Kapitel 6

Essen – Freitag, 6. Oktober 2006

Während der zwanzig Jahre, die Sedar Biljano im Essener Stadtteil Kettwig wohnte, war die Ruhrbrücke zu seinem Lieblingsplatz avanciert. Von hier hatte der zweiundsiebzigjährige Mann in dem braunen Wollmantel, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, einen wunderschönen Blick auf das mittelalterliche Fachwerkhaus-Ensemble der Kettwiger Altstadt mitsamt der Evangelischen Marktkirche oberhalb des Mühlengrabens, eines ehemaligen Seitenarms der Ruhr. An diesem Vormittag tat die herbstliche Sonne ein Übriges und schenkte dem märchenhaften Panorama seine schönsten ockergelben und rotgoldenen Farben. Die alte Steinbrücke aus dem Jahr 1786 führte über die idyllische Teichanlage, und fast hatte er den Eindruck, im Mittelalter zu sein.

Auf den gut ausgebauten Wanderwegen in Richtung Essen-Werden herrschte reger Betrieb. Auch Sedar Biljano war heute Morgen den Promenadenweg bis zur Ruine Kattenturm entlanggegangen und hatte im nahe gelegenen Ausflugslokal einen Kaffee getrunken. Aber den Heimweg hatte er mit einem Ausflugsboot der Weißen Flotte angetreten, das direkt am Ruhrufer an der Bootsanlegestelle Kattenturm abfuhr.

Seine alten Knochen machten längere Spaziergänge nicht mehr mit. Doch das war nicht der einzige Grund; an diesem Vormittag beschlich ihn das unangenehme Gefühl, dass hinter seinem Rücken jemand war, der ihn im Auge behielt. An der alten Burgruine hatte er versucht, diesen Eindruck zu ignorieren und dem Drang zu widerstehen, einen Blick über die Schulter zu werfen. Als er sich dann doch umgedreht hatte, war weit und breit niemand zu sehen gewesen, der ihm verdächtig vorgekommen wäre. Doch seit das Boot am Promenadenweg angelegt hatte, war das Gefühl wieder da.

Langsam schlurfte er von der Brücke in Richtung Kirchtreppe. Sie war eine schmale Gasse, die durch eine Gruppe gut erhaltener Fachwerkhäuser führte, die unter Denkmalschutz standen und sich bis ins 14. Jahrhundert zurückdatieren ließen. Die Treppe endete auf dem tiefer gelegenen Tuchmacherplatz im Herzen der Kettwiger Altstadt, wo er ein kleines Haus besaß.

Auf dem gepflasterten Platz stand seit einigen Jahren die Skulptur Weberbrunnen, die an die jahrhundertealte Tradition der Tuchmacherei in Kettwig erinnerte. Und dort glaubte er einen Schatten zu sehen, nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber er war sich absolut sicher.

Rasch schloss er die schwere Eichentür seines Hauses auf und verriegelte sie von innen. Dann schob er die Gardine ein wenig beiseite und spähte durchs Fenster, das ihm einen Blick auf das gesamte Häuserensemble an der Kirchtreppe ermöglichte. Nichts. Die Gasse war menschenleer.

Am Anfang der ruhigen kleinen Straße lag eine mit Brettern vernagelte Kneipe, an ihrem Ende ein kleiner Antiquitätenladen. Ansonsten war sie von alten Fachwerkhäusern gesäumt, eine Kleinstadtidylle, in der sich gegen Abend Kinder auf ihren Fahrrädern austobten. Biljano wusste, dass sich die Familien hier schon immer ziemlich sicher gefühlt hatten. Und genau das war der Grund, weswegen er selbst sich hier niedergelassen hatte.

Er zog seine Schuhe aus, stellte sie in den Dielenschrank und steckte seine Füße in braune Filzpantoffeln. Dann schlurfte er ins Schlafzimmer, legte sich aufs Bett und grübelte.

Die Vorhänge seines Hauses blieben tagsüber geschlossen. Der Putzfrau hatte er wegen der Schwierigkeiten, die sie machte, vor drei Wochen gekündigt, und allmählich türmte sich das Geschirr in der Küche. Sie hatte in seinen Sachen herumgeschnüffelt und ihn irgendwann gefragt, ob der Kandinsky an der Wand über seiner Couch echt sei.

