Kapitel 43

Salzburg

Mechthild Hensel hatte bereits mit ihrer Arbeit begonnen. Jörg Kreiler hatte seinen Hausschlüssel wie immer unter den Blumentopf neben dem Eingang des Ferienhauses gelegt, so dass sie es heute Morgen bereits um sieben Uhr betreten konnte. Seit drei Monaten hielt sie das Haus sauber, und wenn sie wie heute in den frühen Morgenstunden die Küche betrat, kochte sie Kaffee und machte dem Professor das Frühstück, wobei sie sich jedes Mal fragte, warum dieser gutaussehende Mann keine Frau hatte.

Im Esszimmer roch es nach Bier und Zigaretten. Der Professor hatte einen Gast gehabt, und sie hatten zweifellos am Abend zuvor in diesem Raum gesessen: Das Geschirr mit angetrockneten Essensresten und drei Bierflaschen standen noch immer auf dem Tisch.

Der Biergeruch rief Erinnerungen an den gestrigen Abend wach, der so gewesen war wie viel zu viele Abende in ihrem Leben. Ihr Mann hatte auch ihr hundertstes Versteck für das Geld entdeckt und sich wieder einmal betrunken. Sie fragte sich, wie jemand, der nur mit Mühe aufrecht stehen konnte, in der Lage war, das Geld in den entlegensten Verstecken des Hauses aufzuspüren: in einem Kleiderschrank, unter einem Bett oder hinter einem alten Mantel, der im Keller hing.

Mechthild Hensel verlor sich in der Erinnerung. Sie konnte förmlich Theos Schnapsatem riechen und seine blutunterlaufenen Augen sehen.

Sie hasste seine Trinkerei. Früher war sie verzweifelt gewesen, aber inzwischen konnte sie sich helfen. Sie schaffte es, ihn tagsüber aus ihren Gedanken zu verbannen. Das verdankte sie dem Professor, der ihr „Glückspillen“, wie er sie nannte, verschrieben hatte. Aber es stimmte. Seit der Einnahme fühlte sie sich viel besser und war immer gut gelaunt. Sie war jung, und wenn man Arbeit so nötig wie sie brauchte, dann schaffte man es eben. Der Professor war zufrieden mit ihrer Arbeit, das hatte er ihr vorgestern gesagt und ihren Stundenlohn um zwei Euro erhöht. Jetzt bekam sie fünfzehn Euro pro Stunde, für sie ein Vermögen.

Sie stand auf, nahm die leeren Bierflaschen vom Tisch und brachte sie in den Keller, wo die Bierkästen standen. Hier unten roch es immer muffig und feucht, ein schwacher, aber unverwechselbarer Geruch. Sie nahm den Wischeimer aus dem Schrank und trug ihn die schmale Treppe hinauf.

Das Gästezimmer war ein totales Chaos. Mechthild verzog das Gesicht. Es roch ungelüftet und nach abgestandenem Alkohol, Zigarettenrauch, Schweiß und altem Parfüm. Eine leere Whiskyflasche stand beim Papierkorb auf dem Boden, und neben dem Bett war ein Glas mit einer Zigarettenkippe, die sich aufzulösen begann. Der Aschenbecher war voll.

„Das ist ja wie zu Hause“, stöhnte sie. Auf dem Nachttisch lag ein benutztes Kondom. „Das leider schon lange nicht mehr“, setzte sie grimmig nach. Sie zog neue Handschuhe aus der Tasche und schaltete das Licht im Gästebad an. Es war besser, gleich über das Schlimmste Bescheid zu wissen. Die Toilette war nicht gespült, die Badematte voller Kot. Sie sah sich die Handtücher an, verzog angeekelt das Gesicht und warf das schmutzige Bettzeug und die Handtücher auf den Boden im Flur. Sie würde den Haufen aufsammeln und ihn später in die Waschküche bringen.

Dann betrat Mechthild Hensel das Schlafzimmer ihres Arbeitgebers. Sie ließ ihren Blick schweifen und ging an der geschlossenen Badezimmertür vorbei. Ihr fiel auf, dass der Kleiderschrank an der hinteren Wand neben den Glastüren, die auf die Terrasse hinausgingen, offen stand. Die Stores vor den Türen klebten an den feuchten, beschlagenen Glasscheiben. Das Zimmer war … Sie sah sich um: Das Bett schien nicht benutzt zu sein, aber Kleider waren darauf verstreut: Hemd, Jackett, Krawatte. Ein Schuh lag vor der Doppeltür, der andere neben dem Bett. Sie war darauf getreten, als sie hereinkam.

Seltsam, dachte sie. Sie zog das Bett ab und warf das saubere Bettzeug auf die Matratze, hob die Schuhe auf, stellte sie unten in den Kleiderschrank und hängte Hemd und Jackett auf einen Bügel. In dem Zimmer war es kalt, ganz anders als in den anderen Räumen des Hauses. Mechthild spürte einen Luftzug an den Knöcheln und knöpfte ihre Strickjacke über der Schürze bis zum Hals zu.

Sie wischte mit dem Staubtuch über etwas Klebriges, Schmieriges, das einen braunen Fleck hinterlassen hatte, und entfernte ihn, war aber mit dem Zimmer nicht richtig zufrieden, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. Sie sah die Stores, die an den Scheiben klebten, und beschloss, das Kondenswasser abzuwischen. Vielleicht würde es dann weggehen, das … das war’s! Dieser Geruch in der Luft! Der war schuld daran, dass einem das Zimmer unsauber vorkam. Einen Moment glaubte sie, etwas Verbranntes zu riechen – ein unbehagliches Gefühl erfasste sie, und ihr wurde leicht übel. Der Türflügel bewegte sich, als sie ihn abwischte, weil er einen Spalt offen stand. Jemand hatte die Glastüren aufgemacht und nur angelehnt. Deshalb war es hier so kalt. Warum würde jemand das tun? Um sich hineinzuschleichen? Der Professor würde das Haus niemals ungesichert verlassen.

