Kapitel 44
Dachau
„Erinnerst du dich an unseren letzten Herrenabend in deinem Haus, Benedikt?“, fragte Robert Hirschau.
„Als wir wie betrunkene Narren in meinem Arbeitszimmer umhergestolpert sind?“
„Ja, was wir gleich wieder tun werden, wenn wir uns weiterhin den Whisky so reinschütten. Ich sehe heute noch Mathildas Gesicht vor mir, als sie das Arbeitszimmer betrat und du mit der Jagdtrophäe deines Vaters durch das Arbeitszimmer gehüpft bist und dabei gebrüllt hast wie der Löwe von Flandern.“
Van Cleef goss Hirschau Whisky nach. „Erinnere mich nicht daran. Mathilda befürchtet, dass dieser Abend ähnlich ausarten wird. Sie hat uns eine Pizza besorgt, wie damals. Möchtest du ein Stück?“
„Ja. Eine gute Grundlage ist nie verkehrt, wenn man mit einem alten Freund einen hebt.“
Van Cleef reichte Hirschau ein Stück Pizza. „Es ist also wirklich ernst? Du heiratest Alexandra?“
Hirschau schaute verträumt in das flackernde Kaminfeuer und drehte das Whiskyglas. „Am zwölften Februar, egal, was auch passiert. Endlich kommt ein rastloser Rumtreiber zur Ruhe. Sie ist die Frau, die ich immer haben wollte. Und wir werden phantastisch harmonieren. Sie ist eine verdammt gute Psychiaterin.“
Für van Cleef war das kein Wunder. „Du und die Psychologie.“
„Der attraktivste Klapsmühlendoktor, den man je gesehen hat“, schwärmte Hirschau. „Außerdem ist sie klug. Ich bin wahnsinnig verliebt in sie, Benedikt. Ach was: Ich bin ganz verrückt nach ihr!“
Van Cleef lächelte. „Das freut mich für dich. Ich verstehe dich sehr gut. Als ich Mathilda das erste Mal begegnete, wusste ich sofort: Das ist die Frau, die ich heiraten werde.“
„Ich erinnere mich. Und bald wirst du Vater von Zwillingen. Die zukünftigen Weltmeister im Schwergewichtsboxen, meint Mathilda.“
„Sag mal, hat Alexandra noch immer Schuldgefühle wegen … wie hieß der noch mal? Gottfried?“
„Gernot.“
Hirschau kippte schnell einen Schluck herunter, um den Geschmack loszuwerden, den dieser Name auf der Zunge hinterließ. „Wenn man drei Wochen vor dem Gang zum Traualtar seine Hochzeit abbläst, sollte man eigentlich schon Schuldgefühle bekommen. Sie wollte diesen Idioten tatsächlich heiraten!“
Plötzlich wurde van Cleef ernst und wechselte das Thema. „Etwas geht mir nicht aus dem Kopf. Es muss einen Grund geben, weshalb Anna sowohl Kreilers wie auch Jakobs Obsession war.“
„Manchmal fühlen Menschen, wenn sie einander begegnen, etwas, das sie vorher nie empfunden haben: die perfekte Übereinstimmung“, antwortete Hirschau. „Ein ehemaliger Professor von mir meinte, das wäre so, als würde man seine Seele finden. Anna war Kreilers und Jakobs Seele.“
Van Cleef sah ihn an. „Was meinst du? Wird sie sich jemals von allem erholen?“
„Die Frage kann ich dir nicht beantworten“, sagte Hirschau. „Würde ich zu ihr sagen: Erzähl mir, wie es sich angefühlt hat, dann wüsste ich es vielleicht“, sagte er leise. „Aber solche Fragen stellt man nicht.“
Van Cleef zögerte. „Sie hat deiner zukünftigen Frau alles erzählt. Und das war auch gut so. Sie vertraut Alexandra.“
Hirschau lachte. „Und Alexandra ist verschwiegen. Von ihr hat Anna von Dr. Ansgar erfahren. Er ist eine Kapazität auf dem Gebiet der Opferbetreuung.“
Van Cleef nickte. „Die österreichischen Kollegen haben uns die DNA-Proben geschickt, die man bei Kreilers Leiche gefunden hat. Sie stimmen mit denen überein, die wir bei unseren diversen Mordopfern gefunden haben. Fazit: Kreiler war in die Morde verstrickt. Wir haben umfassendes Material in seinen Wohnungen gefunden und gesichtet. Er war zwar niemals am Tatort, aber ich glaube, dass er jemanden beauftragt hat, diese Leute zu töten. Wir haben seine Bankkonten überprüft. Von seinem Konto wurden in den vergangenen Wochen dreihunderttausend Euro abgehoben. Das sieht nach einem Auftragskiller aus.“
„Gott sei Dank ist es jetzt vorbei“, bemerkte Hirschau.
