Kapitel 21
Essen
Alexandra reichte Robert Hirschau einen Kaffee und beobachtete den schweigsamen Mann, der in einem der bequemen Sessel ihres Büros Platz genommen hatte. Er hat sich kaum verändert, dachte sie. Noch immer die kleinen Lachfältchen um die blauen Augen, das gewellte, von Silberfäden durchzogene blonde Haar, der sinnliche Mund, noch immer hat er diesen durchtrainierten Körper, muskulös und geschmeidig. Und noch immer umgibt ihn diese geheimnisvolle Aura. Sie konnte ihm kaum in die Augen sehen, ohne zu erröten.
„Ich wüsste nicht, wie ich dir bei diesem Vorhaben helfen könnte, Alexandra“, sagte Robert, nachdem sie ihm ihre Bitte vorgetragen hatte. „Das Urteil im Fall Lukas Hübner ist rechtskräftig.“
„Ich möchte dich nur bitten, mir bei einem Revisionsantrag behilflich zu sein.“ Sie schlug ihre schlanken Beine übereinander. Sie spürte, dass er sie noch immer anziehend fand.
Er räusperte sich. „Alexandra, ich bin Profiler beim BKA und kein Strafverteidiger. Das Bundeskriminalamt hat keine Zweigstelle am Oberlandesgericht.“
„Ich weiß, aber hör mir erst mal zu. Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit, Lukas zu helfen.“
„Er wuchs bis zu seinem siebten Lebensjahr bei seinen Eltern auf, die tödlich verunglückt sind. Bis dahin war er seinem Alter entsprechend ein vollkommen normales Kind. Seine Behinderung resultiert aus dem unfallbedingten Schädelhirntrauma und den Spätfolgen. Er hat also die ersten Jahre seiner Kindheit völlig normal verbracht. Hier liegen auch seine Grundlagen. Lukas ist weder schizophren, noch ist er ein krimineller Soziopath.“
„Was unterscheidet denn einen Soziopathen von deinem Lukas? Du konntest ihn fünf Jahre beobachten und hast ihn therapiert.“
Sie bemerkte seine Nervosität und schmunzelte innerlich. „Lukas hat Empfindungen, er kann sich freuen, er zeigt Mitgefühl, er lacht gerne, er ist fähig zu lieben. Ein Psychopath hat kein Gefühl, Psychopathen glauben, sie sind Götter, und verhalten sich asozial, sie sind nicht in der Lage, für einen anderen Menschen zu empfinden und echte emotionale Beziehungen aufzubauen. Ihre einzigen emotionalen Handlungen werden durch ihren krankhaften Trieb gesteuert. Lukas ist nicht geistesgestört, er ist geistig behindert. Und deshalb wollte ich mit dir reden. Er gehört nicht hierher. Er gehört in ein Heim für geistig Behinderte.“
„Hm …“
„Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Sprich mit ihm. Du bist gut ausgebildet und verfügst über eine gute Menschenkenntnis. Bilde dir selbst ein Urteil.“
Er war überrascht, dass sie ihn so stark involvieren wollte, und überlegte kurz. „In Ordnung“, sagte er. „Wann?“
„Wäre es dir morgen recht?“
„Okay.“
„Übrigens war vor einigen Tagen ein Neurologe hier. Jörg Kreiler. Sagt dir der Name etwas?“
Er runzelte die Stirn. „Ja, ich kenne ihn sogar persönlich. Was wollte er von dir?“
„Er hat sich nach Lukas erkundigt und mir einige Unterlagen aus den Prozessakten gezeigt. Er behandelt Anna Gavaldo. Aus diesem Grund wollte er sich mit Lukas unterhalten.“
„Hast du dem zugestimmt?“
„Sicher. Er ist ein Kollege mit einem hervorragenden Ruf. Nur …“ Sie wirkte nachdenklich.
„Nur was, Alexandra?“
„Lukas war nach dem Gespräch etwas verstört.“
Hirschau schwieg.