Verdammt, hatte er gedacht. Wenn jemals herauskäme, dass er das Bild und auch andere wertvolle Gegenstände damals aus Kollmanns Haus hatte mitgehen lassen, wäre er geliefert.

Als er heute in den frühen Morgenstunden aufgewacht war und nicht wieder einschlafen konnte, hatte er sich noch einmal Karl Nüskers „Vermächtnis“ angesehen: den Doppel-8-Schmalfilm aus dem Jahr 1944 über eine Misshandlungsorgie, den er auf eine DVD überspielt hatte. Es war, viele Jahre später, ein zutiefst befriedigendes, ja erhebendes Gefühl gewesen, mit anzusehen, wie sein Kamerad Michail Heptna diesem Widerling die Augen ausgestochen hatte.

Allerdings konnte er bis heute nicht nachvollziehen, warum Krasinski gewollt hatte, dass der Junge bei dieser Schweinerei zugegen war. Schließlich beinhaltete sein Plan lediglich die Ermordung des Kriegstribunals von 1944, lautlos und schnell und ohne wesentliche Spuren zu hinterlassen. Sie hatten Kollmanns Haus wochenlang observiert, sich Notizen gemacht und festgestellt, dass der Richter und sein Tribunal noch immer ihren sadistischen Neigungen nachgingen.

Jedes Mal, wenn sich Biljano diese Aufzeichnungen monströser menschlicher Verfehlungen anschaute, wurde ihm übel. Und trotzdem musste er sich eingestehen, dass eine dämonische Faszination ihn geradezu zwang, sich diese Bilder immer wieder anzusehen.

Der alte Mann zog die schmuddelige Steppdecke bis zu den grauen Bartstoppeln hoch. Seine Augenlider wurden schwer, der Spaziergang an der frischen Luft hatte ihn ermüdet. Er musste sich ein wenig ausruhen und ein kurzes Mittagsschläfchen einlegen, schließlich würde er am Abend Besuch bekommen.

Den Nachmittag hatte er damit verbracht, endlich seine Wohnung aufzuräumen: den Flur, die Küche, die Garderobe sowie Wohn- und Schlafzimmer. Er hatte einen Schlauch ins Abwaschbecken der Küche gehängt und den Abfalleimer mit einem Desinfektionsmittel ausgespült.

Lange Zeit starrte er auf das Bild seiner Eltern, das über dem Küchentisch hing, und wandte sich schließlich ab. Nein, das Chaos ließ sich nicht beseitigen. Der Geruch nach abgestandenen Essensresten, den vielen Schmeißfliegen und der Fäulnis in der Küche hielt sich hartnäckig in seiner Nase. Er schluckte eine Viagra und spülte sie mit Aquavit und Wasser hinunter. Dann öffnete er mit dem spitzen Nagel seines kleinen Fingers die Schnupftabakdose aus Rosenquarz und stopfte sich eine Portion Koks in den linken Nasenflügel. Den Rest verrieb er auf dem Zahnfleisch und schloss einen Moment die Augen. Wenn die Hure nicht bald käme, würde er explodieren. Er biss sich auf die Lippen und starrte wieder auf das Porträt seiner Eltern, Tanĵa und Milan Biljano.

Wenig später hörte er die Klingel, und er öffnete die schwere Eichentür. Die Hure mit den grünen Augen lächelte. Sie kannte seine Gewohnheiten. „Hallo, Kleiner.“

Kleiner, dachte er. Er war ein zweiundsiebzigjähriger, geiler alter Bock.

„Da“, sagte die Hure, die er Lissi nennen durfte, und streckte ihm die schwarze Schuhcreme entgegen. „Du kannst mir helfen.“

„Nein, Lissi.“ Er war ruhig, als hätte er gewusst, dass dies passieren würde.

