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Das Telefonat mit Fabio Visconti ging Marisa im Vatikan in Rom eine halbe Stunde später noch immer nicht aus dem Kopf.

Was, wenn es nicht nur Viscontis Fantasie war, die mit ihm durchging? Auch der Papst hatte eine Vergangenheit.

Die Stimmen ringsherum, das Tippen auf den Computertastaturen, das Rascheln von Papier hallten in dem prunkvollen Saal wider, welcher der Polizia di Stato im Apostolischen Palast im Vatikan für ihre Ermittlungen hinsichtlich der Morde zur Verfügung gestellt worden war.

Der Stuhl, auf dem Marisa saß, knarrte, als sie die Personalakte auf dem braunen Holztisch vor sich aufschlug und zu Frederica Branca aufsah, die neben ihr stand.

»Ich weiß es wirklich nicht, Commissaria.«

Frederica Branca rückte ihre Brille zurecht.

In den braunen Augen der hageren Verwaltungsangestellten spiegelte sich offene Abneigung, während sie auf die beneidenswerte Flut aus kastanienrotem Haar dieser jüdischen Commissaria Marisa Capecci hinabblickte. Natürlich fühlte Frederica Neid, und natürlich war sie sich dessen bewusst. Zu einfach vorstellbar, wie die Männer um diese Frau herumschlichen, sie mit Komplimenten überschütteten, sich für sie zu Deppen machten, nur um Eindruck bei ihr zu schinden. Mein Gott, grün, dachte sie, als ihr Blick den von Marisa traf. Grüne Augen! Und diese Wimpern! Nicht einmal Schminke hat die nötig.

»CDSS.LPB«, sagte Marisa mit Blick auf die verkniffenen Lippen von Frederica Branca. »Das ist doch ein Pseudonym für jemanden. Sie müssen diese Personalakte hier doch einer echten Person im Vatikan zuordnen können.«

»Und wenn Sie mich noch hundertmal fragen.« Frederica Brancas Stimme verfing sich in dem trotzigen Klang eines Kindes. »Diese Personalakte ist schon da, seit ich hier beschäftigt bin, in dem gleichen Zustand wie jetzt.«

»Und Ihre Vorgängerin? Vielleicht weiß die mehr.«

»In Rente. Auf Sizilien lebt sie jetzt, glaube ich. Ich könnte versuchen, das herauszufinden.«

»Tun Sie das.«

Marisa gönnte ihr keinen Blick mehr, als Frederica Branca davonging. Unmöglich aus dem Wenigen an Informationen in der Akte zweifelsfreie Rückschlüsse zu ziehen. Die mit dem Pseudonym »CDSS.LPB« bezeichnete Person war ein Mann, denn sie wurde mit Signore betitelt, und dann war da noch dieses psychiatrische Gutachten, das Marisa keine Ruhe ließ.

Sie tippte die Adresse, die in dem Gutachten erwähnt war, in ihren Computer und ließ sich von Google-Maps die Route errechnen. Gut zwanzig Minuten würde die Fahrt dauern.

»Das musst du dir ansehen, Marisa.« Ihr Kollege Christian Antonelli stand vor ihr. »Das wirst du nicht glauben.«

»Was?«

»Komm mit zu meinem Platz.«

Antonellis Blick hatte etwas Triumphierendes, als sie zu seinem Arbeitsplatz gegangen waren und auf seinen Computerbildschirm blickten.

»Das ist die Phantomzeichnung«, sagte Marisa, »die Carlo Bariello aus seiner Erinnerung hat anfertigen lassen, der Mann, der auf ihn geschossen hat, den wir inzwischen als Major Joel Born identifiziert haben.«

»Genau.« Antonelli drückte eine Taste auf seiner Computertastatur. Ein neues Bild erschien. »Und das ist das Originalfoto von Major Joel Born aus seiner Personalakte.«

»Okay.« Marisa runzelte die Stirn, als wieder ein neues Bild erschien, nachdem Antonelli eine Taste gedrückt hatte. »Und das ist auch Major Born«, sagte sie.

»Falsch.«

»Bitte?«

»Das ist Jan Herzog.«

Ihre Blicke trafen sich. Antonelli lächelte.

»Das Foto von der Familie Herzog, das dir Fabio Visconti aus Deutschland auf dein Handy geschickt hat. Ich habe den Jungen darauf mit entsprechender Computersoftware um knapp zwanzig Jahre altern lassen.«

Also doch, dachte Marisa. »Aber wir haben Major Borns Identität doch überprüft, Christian. Alles einwandfrei, ein Schweizer aus gut situiertem Elternhaus.«

»O ja, auf den echten Joel Born trifft das auch zu.«

»Erklär mir das.«

»Vor ein paar Augenblicken hab ich mit den Eltern von Joel Born in der Schweiz telefoniert und mir von Joels Vater per E-Mail ein Foto von Joel Born schicken lassen.«

Das triumphierende Lächeln auf Antonellis Gesicht hatte etwas Nervtötendes. Mit einem Klick seiner schwarzen Computermaus ließ er ein weiteres Foto neben dem ersten erscheinen. »Links auf dem Foto ist Jan Herzog, rechts der echte Joel Born.«

