Kapitel 27
München
Dem Regen vom Vormittag folgte am Nachmittag strahlender Sonnenschein. Auf dem Weg zur Gerichtsmedizin passierte van Cleef die flirrenden Panoramen der Herbstfarben, die sich an den majestätischen Gebäuden der Universität vorbei durch die ganze Bayernmetropole zogen.
Veronika erwartete ihn bereits in ihrem Büro. „Kaffee?“, fragte sie, nachdem sie sich begrüßt hatten.
Van Cleef schüttelte den Kopf.
„Okay. Aber ich brauche einen“, sagte sie. „Falls du noch mal einen Blick auf das Obduktionsprotokoll von Andrej Heptna werfen möchtest …“
„Das ist nicht nötig. Gib mir einen kurzen Überblick.“
Sie gingen in den Obduktionsraum, wo ein Mitarbeiter Michail Heptnas Leiche aus dem Kühlfach geholt und auf den Stahltisch gelegt hatte.
Veronika richtete die Untersuchungsleuchte auf Heptnas Abdomen. Das Blut hatte man zuvor bereits abgespült. Deutlich sah man die blass rosafarbenen Wundränder.
„Irgendwelche verwertbaren Spuren?“, fragte van Cleef.
„Wir haben ein paar Fasern sichergestellt. Und am Rand der Schnittwunde klebte ein Haar.“
Van Cleef sah auf. „Vom Opfer?“
„Nein, viel kürzer. Und wieder hellblond. Michail und Andrej hatten graues und schwarzes Haar. Wir haben bereits Haarproben von allen Personen angefordert, die mit der Leiche in Berührung gekommen sind.“ Veronika lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Wunde. „Was wir hier sehen, ist ein Transversalschnitt. Die Chirurgen sprechen von einer Maylard-Inzision. Die Bauchdecke wurde Schicht für Schicht durchschnitten. Zuerst die Haut, dann die Oberflächenfaszie, dann der Muskel und schließlich das Bauchfell.“
„Warum?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Aber … ich habe etwas gefunden. Dieselben blonden Haare steckten in der Bauchhöhle.“
Van Cleef wurde übel. „Du meinst …?“
„Richtig. Dein Täter hat die Bauchhöhle geöffnet und dann die Gedärme entfernt. Danach hat er seinen Kopf hineingesteckt. Wir haben mindestens fünfzig bis siebzig kurze blonde Haare gefunden.“
„Mein Gott.“
„Bei Andrej Heptna wies der Halsschnitt einige Zacken auf, die auf ein Zögern oder Unsicherheit hindeuteten. Davon ist hier nichts zu erkennen. Siehst du, wie sauber die Haut hier durchschnitten wurde? Es gibt keinerlei Zacken. Er wusste genau, was er zu tun hatte.“ Veronika sah van Cleef direkt in die Augen. „Unser Täter hat entweder dazugelernt, oder er wollte hier besonders sorgfältig vorgehen und hat seine Technik verbessert.“
„Falls es sich um denselben Täter handelt“, bemerkte van Cleef.
„Ganz sicher. Die Hautpartikel unter den Fingernägeln von Michail Heptna stimmen mit der DNA überein, die wir bei Andrej Heptna sicherstellen konnten.“
Van Cleef nickte.
„Das blonde Haar weist ebenfalls dieselbe DNA auf. Aber es gibt noch weitere Übereinstimmungen. Siehst du die rechtwinklige Form des Wundrands an diesem Ende? Das ist ein Hinweis darauf, dass er von rechts nach links geschnitten hat. Wie bei Andrej. Die Klinge, mit der ihm diese Wunde beigebracht wurde, ist einschneidig und glatt wie die bei Andrej verwendete.“
„Ein Skalpell?“
„Die Details passen auf ein Skalpell. Der saubere Schnitt verrät mir, dass die Klinge sich in der Wunde nicht gedreht hat. Das Opfer war entweder bewusstlos oder so fest angebunden, dass es sich nicht rühren oder Widerstand leisten konnte. Es war ihm nicht möglich, die Klinge von ihrer geraden Schnittlinie abzubringen.“
„Gab es prämortale Blutungen?“, fragte van Cleef.
„In der Beckenhöhle hatte sich Blut angesammelt. Das bedeutet, dass sein Herz noch gearbeitet hat. Wie Andrej war auch Michail Heptna noch am Leben, als diese äh… Operation durchgeführt wurde.“
Benedikt van Cleef betrachtete die Handgelenke mit den ringförmigen Blutergüssen. Ähnliche Male fanden sich an beiden Fußgelenken, ebenso waren punktförmige subkutane Hautblutungen zu erkennen, die sich über seine Hüften zogen. Offensichtlich hatte sich Michail Heptna gegen die Fesseln gesträubt.