Sie stemmte ihre Arme in die Seite. „Nein?“ Sie lächelte. „Nein? Du wagst es, nein zu sagen? Bist du ein kleiner böser Junge, Sedar? Sag’s mir. Bist du ein kleiner böser Junge? Hm?“

„Nein, Lissi.“

„Ich werde deinem Vater sagen, dass du versucht hast, mich anzugrabschen.“

„Nein, Mutter.“

„Nein, Mutter? Nenn mich Lissi, nenn mich nicht Mutter!“ Ihre glänzenden grünen Augen sahen ihn prüfend an, als überlegte sie, welche Peitsche sie heute nehmen würde. Dann warf sie ungeduldig ihren Kopf herum, stieß das Fenster auf und beugte sich zu dem kiesbestreuten Hof hinunter, während ihre weichen Brüste platt gedrückt auf dem Fenstersims lagen. „Es stinkt hier drinnen bestialisch, du böser Junge!“

Sedar nutzte die Gelegenheit, um aus der Küche ins Schlafzimmer zu schleichen. Er zog sich aus und versteckte sich im Kleiderschrank, als er ihre Schritte und das gellende Lachen aus dem Badezimmer hörte. Er duckte sich und sah durch die Tür des Kleiderschranks die schwarzen Lackstiefel mit den spitzen Absätzen auf sich zukommen.

„Du kleiner böser Junge! Wo bist du? Lissi möchte es dir so richtig besorgen!“

Er spürte eine enorme Erregung und öffnete die Tür des Schranks. Auf allen vieren kroch er ihr entgegen und leckte ihre Stiefel. Dann spürte er den ersten Peitschenhieb auf der Haut.

***

Als der Pole vom Joggen in die gemietete Wohnung in der Ruhrtalstraße zurückkehrte, warf er einen Blick auf den Bildschirm. Im Haus am Tuchmacherplatz war es still, als wäre nichts geschehen.

Er nahm eine Dose aus dem Küchenschrank, öffnete sie und löffelte die kalte Hummersuppe am Tisch, während er den Bildschirm im Auge behielt. Er schaltete auf die zweite Kamera um, die er im Schlafzimmer angebracht hatte. Seine dünnen Lippen wurden noch schmaler als sonst, als er den alten Mann und die Hure im Bett betrachtete.

Sedar Biljano verlangte von ihr, ein Schloss für seine Schlafzimmertür zu besorgen und es nächste Woche mitzubringen.

„Wozu brauchst du ein Schloss, alter Mann?“

„Ich glaube, jemand beobachtet mich.“

Der Pole verzog seinen Mund zu einem Grinsen. Es war ihm gelungen, bei Biljano Angst zu entfachen. Die Bedrohung erschien ihm an diesem Abend wohl allgegenwärtig. Er musste gespürt haben, dass jemand ihn beobachtete.

„Ich bin zu schlau, zu unsichtbar, du alter Narr“, flüsterte der Pole.

Am frühen Nachmittag hatte der Alte mit blassen, über dem Bauch gefalteten Händen zwei Stunden im Bett gelegen und den eigenen leidenschaftlichen Wutanfällen gelauscht. Seine bloße Existenz verursachte dem Polen Magenkrämpfe; manchmal stellte er sich vor, Biljano habe heimlich seine Kissenüberzüge aus der Wäsche genommen und seine Körpersäfte hineingerieben. Er hatte den Eindruck, den stinkenden alten Mann überall zu riechen, wohin er auch ging. So fing es an.

Lissis erigierte Brustwarzen starrten ihn vom Bildschirm an wie Schneckenaugen.

Lustereczko, lustereczko, powiedz przecie, kto jest najpiękniejszy w świecie? Spieglein, Spieglein an der Wand! Ist sie die Schönste im ganzen …?“

Ihre grünen Augen gefielen ihm außerordentlich gut, besonders aber gefielen ihm die großen Brüste.

„Ty jesteś gotowy?“ Er sah in den Spiegel. Emotionslos scannte er den Schatten eines geheimnisvollen Lächelns. „Ja“, zischte er. „Ich bin so weit!“

Seine Oberlippe fing an zu zucken, sein Nacken und seine Schultern waren schweißnass. Er stand auf, nahm seinen Arztkoffer und verließ das Haus.

Draußen sog er die kalte Luft ein und stieg in sein Auto. Die Ruhrtalstraße schlängelte sich vor ihm durch die Nacht.

Er schaltete die Stereoanlage ein und lauschte den Klängen von Schuberts Winterreise. So begann er immer, der Zwang zu töten. Er gab Vollgas.

