Kapitel 16

Istanbul – Freitag, 20. Oktober 2006

Istanbul war eine Stadt voller Geschichten und Geheimnisse. Bis heute hatte sie ihr bezauberndes Aussehen und ihre Lebendigkeit bewahrt. Es war ein Jammer, ausgerechnet hier den nächsten klebrigen Faden seines todbringenden Netzes zu spinnen. Sein Opfer war ein weiteres Mitglied der ehemaligen Malinka-Bewegung: Antonin Zagár.

Istanbul, die Stadt am Bosporus, lag im Mittelpunkt der Alten Welt und hatte bereits dem Römischen, Byzantinischen und dem Türkisch-Osmanischen Reich als Hauptstadt gedient. Hier hatten Kaiser und Sultane geherrscht, hier erzählte man sich die schönsten Geschichten aus dem Abendland.

Und heute, an einem Freitag, wollte er Antonin Zagár sein Geheimnis anvertrauen und ihm die Geschichte vom Sandmann erzählen.

„In der ganzen Welt“, sagte der Pole, „gab es niemanden, der so viele Geschichten zu erzählen wusste wie meine Mutter … und der Sandmann. Die beiden verstanden etwas vom Erzählen.“

Kalt blickte er den vor Angst und Schmerzen wimmernden Antonin Zagár an, der auf dem Holzfußboden der alten Hafenbaracke in einer Blutlache lag.

„Gegen Abend, wenn ich noch hübsch artig am Tisch oder auf meinem Bänkchen saß, gab meine Mutter mir ein rosafarbenes Bonbon, das mich ruhig halten sollte“, fuhr der Pole mit eindringlicher Stimme fort. „Ich war damals sechs. Dann kam der Sandmann. Er kam leise die Treppe herauf, denn er ging auf Socken; ganz leise öffnete er meine Schlafzimmertür, und, husch, warf er mir feinen Sand in die Augen, so fein, aber doch immer genug, dass ich nicht länger die Augen aufhalten konnte.“

Ein Ausdruck der Ungläubigkeit trat jetzt in seinen Blick, als er Zagárs rechten Armstumpf berührte und anhob. Er sah den Schmerz in den Augen des Mannes, aber kein Laut kam über seine Lippen.

„Warum schreist du nicht? Soll ich dir den Knebel aus dem Mund nehmen oder dir die andere Hand auch abhacken oder dir die Geschichte weitererzählen?“ Der Pole blickte zur Holzdecke und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Vielleicht war ich deshalb auch nicht imstande, den Sandmann genau zu sehen“, fuhr er fort. „Er schlüpfte gerade hinter mich, blies mir sanft in den Nacken, und dann wurde mein Köpfchen schwer. O ja, aber es tat mir nicht weh; es war ein Hauch. Hui! Hui! Der Wind, der Wind, das himmlische Kind.“ Er gab pfeifende Geräusche von sich. „Der Sandmann meint es gut mit den Kindern, sagte meine Mutter immer. Er verlangte nur, dass ich ruhig sein sollte, und das war ich immer dann, wenn meine Mutter mich im Bett an sich drückte. Ich sollte still sein, damit der Sandmann mich anfassen konnte, während meine Mutter mir seine Geschichten erzählte.“ Er ließ den Armstumpf zu Boden fallen. „Heute ist Freitag. Es sei unglaublich, sagte der Sandmann, wie viele ältere Leute es gebe, die ihn gern hätten und ihn freitags festhalten wollten! Besonders diejenigen, die etwas Gutes getan hatten. Guter, lieber Schlaf!, sagte meine Mutter dann zum Sandmann.“ Er stieß einen Seufzer aus. „Freitags kam kein Schlaf in meine Augen. Aber die älteren Leute vergaßen die guten Taten und sagten: Wir wollen es gewiss gern bezahlen, und so lag meine Mutter, aufgewühlt von ihren Schlechtigkeiten, die wie kleine Kobolde auf der Kante der Bettstelle saßen und mich über und über mit ihren warmen Körperflüssigkeiten bespritzten, die ganze Nacht wach. Es tat weh. Auch der Sandmann tat mir weh. Doch später sagte ich zu ihm: Komm doch und verjage die Bösen, damit ich einmal fest schlafen kann. Aber der Sandmann flüsterte mir ins Ohr: Gute Nacht! Das Geld für dich liegt im Fenster! Und meine Mutter wiegte mich in den Schlaf und sang zu den Klängen von Schuberts Winterreise:

‚Es brause unser Lied empor

Fürs teure Paar in hellem Chor.

Sie stehen beide wie ein Pflock,

Denn Handschuhleder ist ihr Rock!

Hurrah! Hurrah! dem steifen Paar!’“

Plötzlich stockte er und schaute auf Antonin Zagárs Körper, der seltsam zuckte. Aus dem Armstumpf sickerte kaum noch Blut, als er ihn erneut anhob. Er staunte über den verwirrten Gesichtsausdruck des Sterbenden.

„Du hast die Geschichte nicht verstanden?“, fragte der Pole. „Doch. Ich kann es sehen. Aber da ich dir deine böse Zunge herausgeschnitten habe, kannst du es mir nicht sagen. Heute ist Freitag! Oh, und der Tod ist der herrlichste Sandmann! Fürchte ihn nicht!“

Er nahm Antonin in den Arm und wiegte ihn in den Tod.