„Bist du dir da sicher? Wir wissen nicht, wer der Täter ist.“
„Nur, dass er am Schluss auch seinen Auftraggeber umgebracht hat.“
„Wahrscheinlich, aber wir können es nicht mit absoluter Gewissheit sagen.“
„Auftragskiller arbeiten anonym. Wieso hat er Kreiler ermordet? Was glaubst du?“
„Weil er kein Risiko eingehen wollte, dass wir ihm auf die Spur kommen. Aber sollte er wieder mal zuschlagen, dann haben wir seine DNA und damit vielleicht die Möglichkeit, ihn zu fassen. Das BKA hat Interpol und Europol eingeschaltet. Irgendwann macht er einen Fehler.“
„Und Mathias Rommel?“, fragte van Cleef.
„Den hat Kreiler selbst umgebracht. Da konnte er sich nicht beherrschen und hat eine Grenze überschritten, um Anna damit zu belasten.“
Van Cleef hielt kurz inne. „Anna muss sich von der Vergangenheit lösen und neu erschaffen.“
Hirschau nickte und holte tief Luft. „Das wird sie. Schade, dass Alexandra ihr nicht eher als Ärztin begegnet ist. Dann hätte sie sicher viel früher eine Chance gehabt. Da wir gerade bei der Vergangenheit sind: Ich habe mich auch mit deiner beschäftigt, mein Lieber.“
Van Cleef sah ihn verdutzt an. „Mit meiner Vergangenheit?“
„Jedenfalls weiß ich nun, dass du einen tadellosen Ruf genießt, obwohl du dich manchmal im Suff auf die Pflastersteine deiner Terrasse konzentrieren musst, weil du ansonsten hin und her schwanken würdest.“
„Die Steine verlangen aber auch Navigationsgeschick.“
Hirschau lächelte. „Ich musste dich überprüfen. Ob du nicht ein Mitglied einer terroristischen Organisation oder ein Mafiosi bist. Aber alles, was ich gefunden habe, war nur bester Leumund. Und den Gang durch die Kirche wirst du wohl auch ohne Stolpern schaffen.“
Van Cleef runzelte die Stirn. „Das verstehe ich nicht. Warum erzählst du mir das?“
„Ich möchte, dass du mein Trauzeuge wirst.“
„Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich ein verkannter Geisterbeschwörer oder womöglich ein Psychopath?“
Robert schüttelte den Kopf. „Ich konnte in deiner Akte nichts dergleichen finden. Aber ich spüre da gewisse Schwingungen.“
„Du meinst, wir sollten mal hier durchs Haus gehen und ein bisschen Voodoo veranstalten und Geister beschwören, um uns ein wenig mit den Herrschaften zu unterhalten?“
„Lass es mich wissen, wenn du es dir anders überlegst.“
Van Cleef zwinkerte ihm zu. „Selbstverständlich werde ich dir zur Seite stehen. Nüchtern!“
„Du bist ein wahrer Freund. Lass uns zu Bett gehen. Ich befürchte, dass du, wenn wir uns weiter volllaufen lassen, in einer Stunde mit den afrikanischen Safari-Trophäen deines Vaters durchs Zimmer hüpfst.“
„Ist ein Mann ein Tiger, ist er immer ein Sieger!“
„Gute Nacht, Benedikt.“
***
Er wollte nur noch schlafen, entschied Robert Hirschau. Er wollte unter die Dusche und ins Bett. Vom Whisky angenehm benebelt, schleppte er seine Reisetasche in das obere Stockwerk und wühlte darin, bis er alles fand, was er für die Nacht benötigte.
Er ging ins Bad und zog sich langsam aus. Unter der Dusche überkam ihn das schlechte Gewissen. Hätte er Benedikt erzählen sollen, dass er im Verlauf seiner nach der Mordserie wieder aufgenommenen Ermittlungen gegen das organisierte Verbrechen auch auf den italienischen Pharmakonzern Biocell, das Familienunternehmen der Gavaldos, gestoßen war? Von Genmanipulation war im Bericht des Informanten die Rede gewesen. Und von In-vitro-Versuchen an ungeborenem Leben. Von Versuchen an … Nein, er wollte nicht daran denken, und es gehörte an einem solchen Abend nicht hierher. Außerdem war es erst mal nur ein Verdacht, hatte der Informant geschrieben. Beweisen konnte er bis jetzt noch nichts. Und doch … Er wusste, wie korrupt Menschen sein konnten, wenn es ums große Geld ging.