„Ich habe mir zunächst nichts dabei gedacht, weil Lukas sich Fremden gegenüber immer verschlossen verhält.“
Robert schaute ihr in die Augen. „Hat er irgendetwas über das Gespräch gesagt?“
Sie lächelte. „Nein, nur dass der Mann ihm Glasperlen gezeigt hat und damit spielen wollte.“
Robert stand auf. „Glasperlen?“
Alexandra wirkte plötzlich verunsichert. „Ja, Glasperlen. Ist es vielleicht doch von Bedeutung?“
„Keine Ahnung, wahrscheinlich nicht. Vielleicht ist es nur eine neue Therapieform. Aber ich frage mich, warum Kreiler neulich beim Abendessen nicht erwähnt hat, dass er Lukas aufgesucht hat. Vielleicht hat er mit Benedikt van Cleef darüber gesprochen.“
Sie stand auf, ging auf ihn zu und streifte flüchtig seine Lippen. „Ich danke dir, dass du mit Lukas sprechen wirst“, sagte sie. „Und jetzt lade ich dich zum Essen ein. Favorisierst du noch immer die französische Küche?“
„Du erinnerst dich?“
„Sicher. Ich kenne ein kleines französisches Restaurant in der Ruhrtalstraße. Le Petit. Dort können wir in aller Ruhe über alte Zeiten sprechen.“ Sie lächelte. „Aber nicht nur über die alten Zeiten, mich interessieren natürlich auch deine neuen.“
Sie stand ganz nah vor ihm und spürte förmlich, wie sehr er sich beherrschen musste, sie nicht zu umarmen. Sie spürte seine Hitze, schaute verstohlen nach unten und sah, was sie mit ihrem flüchtigen Kuss angerichtet hatte.
Sie verließen ihr Dienstzimmer und nahmen den
Aufzug am Ende der Station. Als die Türen zuglitten, legte sie ihre
Hand auf seinen Arm.
***
Essen, Samstag, 28.
Oktober 2006
Das mitten in einer Lautsprecherdurchsage einsetzende Falsettröhren von zwei Piepern brachte Hirschau auf den Boden der Tatsachen zurück, während er mit Alexandra den Korridor des Hochsicherheitstrakts entlangging.
„Wir sind gleich da“, sagte sie.
„Ich würde gerne allein mit ihm reden.“
„Dann muss ich dich mit ihm einschließen.“
„Sicher.“
Sie entriegelte die Sperren und öffnete die Tür.
Lukas schaute erwartungsvoll auf, als Robert Hirschau die Zelle betrat.
Hirschau hörte, wie hinter ihm die Tür wieder verriegelt wurde, und nahm auf dem Stuhl Platz, den ein Wärter in die Zelle gebracht hatte.
„Weißt du, wer ich bin?“
Lukas wackelte heftig mit dem Kopf. „Ja. Dr. Cordes hat es mir gesagt.“
Robert nickte. „Mein Name ist Robert Hirschau. Ich bin das, was man einen Profiler nennt.“
„P-p-profiler?“
„Ein Profiler erstellt ein Persönlichkeitsprofil von einem Menschen, um anderen damit zu helfen. Ich möchte mir ein Bild von dir machen, Lukas.“
„Warum?“
„Weil ich von dir lernen kann, und um anderen Menschen zu helfen.“
„Das ist g-g-gut. Du bist auch wegen Jakob hier?“
Robert ignorierte die Frage. Er öffnete seine Aktentasche und holte einen Notizblock heraus. „Darf ich dich überhaupt Lukas nennen?“
„Ja.“
„Wie lange bist du jetzt hier?“
„Sechs Jahre und sieben Monate.“
„Gefällt es dir hier?“
„Nein. Hier gibt es keine Vögel.“
„Du magst Vögel?“
„Ja … und Jakob auch.“
„Er fehlt dir?“, fragte Robert vorsichtig und beobachtete Lukas’ Reaktion.
„Weiß nicht. Nein.“
„Was war er für dich?“
„Mein zweiter Papa. Mein erster Papa ist tot. Er ist jetzt im Himmel.“
„Jakob nicht?“
„Nein. Er war sehr böse.“
„Wie hast du ihn kennengelernt?“
„Weiß nicht.“
„Nein?“
Lukas’ Stimme bekam einen zornigen Klang. „Sie sagt auch, dass Jakob böse war.“
„Wer ist sie?“
Lukas schwieg.
