Rückwärtsgehend, die zitternde Frau an sich gedrückt, arbeitete er sich bis zu dem Wagen vor. »Ich sagte, Waffe wegwerfen, Bulle, und hinters Steuer! Aber vorher die Hintertür auf!«

»Seien Sie vernünftig, Sciutto«, wagte Bariello einen Vorstoß, während der Carabinieri Sciuttos Anweisungen folgte und sich hinter das Steuer des Wagens setzte.

»Schnauze, Mann!«

»Mama!« Der kleine Junge riss sich von seinem Bruder los und rannte zu Sciutto und seiner Mutter.

Der Knall der Pistole, als Sciutto auf den Jungen schoss, die Aufschreie der Menschen, das spritzende Blut, der Schrei der verzweifelten Mutter, chancenlos gegen Sciuttos Griff.

»Neeeiiin!«, schrie sie, als sie von Sciutto auf den Rücksitz des Wagens gestoßen wurde, während ihr blutendes Kind in sich zusammensackte, ein Sekundenbruchteil, bevor Sciutto neben sie in den Wagen stieg.

Der Motor heulte auf, als der Wagen losfuhr und über die Via dei Fori Imperiali davonraste.

»Hör auf zu jammern, Weib!« Sciutto drückte den Kopf seiner Geisel mit der Waffenmündung gegen die Scheibe des Wagens.

»Sie … Sie haben meinen Jungen getötet!«

»Ich war ein bisschen nervös. Warum musste der Bengel auch so rumschreien? Und jetzt hör auf, mich mit deinen Rehaugen so anzuglotzen. Ich werde dich schon nicht fressen.«

Hört, hört, dachte der Carabinieri am Steuer. Ihr Kind hast du doch schon gefressen.

»Schneller!«, brüllte Sciutto hinter ihm.

»Unmöglich!«

»Ich sagte, schneller, sonst fliegt dir der Kopf weg!«

Der Carabinieri spürte die harte Mündung der Waffe an seinem Schädel. »Ja, ja, schon gut.«

»Halt die Klappe, Weib!« Mit dem Handrücken schlug Sciutto der wimmernden Frau ins Gesicht. »Pfui, Teufel! Dreh dich weg! Ich will das nicht sehen!«, schrie er, als ihr Blut aus der Nase spritzte.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, brüllte der Carabinieri, als er vor ihnen einen Lieferwagen rechts aus einer Einfahrt fahren sah.

Unmöglich, noch auszuweichen. Die Reifen quietschten, als er das Bremspedal durchdrückte. Ruckelnd setzte das ABS ein.

Der Knall des Aufpralls und des Airbags, das Knirschen und Krachen des sich verbiegenden Wagens dröhnten ihm in den Ohren, bevor er das Bewusstsein verlor.

Die Frau schrie, als sie mit dem Kopf erst gegen den Vordersitz und danach gegen die Seitenscheibe schlug, als der Wagen plötzlich nach links schleuderte, bevor auch für sie die Welt im Dunkeln versank.