Nach einer langen Dusche stieg er, begleitet vom unaufhörlichen Rauschen des Regens, in die frischen Laken. Es dauerte keine dreißig Sekunden, bis er schlief.
Er träumte, dass ein Baby weinte. Babys weinten nun mal, wann immer ihnen danach war. Klang es eher beunruhigt und ärgerlich als ängstlich? Jemand sollte gehen und es in den Arm nehmen und tun, was man mit weinenden Babys so tat. Es füttern, frisch wickeln, es wiegen. Das Baby hatte Angst. Er konnte es am Klang seines qualvollen Schreis hören. Er öffnete die Augen und fand sich in einem Labor wieder. Das Schreien war jetzt ganz nah an seinem Ohr. Er blickte zur Seite und entdeckte das winzige Wesen eingequetscht in einem Reagenzglas, seine Hände hilfesuchend emporgestreckt, das kleine Gesicht von Furcht gezeichnet. Hinter ihm stand eine Gestalt in einem weißen Kittel. Er konnte schwach eine Kontur erkennen, und sie kam ihm irgendwie vertraut vor.
Er wachte schweißgebadet auf und fand es
überaus seltsam, dass er sich vor der Tür mit dem Messingknauf in
Benedikts Arbeitszimmer befand. Es war das erste Mal, dass er
schlafgewandelt war.
***
Es waren nur Indizien, die van Cleef gegen Kreiler vorbringen konnte.
„Selbst wenn es so wäre, könntest du ihm verzeihen, nachdem du erfahren hast, was er als Kind erdulden musste?“, fragte Mathilda ihren Mann wenige Tage später, als sie vor dem Kamin auf der Couch saßen und das knisternde Feuer beobachteten.
„Ich bin Polizist“, sagte er, „ich verbringe mein Leben damit, Schuld zuzuweisen. Kreiler hat mich absichtlich hinters Licht geführt, was Anna betraf. Erst durch Robert bin ich auf den Zusammenhang aufmerksam gemacht worden. Und außerdem kann ich nicht so tun, als sei es Zufall gewesen, dass Annas Therapie in eine fatale Richtung gelenkt wurde, und ich weiß nicht, inwieweit ich dafür Verantwortung trage.“
„Du hast wegen Anna Schuldgefühle, weil du Kreiler deine Hilfe angeboten hast. Und durch diese Akte wurde er an die Greueltaten seiner Kindheit erinnert. Das ist der entscheidende Punkt. Du hast Anna zwar in eine üble Situation gebracht, doch das konntest du nicht wissen. Diese Lage wäre auch ohne Kreilers Akteneinsicht entstanden. Vielleicht hast du ihr sogar das Leben gerettet, indem sie nun endlich mit der Vergangenheit abschließen kann.“
„Das mag schon sein, aber ich löste damit diese irrsinnige Mischung aus Wut und Wahnsinn aus, die einen Menschen dazu brachte, andere Menschen töten zu lassen.“
Mathilda sah ihn ernst an. „Dafür hat er seine Strafe erhalten, Liebling.“
„Ich weiß.“
„Auch ich fühle mich schuldig. Ich habe Anna nicht ernst genommen, wenn sie mir sagte, dass sie das Gefühl habe, jemand würde sie beobachten. Erst war es dieser …“ Mathilda schüttelte sich. „Und dann hat Kreiler diesen Part übernommen. Das wird mir nie wieder passieren.“
„Kreiler hatte bei den Morden seine Finger im Spiel. Nicht als Täter, aber er hat jemanden beauftragt, diese Menschen umzubringen. Und den Gärtner hat er eigenhändig umgebracht. Wir werden wohl nie erfahren, wie tief er in die Sache verstrickt war, außer wir fassen den Verdächtigen, der die blonden Haare an den Tatorten hinterlassen hat. Aber Kreiler hätte den Rest seines Lebens in der Psychiatrie verbringen müssen, wenn er überlebt hätte.“
„Er war ein bemitleidenswerter Mensch. Ob wir ihm irgendwann verziehen hätten? Vielleicht. Jedenfalls hat Anna Lukas verziehen. Aber wir werden jetzt besser auf sie achten müssen. Und auch auf Max. Er trinkt in letzter Zeit zu viel.“
„Was würde ich bloß ohne dich machen, Mathilda?“
„Ich muss dir etwas gestehen“, sagte sie leise. „In letzter Zeit hatte ich selbst sogar das Gefühl, beobachtet zu werden.“
Er nahm sie in den Arm. „Seltsam, dass du das sagst. Robert Hirschau teilte mir vor einigen Tagen im Rahmen der Ermittlung ein paar Dinge mit, die bei mir ein seltsames Gefühl der Angst auslösten. Wir leben in einer schrecklichen Welt, sagte er. Und plötzlich hatte ich Angst, dass dir etwas zustoßen könnte. Allein den Gedanken daran ertrage ich nicht. Aber Robert sagte auch …“
Mathilda unterbrach ihren Mann, indem sie den Zeigefinger auf seine Lippen legte. „Benedikt, ich liebe dich! Und was gab Robert sonst noch so von sich, außer dieser Psychopathenscheiße?“
Er lachte. „Er sagte auch, dass Phobien nicht ansteckend sind.“
„Oh! Hört, hört! Er hat was gut bei mir! Ich …“ Plötzlich stockte sie und verzog schmerzhaft das Gesicht.
