Kapitel 31
Dachau
Nachdem Mathilda van Cleef Katharina ins Bett gebracht hatte, ging sie, in ihren wärmsten Umhang gehüllt und einen Wollschal um den Hals geschlungen, unruhig auf den Steinfliesen der Küche auf und ab.
Mit dem warmen Ofen, den cremefarbenen Wänden und den offenen Regalen, in denen das wertvolle Limoges-Geschirr ihrer Mutter stand, wirkte die Küche wie ein behaglicher Zufluchtsort. Draußen pfiff und stöhnte der Wind mit tausendfachen, unheimlich menschlich klingenden Stimmen; die feuchte Kälte kroch selbst durch die dicken Steinmauern des alten Hauses.
Das Strampeln der Babys in ihrem Bauch und die Sorge um Anna und Katharina hielten Mathilda bis in die frühen Morgenstunden wach. Abends hatte Anna, die sie tagsüber besucht hatte, auf der Rückfahrt nach Grünwald ein heftiger Schneesturm überrascht, ungewöhnlich früh für Oktober, und sie machte sich natürlich Sorgen um sie, zumal die Straße von Dachau nach Grünwald fast immer als erste durch heftige Schneefälle unpassierbar wurde. Mathilda befürchtete, dass etwas passiert war, denn Anna meldete sich nicht, weder über Handy noch über Festnetz. Vielleicht war ihr Wagen ins Schleudern geraten, weil sie durch die wirbelnde weiße Wand geblendet wurde. Lag sie etwa in diesem Augenblick in einem Straßengraben oder in einer Schneewehe, wo sie die lähmende Kälte langsam, aber sicher übermannte? Oder waren es nur die Schwangerschaftshormone, die solch trübe Gedanken in ihr auslösten?
Ruhelos ging sie in der Küche auf und ab, lange nachdem Benedikt zu Bett gegangen war. Ihr Mann war vor zwei Stunden völlig erschöpft von einer zweitägigen Sitzung mit Robert Hirschau im BKA aus Wiesbaden zurückgekehrt und schlief tief und fest.
Das Wissen um Annas labilen Zustand und Katharinas seltsame Andeutungen trieben sie schier zur Verzweiflung. Geschützt, aber auch gefangen hinter den Rauhputzmauern ihres Elternhauses, war sie ebenso hilflos wie Benedikt. Sie konnten nichts für Anna tun und sie nicht vor den Dämonen schützen, die sie neuerdings wieder heimsuchten.
Doch vielleicht gab es einen Funken Hoffnung. Anna hatte ihr versprochen, dass sie Robert Hirschau gestatten würde, sich die Videoaufnahmen der Sitzungen anzusehen. Benedikt traute Jörg Kreiler nicht. Nur so ein Gefühl, hatte ihr Mann gesagt, ein undefinierbares Gefühl, dass etwas nicht stimmen könnte. Auch sie hatte bemerkt, dass Anna, seit sie sich Kreilers Hypnosetherapie unterzog, immer seltsamer wurde, ganz abgesehen davon, dass sie häufig über Alpträume klagte. Ihre Ehe hatte ebenfalls unter den Wahnvorstellungen gelitten.
Mathilda ließ sich in den Schaukelstuhl am Herd sinken und kämpfte gegen die Tränen. Sie war im Schutz einer fürsorglichen Familie aufgewachsen, sie war stark, doch wie hätte sie wohl reagiert, wenn ihr dasselbe wie Anna widerfahren wäre?
Anna hatte nach Katharinas Geburt einige Jahre ohne jeglichen Schatten der Vergangenheit verbracht. Max’ Fürsorge und ihre gemeinsame Tochter hatten sie wieder stabilisiert. Doch seit ihre Erinnerung in kurzen, blitzartigen Sequenzen zurückkehrte, war sie eine andere geworden. Seltsam, dachte Mathilda, warum wurde sie gerade während einer Therapie verstärkt von Alpträumen gequält, die mit einem Persönlichkeitsverlust einhergingen, wie Kreiler behauptet hatte? Benedikts Befürchtung, der Psychiater könnte seine Hände im Spiel haben, hatte Mathilda zunächst vehement abgelehnt – doch was, wenn der Gedanke gar nicht so absurd war? Schließlich mochte Kreiler Anna. Was wäre also, wenn er sich in sie verliebt hätte, weil er in ihr jene Frau sah, die er vergöttert hatte?