Marisa atmete hörbar aus. »Verfluchte Ähnlichkeit.«

»Der echte Joel Born hat die Grundausbildung in der Schweizer Armee absolviert, Grundvoraussetzung für die Aufnahme in das Bewachungsorgan des Vatikans, die Schweizergarde. Nach Beendigung der Grundausbildung hat er den Dienst allerdings quittiert und ist abgerutscht, Alkohol und Drogen. Er ist von zuhause abgehauen und hat sich da nie wieder blicken lassen. Seine Eltern wussten nicht mal, ob er noch lebt.«

Marisa runzelte die Stirn. »Der Gedanke, dass er vielleicht nicht mehr lebt, liegt nah, oder?«

Ihre Blicke trafen sich.

Antonelli verzog keine Miene. »Du meinst Jan Herzog hat ihn getötet, um in seine Identität zu schlüpfen?«

»Vielleicht musste er das gar nicht«, sagte Marisa. »Drogen und Alkohol, ein tödlicher Cocktail. Borns Identität anzunehmen, war Jan Herzogs einzige Chance, als Deutscher in die vatikanische Schweizergarde zu gelangen. Beide sind von zuhause fortgelaufen. Vielleicht haben sie sich in Deutschland oder in der Schweiz kennengelernt, haben sich angefreundet, und später musste Jan Herzog nichts weiter tun, als in die Rolle von Joel Born zu schlüpfen und dessen Lebenslauf ein wenig zu frisieren.« Sie blickte Antonelli an. »Der Papst muss noch stärker bewacht werden, Christian. Sorge dafür.«

»Keine Chance, Marisa. Die lassen uns nicht an ihn heran. Oberst Scarlatti ist der Meinung, das sei Aufgabe der Schweizergarde und des Gendarmeriekorps.« Christian Antonelli folgte Marisa, als sie zu ihrem Platz zurückging.

»Ruf Fabio Visconti in Deutschland an, Christian. Erzähl ihm alles.« Sie nahm ihr dunkles Damenjackett von der Stuhllehne und blickte auf. »Carlo!«

Mit Commissario Bariello, der plötzlich neben ihnen stand, hatte sie nicht gerechnet. Marisas Blick glitt über die dunklen Ränder unter seinen Augen, die glänzende Schweißschicht auf seiner Halbglatze. »Du gehörst ins Krankenhaus. Mit einem Bauchschuss ist nicht …«

»Wie sollte ich es da wohl aushalten, Marisa?«

»Setzen Sie sich, Commissario.« Christian Antonelli schob Bariello Marisas Stuhl hin.

Bariello blickte zu Marisa hoch, als er sich gesetzt hatte. »Nur eine Fleischwunde. Es geht mir gut, Marisa.«

»Nur solange bis deine Frau erfährt, dass du sie über deine Verletzung im Unklaren gelassen hast. Wenn sie das erfährt, wird sie dich töten.«

Bariello lächelte. »Mag sein.«

Marisa zog sich das Jackett über. »Also gut. Christian wird auf dich aufpassen, Carlo, und dich über den neuesten Stand der Ermittlungen in Kenntnis setzen. Schließlich hat Graziano deine Beurlaubung aufgehoben.« Sie lächelte. »Zwangsweise.«

Christian Antonelli hielt Marisa am Arm fest, als sie sich abwenden wollte. »Wohin willst du?«

»Da ist etwas in einer der Personalakten. Es muss nichts zu bedeuten haben. Aber ich muss es überprüfen.«

»In wenigen Stunden beginnt die Heilige Messe im Petersdom«, sagte Antonelli.

»Bis dahin bin ich längst zurück.«

Bariello blickte zu Antonelli hoch, als Marisa gegangen war. »Heilige Messe?«

Antonelli nickte. »Der Papst hat darauf bestanden. Mehrere Fernsehteams sind geladen, um der Welt zu zeigen, dass die katholische Kirche diesen Mördern die Stirn bieten kann.«

»Das ist verrückt.«

»Treffender könnte ich es nicht ausdrücken, Commissario.«

Bariello nahm die dünne Personalakte in die Hand, die aufgeschlagen auf Marisas Schreibtisch lag. »Ist das die Personalakte, von der Marisa gesprochen hat, Christian?«

Antonelli zuckte mit den Schultern. »Marisa hat mich nicht eingeweiht.«

Bariello runzelte die Stirn. »CDSS.LPB. Das muss ein Pseudonym für jemanden sein, für jemanden, dessen Identität verschleiert werden soll, aus welchem Grund auch immer.« Er las das psychiatrische Gutachten in der Akte. Sein Blick glitt zu Marisas Computerbildschirm. Noch immer war dort Google-Maps aufgerufen. »Sie ist zu dieser Adresse gefahren.«

»Bitte kommen Sie schnell!«

Christian Antonelli erkannte in der hageren Frau, die plötzlich vor ihnen stand die Verwaltungsangestellte Frederica Branca.

»Bitte kommen Sie! Es ist etwas passiert. Gott, steh uns bei. Kardinal James William O´Neill. Er …«