***

Viel später gab er der Hure den Befehl. „Oblejcie im rany kwasem! Einem Dieb hackt man die Hand ab!“

Lissi gehorchte, befreite Biljano von seiner rechten Hand und verätzte sie mit Säure. Sie tat es, ohne mit der Wimper zu zucken, und schaute den sterbenden Biljano dabei in die Augen. Das imponierte ihm, und er empfand beinahe so etwas wie Achtung.

Nach Biljanos Tod befahl er ihr, im Bett nicht zu sprechen, sich nicht zu bewegen, nicht zu strampeln und nicht zu stöhnen. Widerstandslos gehorchte sie. Sie hatte gesehen, wozu er fähig war. Als seine blutverschmierten Hände über ihren Körper glitten, übermannte ihn das überwältigende Gefühl, über ihr ein Ungeheuer zu gebären. Einen Moment später ließ er die Hosen bis zu den Knien herunter.

Sie schloss die Augen wie im Augenblick der Kommunion.

Mam nadzieję, że wiesz, co cię czeka! Ich hoffe, du weißt, was dich erwartet!“

Sie nickte.

„Verstehst du meine Sprache?”

Wieder ein knappes Nicken.

„Kto jest najpiękniejszy w świecie?”

Sie begann zu weinen.

Er wiederholte seine Frage. „Lustereczko, lustereczko, powiedz przecie, kto jest najpiękniejszy w świecie?”

„Du bist der Schönste im ganzen Land!“, flüsterte sie.

Als er mit ihr fertig war und sich wieder anzog, lag die Hure bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt neben der blutüberströmten Leiche von Sedar Biljano.

Auf der Ruhrtalstraße – mit Biljano und der Hure im Kofferraum – schaltete er seine Stereoanlage ein. Bei den ersten Klängen von Schuberts Winterreise legte sich ein geheimnisvolles Lächeln auf sein Gesicht, und er umklammerte das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.

***

Die wildromantische Burgruine Kattenturm befand sich in einem Waldstück direkt am Ufer der Ruhr. Einzig der fragmentarisch erhaltene Turm erinnerte an die ehemalige Burg Lüttelnau, die im 13. Jahrhundert an dieser Stelle errichtet worden war und den Adelsherren als Sitz gedient hatte. Legenden zufolge hatte es sich um ein Raubritternest gehandelt. Eine geheimnisvolle Anziehung ging von diesem Ort aus, der man sich nur schwer entziehen konnte. Bei genauerem Hinsehen waren noch das offen liegende Kellergewölbe, zwei Fensteröffnungen und die Überreste eines Wandkamins zu erkennen, wo ein Spaziergänger in den frühen Morgenstunden Biljanos entstellte Leiche entdeckte, in vier Teile gehackt und zusammen mit toten Giftschlangen in einen Ledersack eingenäht.

In Kettwig erzählte man sich, in der Nähe der Burg einen großen, elegant gekleideten, geheimnisvollen Fremden mit blonden Haaren gesehen zu haben, der am Abend zuvor am Kattenturm ein Ticket gelöst hatte. Aber die Kettwiger wussten schon immer, dass die Burgruine ein schauriger Platz war.

***

Am nächsten Tag bereitete der Pole sich auf seinen nächsten Auftrag vor und holte die Autobahnkarte aus dem Handschuhfach. Sein Ziel: Florenz, Italien, wo ein gewisser Mirko Selicz seinen Urlaub verbrachte. Er würde wie Sedar Biljano das Wettrennen gegen das Böse verlieren.

Er machte einen kurzen Zwischenstopp in Leverkusen, wo er am Nachmittag die Hure auf dem Gelände der ehemaligen Mülldeponie ablegte, auf dem sich jetzt die Landesgartenschau 2005 präsentierte. Er fand, Lissi hatte – eingebettet von Autobahnen, Industrieanlagen und dem umschmeichelnden Rhein, umgeben von blühenden Trieben – für eine Hure eine ideale Grabstätte gefunden. Die Besucher der Landesgartenschau erwartete jedenfalls ein ungewöhnlicher Fund: eine bis zur Unkenntlichkeit entstellte Frauenleiche.