Benedikt war ein besonnener, vernünftiger Mann mit einem messerscharfen Verstand. Bereits vor zwei Wochen hatte er bei Kreiler die ersten Anzeichen erkannt. „Dieser Mann empfindet mehr für Anna, als es den Anschein hat. Ich glaube, in ihm lodert eine Sehnsucht, die unbedingt gestillt werden will.“
Anna hatte heute Abend erwähnt, dass sie die Therapie endgültig abbrechen und einen anderen Therapeuten aufsuchen würde. Die Therapie war bei den Gavaldos Auslöser eines heftigen Streits gewesen. Max hatte vor seiner Abreise Bedingungen gestellt: ein Klinikaufenthalt und ein anderer Therapeut oder die Trennung. Er liebte Anna, er würde sie niemals im Stich lassen, da war Mathilda sich sicher. Und Annas Verzweiflung hatte ihr heute Abend gezeigt, wie sehr auch sie ihren Mann liebte. Sie hatte ihre Freundin überzeugen können, dass Max’ Vorschlag durchaus vernünftig war, zumal es nur auf ihre Gesundheit ankäme, und Kreilers Therapie hatte eben deutlich gemacht, dass er nicht der richtige Arzt war.
Sie hatte das Gefühl, dass Anna nach ihrem Gespräch erleichtert nach Hause gefahren war und Max später in Warschau anrufen würde, um ihm zu sagen, dass sie seine Bedingungen akzeptierte.
Anna war jetzt in Sicherheit – natürlich war sie in Sicherheit, und so würde sie weiter ganz fest an ihre Freundin denken, als könnte sie sie allein mit der Kraft ihrer Gedanken schützen.
Sie stand wieder auf und trat ans Fenster, doch als sie die dicke Scheibe mit dem Saum ihres Umhangs abgewischt hatte, sah sie nichts als wirbelnde weiße Flocken. Was sollte sie Benedikt am nächsten Morgen sagen, wenn es bis dahin immer noch kein Lebenszeichen von Anna gab? Eine neue Angst erfasste sie. Benedikt konnte sehr stur sein. Es war ihm durchaus zuzutrauen, dass er sich trotz Schnee und Kälte auf den Weg machte, um sie zu suchen. Eilig verließ sie die Küche. Das Licht im Haus war gedämmt, und ihr Herz raste.
Als sie das Schlafzimmer im Obergeschoss erreichte, fand sie ihren Mann in tiefem Schlaf. Ein Arm hing unter der Bettdecke heraus, und sein Buch, Flauberts Papagei von Julian Barnes, lag aufgeschlagen auf seiner Brust. Ob seine Kinder die ebenmäßigen Gesichtszüge und das feine, glatte, hellbraune Haar erben würden? Und vielleicht auch seine Liebe zu Büchern? Und die romantische Ader?
Mit vorsichtigen Schritten – die Babys lieferten sich gerade einen weiteren Boxkampf – ging Mathilda in die Küche zurück, ein wenig fröstelnd trotz des warmen Umhangs, und machte es sich wieder in ihrem Schaukelstuhl bequem. Sie dachte an Benedikt, doch als sie nach einer Weile in einen unruhigen Schlaf fiel, war es nicht er, der ihr im Traum erschien. Es war das herzförmige Gesicht einer Frau. Die hellen Augen, die sie anstarrten, wirkten vertraut, fast wie ihre eigenen, doch Mathilda wusste mit der unwiderlegbaren Gewissheit der Träumenden, dass es nicht ihr Spiegelbild war. Die Frau hatte lockiges Haar wie sie selbst, aber es war hell und kurz geschnitten, als ob sie eine Krankheit durchgemacht hätte. Die Traumgestalt war merkwürdig gekleidet, sie trug ein ärmelloses Hemdkleid, ähnlich einem Unterrock oder einem Nachthemd. Ihre entblößte Haut war braungebrannt, ihre Hände makellos und zart. Die Frau saß vor einem weißen Klinikgebäude in einem Schaukelstuhl auf einer Terrasse. Mathilda nahm die schwankenden Bewegungen des Stuhls wahr. Sie versuchte zu sprechen und die Wattehülle zu durchdringen, die sie umschloss.
„Was … wer?“, stammelte sie, doch das Bild begann bereits zu schwinden. Es flackerte noch einmal auf und wurde dann dunkel, als hätte jemand eine Laterne ausgeblasen. Sie hätte schwören können, im letzten Moment den Ausdruck verblüfften Wiedererkennens in den starren Augen der Frau aufblitzen zu sehen.
Mit einem erstickten Schrei auf den Lippen erwachte sie. Ihr Herz raste, doch sie wusste sofort, dass es nicht der Traum gewesen war, der sie geweckt hatte. Da war ein Geräusch gewesen, eine Bewegung an der Küchentür. Mathilda sprang auf, ihre Hand fuhr an die Kehle, aber dann ließ Erleichterung sie aufatmen.
„Katharina?“
An der Wohnzimmertür erschien Katharinas kleine Gestalt. Sie rieb ihre Augen. Mathilda breitete die Arme aus.
„Ich habe einen Knall gehört, Mathi“, sagte Katharina leise.
„Komm mal her, Kleines.“
Katharina flüchtete in ihre Arme, und sie fing sie auf.
„Was hältst du von einer heißen Schokolade und danach …“
Aber da war das Mädchen bereits in ihren Armen eingeschlafen.