„War er böse?“
„Ja, aber ich bin nicht böse.“
„Schon gut, Lukas. Das sagt auch keiner.“
„Ich habe nur Fotos gemacht und sie Jakob gebracht. D-d-das war nicht richtig. Er mochte mich, doch ich weiß, dass er böse war. Das sagen alle. Aber ich war immer traurig, wenn er böse Dinge tat. Ich konnte niemandem helfen, weil ich …“ Er suchte angestrengt nach dem richtigen Wort, und Hirschau wusste, dass es nicht das richtige war, als er sagte: „Weil ich ein bisschen verrückt bin.“ Er lachte. „Nur ein bisschen, hat meine Tante immer gesagt.“
Hirschau lächelte, doch er blieb zurückhaltend. „Hattest du einen besonderen Grund, Jakob nicht zu mögen?“
„Ja. Er hat das Schokoladenmädchen umgebracht. Ich konnte sie nicht beschützen. Aber Dornröschen habe ich beschützt.“
„Dornröschen? Erzähl mir von ihr.“
„Bekomme ich dann eine Schokolade?“
„Sicher.“
Plötzlich brach es aus ihm heraus, und er erzählte von Anna Gavaldo, die er als Kind auf der Terrasse eines Kindersanatoriums mit seinem Fernglas beobachtet hatte. Sie war sein Dornröschen gewesen, und er hatte sie immer im Auge behalten, weil er Jakob nicht traute.
Er seufzte. „Und nur deshalb lebt mein Dornröschen noch. Ich habe sie gerettet. Das war doch eine gute Tat …?“
„Ja, Lukas“, sagte Hirschau sanft. „Das war eine sehr gute Tat.“
„Vie-vielleicht besucht sie mich mal und schenkt mir Schokolade.“
„Hm …“
„Ich bin nicht böse. Kannst du ihr das sagen? Ich verliere nur die Zeit.“
„Du verlierst die Zeit?“
„Ja. Manchmal bin ich so müde, und dann schlafe ich ein und verliere die Zeit.“
„Du meinst, du erinnerst dich nicht an das, was vor dem Einschlafen war?“
„Ja. Meine Mama sagt das auch.“
„Deine Mama? Ist sie nicht im Himmel?“
„Nein. Ja. Ich … ich meine die andere Mama, die mit dem weißen Kittel. Sie heißt Alexandra. Sie besucht mich jeden Tag.“
„Du magst Dr. Cordes sehr?“
„Ja. Sie schenkt mir Schokolade, wenn ich die Zeit nicht verliere und mich erinnere.“
„Was ist denn deine liebste Erinnerung?“
„Papa und Mama. Ich liebe meine Mama im Himmel. Früher ging sie immer mit mir auf den Spielplatz. Ich habe mich auf das Karussell gelegt, und sie schubste mich an, und der Himmel drehte sich, und die Bäume und meine P-p-p-puppe. Und manchmal gingen wir spazieren. Das war sch-sch-schön.“
„Da hat sie dir sicher die Natur gezeigt, nicht? Den Wald, die Rehe, die Eichhörnchen, den Teich mit den Fischen. Und die vielen Vögel.“
Lukas sah ihn mit großen Augen an. „Ja.“
„Und dann erzählte sie dir immer eine Geschichte.“
„Woher weißt du das?“, fragte Lukas.
„Ich hatte auch so eine Mama.“
Lukas lachte, und Robert Hirschau wusste, dass er sein Vertrauen gewonnen hatte. Ihm fiel auf, dass Lukas bis auf wenige Ausnahmen kaum noch stotterte. Auch hatte sich seine anfängliche Nervosität gelegt. Er sprach vollständige Sätze mit klarer, sicherer Stimme. Alexandra hatte wirklich gute Arbeit geleistet.
„Seit wann hast du diese Erinnerungen, Lukas?“
Und er erzählte weiter von den Dingen, die ihn bewegten. Schönen Dingen, fand Hirschau.