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Mehr als tausend Kilometer weiter nördlich in Deutschland prasselte wenig später Regen gegen die Fenster des Landeskriminalamtes Berlin.
Eigentlich lächerlich. Was hatte sie schon mit einem Mord in Rom zu tun? Doch niemand anderer hätte auf das Foto des Rosenkreuzes im Google Online-Nachrichtenticker so reagiert.
Eine Leiche war gefunden worden, vor ein paar Stunden am heutigen Morgen auf der Engelsbrücke in Rom, mit diesem goldenen Kreuz in der Hand. Niemand anderem hätten sich deswegen Schatten von Erinnerungen aufgedrängt, so heftig, so unwillkürlich, dass es ihr den Atem nahm.
Sie hört die Wellen rauschen. Sie atmet den salzigen Geruch der Ostsee, den Gestank faulender Algen.
Wie ein Knochen aus einem Kadaver ragt das meterhohe Kreuz über dem Eingangstor des Klosters aus dem moderigen Gemäuer.
Etwas ist hier. Etwas bewegt sich …
Lena zuckte zusammen. Der menschliche Schatten, der links neben ihr aufgetaucht war, rief sie in die Realität zurück. Der Computerbildschirm vor ihr auf ihrem Schreibtisch materialisierte sich. Regen prasselte gegen das Fenster zu ihrer Rechten.
»Du siehst beschissen aus, Lena.«
Worte aus dem Mund ihres Kollegen Kommissar Peter Stolberg, der neben ihr stand und auf sie hinabblickte, vierundvierzig Jahre alt, groß, schlank, kurzes dunkles Haar, glücklich verheiratet, zwei Kinder. Wie er sich trotz der harten Arbeit in der Mordkommission des Berliner Landeskriminalamtes sein sonniges Gemüt hatte bewahren können, war ihr ein Rätsel.
Peters breites Lächeln, das hinsichtlich der Akkuratheit und dem Weiß seiner Zähne den Idealstatus für jede Zahnpastawerbung erfüllte, entlockte ihr nur ein müdes »So?«
»Du solltest mal Urlaub machen, Lena. Das predige ich dir doch schon seit Wochen. Im Moment ist es hier doch ruhig. Seit Tagen kein Mord.« Peters Blick fiel auf den Artikel über den Mord in Rom auf Lenas Computerbildschirm. »Davon hab' ich gelesen.« Er zuckte mit den Schultern. »Irgendein Irrer, sage ich. Nicht unser Problem.«
Möglich, dachte Lena. »Vielleicht hast du recht«, sagte sie laut. »Urlaub.« Sie seufzte. »Würde mir guttun.«
Peter lächelte nicht, als er sich auf seinen Bürostuhl an den Schreibtisch gegenüber von ihr setzte. »Natürlich. Die beste Art, Beziehungsstress abzubauen.«
Lenas Miene verdüsterte sich. Sie klickte den Artikel über den Mord in Rom weg. »Das ist vorbei. Marc ist ausgezogen.«
»Jetzt behaupte bloß nicht, du wärst drüber hinweg. Dein Blick, als ich reinkam, sagte alles.«
»Das hatte nichts damit zu tun.«
Peter lächelte wieder. »Natürlich nicht. Take ist easy, Baby. Du bist noch jung. Kaum über dreißig, oder? Und bei deinem Äußeren kannst du 'ne Menge haben.«
Lena beurteilte ihr Aussehen eher durchschnittlich, 1,75 Meter groß, schlank, dunkelblondes schulterlanges Haar, blaue Augen, nichts, was sie beeindruckte, wenn sie in den Spiegel sah. Sie stand auf. Peter meinte es gut, aber sein Gequatsche nervte. Dennoch zwang sie sich zu einem Lächeln. »Mal sehen, was der Chef zu ein paar Tagen Urlaub sagt.«
»So beschissen, wie du aussiehst, wundert es mich, dass er dir den nicht schon längst verordnet hat.«
»Danke.«
»Du weißt, wie ich das meine.«
»Warum suche ich mir eigentlich immer die falschen Männer aus, Peter. Ich mein, sieh dich an. Du trägst deine Frau auf Händen, bist ein toller Papa …«
»Das solltest du mal Ilona sagen. Die sieht das ganz anders. Ich arbeite zu viel, kümmere mich zu wenig um die Kinder und um sie natürlich.«
»Sie wusste, dass sie einen Polizisten heiratet.«
»Deswegen erträgt sie es ja auch.«
Lena ging aus dem Büro in den Flur. Draußen fielen die letzten Tropfen Regen. Eines der Fenster stand offen und sie schloss es.
Der Mord auf der Engelsbrücke in Rom, das Rosenkreuz, das bei der Leiche gefunden worden war. Eigentlich hatte sie damit nichts zu tun. Eigentlich. Aber ihr Gefühl und ihr Herz sagten etwas anderes.
Was war an dem goldenen Kreuz, auf dessen Schnittpunkt eine Rose abgebildet war, schon so besonders? Wahrscheinlicher, dass sie einem Hirngespenst hinterherjagte, als dass an der Sache etwas dran war. Und dennoch würde sie jetzt etwas tun, das sie schon seit Jahren hatte tun wollen, etwas, das sie in sich verbarrikadiert hatte, als sei es etwas Verderbtes. Hilf mir, Lena! Diese Stimme war nur in ihrem Schädel, aber sie ließ sich nicht löschen, seit Jahren.
Alice blickte von ihrem Schreibtisch zu ihr auf, als Lena das Vorzimmer ihres Chefs betrat. Alices Mund zeigte ein Lächeln, doch in ihren Augen stand Besorgnis. »Ist dir nicht gut, Lena? Du bist so blass.«
»Ja, schon gut. Kannst du mir sagen, wie viele Überstunden ich habe, die ich noch abbauen kann?«