„Was ist denn, Mathilda?“, fragte er besorgt.
„Ich glaube, du wirst in Kürze die Gebrüder
Klitschko in deinen Armen wiegen können.“
***
Ein Hotelzimmer nahe der polnischen Grenze. Pawel Kubanek schloss seine Augen, streckte sich und atmete tief den neuen Morgen ein. Dann fiel er in den Schatten eines Traums.
Er schlug seine Augen auf und sah eine atemberaubend schöne Frau mit rotem Haar, strahlend smaragdgrünen Augen und makelloser Elfenbeinhaut neben sich knien.
„Wer bist du?“, fragte er.
Als sie sprach, tat sie es mit der sanftesten Stimme, die er je gehört hatte. „Die, die ich sein soll, die, die du haben möchtest.“
Mit einem Mal wusste er, wo er war. Aber konnte man nicht auch aus den Worten einer Hure im Bordell eine elegante Metapher für Liebe herauslesen?
„Du bietest mir deinen Schoß an?“, fragte er und befahl seiner inneren Stimme, die Wildnis in ihm zum Schweigen zu bringen.
„Nein, er steht dir nicht zu. Er gehört dir nicht.“
Wie recht sie doch hatte. Er dachte, er hätte endlich eine verwandte Seele gefunden, jemanden, der seinen speziellen Platz in dieser Welt, seine spezielle Bürde, verstand. In Dürrezeiten musste man neue Brunnen finden.
„Dann schenk mir deinen Körper“, sagte er.
Daraufhin begann die Hure, sein Hemd aufzuknöpfen und ihn auf die Brust zu küssen.
Er legte seinen Kopf in den Nacken, schloss die Augen und wartete darauf, dass sie seinen Hosenbund erreichte, den Reißverschluss darunter öffnete und ihn in sich aufnahm.
„Du bist so müde“, flüsterte sie und ließ ihre Zungenspitze über seinen Bauch gleiten. „Du musst dich hingeben.“
„Ja“, sagte er atemlos.
Er bog lustvoll sein Kreuz durch und reckte sich ihr entgegen. Und da fühlte er den ersten brennenden Stich in seinem Brustbein. Er versuchte sich aufzusetzen, doch er konnte kaum den Kopf heben.
Er erhaschte einen Blick auf ein von Blut triefendes Skalpell. Sein Blut. Dann fühlte er, wie die rothaarige Hure begann, ihn aufzufressen, wie sie ihre rasiermesserscharfen Zähne in seine Haut schlug, während sie mit ihren Krallen so gierig am Brustbeinknochen darunter kratzte, dass er zersplitterte.
Der Schmerz war unbeschreiblich, eine höllische Folter, die ihn schreiend und schweißnass aus dem Schlaf hochschrecken ließ.
Er konnte keine Zuflucht finden. Nicht bei Tag, nicht bei Nacht. Er musste es irgendwann hinter sich bringen und in die Hochschwangere eintauchen.
Er betrat die Hotelterrasse. Vom Geländer starrte ihn selbstgefällig eine Taube mit hellen Augen an, von seiner Ohnmacht und ihrer Unverletzlichkeit überzeugt. Er traf sie mit einem festen Tritt. Zu seiner Befriedigung stieß sie einen lauten Schrei aus. Ein paar graue Federn sanken auf den Vorsprung und verschwanden langsam in der Dunkelheit.