Ratlos schüttelte sie den Kopf. Wenn sie als Putzfrau etwas gelernt hatte, dann war es die Tatsache, dass das Benehmen von Menschen manchmal unergründlich war. Sie schlug die Türen fest zu und riegelte sie ab. Der Geruch kam wahrscheinlich von draußen und würde sich bei geschlossener Tür verlieren. Nur das Bad war noch zu machen. Sie sah auf die weiß gestrichene, fest geschlossene Tür neben der schmalen Diele. Der Professor ließ die Badezimmertür meistens offen, und der Dampf zog zusammen mit dem Geruch nach Seife und Shampoo ins Zimmer; die Handtücher lagen sonst immer achtlos über Bett und Teppichboden verstreut. Heute nicht.

Sie legte die Hand auf den Türgriff, scheute sich aber irgendwie, diese Tür zu öffnen. Dumme Hirngespinste, dachte sie und drückte die Klinke nach unten. Die Tür ging nicht auf.

Mechthild runzelte die Stirn. War sie abgeschlossen? Sie lauschte und hörte Wasser rieseln und durch die Rohre laufen. Sie klopfte. Stille. Wenn der Professor im Bad wäre, dann wäre er doch bestimmt ins Zimmer gekommen und hätte ihr gesagt, sie solle mit dem Putzen warten, bis er fertig wäre. Das machte er sonst auch so.

Sie sah auf die Uhr und stellte fest, dass sie spät dran war. Der Arzttermin am Nachmittag rückte näher, und sie musste sich beeilen. Die Wäsche auf der Leine im Keller wartete darauf, gebügelt zu werden. Sie hasste Bügelwäsche. Der Gedanke daran scheuchte sie auf, sie fasste den Griff fester und drückte gegen die Tür.

Jetzt erinnerte sie sich, dass sie manchmal klemmte. Trotzdem hatte sie ein unbehagliches Gefühl im Magen. Etwas sagte ihr, sich abzuwenden. Sieh nicht nach! Vergiss es!

Die Tür klemmte noch einen Moment und flog dann auf. Plötzlich stand sie in der heißen, feuchten Badezimmerluft in einem Geruch, der so durchdringend wie in einem Schlachthaus war, scharf, widerlich und schmutzig.

Mechthild war auf etwas getreten, sah nach unten, zuckte unwillkürlich zurück und wischte automatisch den Fuß auf dem Teppich ab. Der Boden war nass. Etwas tropfte auf ihren Hals, sie zuckte zusammen und fuhr herum. Wasser tropfte von der Decke, und die Wände glänzten feucht. Ein stetiges Geräusch von plätscherndem Wasser kam von der Badewanne, wohl vom Duschkopf.

Der rosafarbene, durchsichtige Duschvorhang war vorgezogen. Das Wasser lief, floss und rauschte in den Rohren und gurgelte im Abflussloch. Jemand lag in der Wanne. Das war ihr erster Gedanke. Jemand ließ Wasser laufen und hörte nicht auf Geräusche, Bewegungen, den Staubsauger.

„Professor Kreiler …?“

Langsam streckte Mechthild Hensel die Hand aus und zog den Vorhang zurück.

Ein Mann – es war ein Mann, das konnte sie erkennen – lag zusammengesunken in der Wanne. Er sah wie zerbrochen aus, ein Spielzeug, das heruntergefallen und zersprungen war. Das Gesicht, auf dem jemand seinen Fußabdruck hinterlassen hatte, war verzerrt und zerschlagen, die Augen in den Augenhöhlen verdreht, der Mund zu einem grausigen Grinsen verzogen. Das Wasser aus dem Duschkopf tropfte vom Haar des Mannes.

Ihr erster Gedanke war, dass er eigentlich stärker bluten müsste. Dann versagten ihr die Knie, und ihr Körper wurde kalt. Ihr Mund füllte sich mit Speichel, und ihr schwindelte. Sie konnte nichts dagegen tun. Ihre Knie schlugen auf dem Boden auf. Sie spürte durch die Strümpfe die Feuchtigkeit an den Beinen. Ihre Hände rutschten am Badewannenrand entlang und versuchten sich festzuhalten. Sie zog sich hoch, stand aufrecht, drehte das Wasser im Waschbecken voll auf und wusch sich Hände und Gesicht.

Dann spülte sie immer wieder den Boden ab und versuchte, alles sauber zu machen, Ordnung zu schaffen, ihre Arbeit zu tun. Sie zog das Handtuch von der Stange, spürte seine Feuchtigkeit an ihren Händen und ließ es zu Boden fallen. Ein Finger schwamm in der Toilette. Sie drückte mehrmals auf die Spülung. Ihr Blick schoss hektisch von der Handtuchstange zum Waschbecken, zu den Wassergläsern und zur Badewanne …

Nein! Sie starrte auf den Boden und konzentrierte sich auf die Fugen zwischen den Fliesen. Zwischen der Kloschüssel und der Badewanne lag etwas. Ein Ohr, das auf dem nassen Boden klebte. Brechreiz schoss in ihr hoch.

Dann war sie plötzlich wieder in seinem Schlafzimmer, ihre Beine zitterten, sie hielt sich an der Tür und den Wänden fest, nur damit sie aus dem Zimmer herauskam. Sie musste jemanden holen, musste Hilfe holen …

Ganz plötzlich kam der erlösende Schrei.