„Es gibt noch weitere Anzeichen dafür, dass er am Leben war, während ihm der Schnitt beigebracht wurde“, sagte Veronika. „Leg deine Hand in die Wunde, Benedikt.“
Widerstrebend steckte er seine behandschuhte Hand hinein. Das Fleisch fühlte sich kalt an; es war mehrere Stunden im Kühlraum aufbewahrt worden. Es erinnerte ihn an das Gefühl, wenn man in einen Truthahn griff und nach dem Beutel mit den Innereien tastete. Er schob die Hand bis zum Handgelenk hinein und befühlte mit den Fingern die Ränder der Wunde.
„Was ist das für ein Ding, das ich hier ertaste? Dieser harte, kleine Knoten auf der linken Seite?“, fragte er und zog die Hand wieder heraus.
„Das ist Nahtmaterial. Er hat es benutzt, um die Blutgefäße abzubinden.“
Van Cleef hob verblüfft die Augenbrauen. „Der Täter muss blutverschmiert gewesen sein. Warum steckt jemand seinen Kopf in die Bauchhöhle eines anderen?“
„Das erinnert mich an die Mythologie. Komm, ich lade dich auf einen Kaffee ein.“
„Ein Cognac wäre mir jetzt lieber.“
Veronika lachte. „Kannst du auch haben.“
Van Cleef zog sich vom Seziertisch zurück und wartete, bis Veronika ihre Handschuhe abgestreift hatte. Dann gingen sie in ihr Büro.
„Setz dich doch“, sagte sie und warf die Espressomaschine an. „Du bist blass um die Nase.“
„Warum schneidet er ihm den Bauch auf und macht sich die Mühe, die Arterien abzubinden?“
„Um freie Sicht zu haben und die Blutung lange genug unter Kontrolle zu halten, so dass er sehen kann, was er tut.“
„Hm … Und was hast du vorhin mit Mythologie gemeint?“
Sie reichte ihm einen Kaffee und goss einen Schuss Cognac hinzu.
„Ich habe ein wenig nachgeforscht. In der ägyptischen Mythologie gab es den heiligen Phönix von Heliopolis, meist in Gestalt eines Reihers, der eng mit dem Kult des Sonnengottes Ra verbunden war und sich als erstes Wesen nach der Schöpfung auf dem aus der Flut auftauchenden Land niederließ. Der Phönix kehrte alle fünfhundert Jahre nach Heliopolis am Todestag des Königsvaters zurück, wo er aus Weihrauch ein Ei formte, das von der Größe her die Leiche des Königsvaters aufnehmen konnte. Dieses Ei wurde im Tempel von Heliopolis feierlich begraben. Der Überlieferung zufolge tötet sich der Phönix während dieser Feierlichkeit selbst auf einem Scheiterhaufen, ehe er anschließend wieder verjüngt aus dem Ei emporsteigt, weshalb er in der Mythologie zum Sinnbild der Unsterblichkeit und Auferstehung wurde.“
„Das würde ja bedeuten, dass unser Täter seinen Kopf in die Bauchhöhle eines Menschen steckt, weil er glaubt, sich mit dem Mordritual zu erneuern.“
„Durch den Tod eines Menschen wird der Täter wieder lebendig. Nur durch den Tod kann er weiterleben. Vielleicht wurde er deshalb zum Mörder. Frag Robert, was er von meiner These hält.“
„Du bist unglaublich, Veronika.“
Sie lachte. „Nein, für mich gibt es neben dem Leichenschmaus durchaus noch andere Interessen.“
„Das werde ich mal dem Kollegen Neumann erzählen.“
„Er ist ein Rebell, aber er gefällt mir. Aus dem wird noch mal was.“
„Ja, das glaube ich auch. Ich danke dir. Ich schätze, an deiner Überlegung ist was dran. Mein Gott, was wird dieses Monster sonst noch anstellen?“, fragte er mehr sich selbst.
„Hat sich das BKA schon eingeschaltet?“
„Ja. Sie wünschen eine Kooperation. Es gibt ähnliche Fälle. Aus dem Ausland wurden zwei Morde gemeldet. Auch aus Essen.“
„Du hast es mit einem sehr kranken Menschen zu tun, Benedikt. Pass bitte auf dich auf!“
Er sah sie nachdenklich an. „Das mache ich“, sagte er leise.
Das Klappern der Instrumente auf dem Tablettwagen schreckte ihn auf, und er bedauerte ein wenig, dass sich die Moderne von der Mythologie verabschiedet hatte.