Kapitel 15
München
Das Sprechzimmer war dem Wartezimmer und dem Sekretariat sehr ähnlich, nur mit indirekter Beleuchtung und schweren Vorhängen vor den Fenstern. Neutrale Farben dominierten. Die Wände waren in einem satten Cremeton gehalten, die Möbel bezogen mit beigefarbenem Leinen. An den Wänden hingen zarte Landschaftsaquarelle und eine eingerahmte Promotionsurkunde sowie einige internationale Auszeichnungen – und die speziell angefertigte Lichtinsel mit ihren funkelnden Farben.
Durch die Sprechanlage erklang die Stimme seiner Assistentin: „Professor Kreiler, die Station hat angerufen. Anna Gavaldo ist auf dem Weg nach oben. Sie haben noch ein bisschen Zeit.“
„Danke, Biggi.“
Er überlegte, wie Anna wohl nach der heutigen Sitzung auf ihn reagieren würde. Er musste es schaffen. Notfalls würde er Bobby, sein zweites Ich, zurate ziehen. Gedankenverloren schaute er aus dem Fenster seines Sprechzimmers.
Plötzlich hörte er ein zartes Klopfen an der Tür und gewahrte einen Hauch ihres Parfüms. „Du darfst ruhig reinkommen, Anna.“
„Hallo, Jörg.“
Er drehte sich um. Ihr Anblick überwältigte ihn. Sie wirkte so zart, so verletzlich.
„Du siehst toll aus“, sagte er, als sie die Tür hinter sich schloss. „Braungebrannt und kerngesund.“
Er tat, als begegnete er Anna heute zum ersten Mal nach dem Urlaub, und erwähnte mit keinem Wort den gestrigen Vorfall.
„Was man von dir nicht gerade behaupten kann. Du solltest mehr vor die Tür gehen. Du bist bleich wie ein Gespenst“, sagte sie.
Sie sieht toll aus, dachte er. Wie Katharina damals nach unserem ersten gemeinsamen Urlaub.
„Du scheinst dich über irgendetwas zu wundern“, bemerkte er.
Anna sah sich um. „Nein, es ist nur … ich dachte, es wäre …“
„Ja …?“
„Kälter.“
Er runzelte die Stirn. „Kälter?“
„Ja, ich dachte das Sprechzimmer in einer Klinik wäre kälter.“
„Oh, ich verstehe. Das Zimmer. Du bist ja heute das erste Mal hier.“
„Es ist viel gemütlicher, als ich es mir vorgestellt hatte.“
Kreiler lächelte. „Danke. Es erfüllt seinen Zweck.“
Sie schaute auf das schwarz-weiß getupfte Stofftier. Der Teddybär lehnte an der Schreibtischlampe und musterte sie mit seinen dunklen Augen.
„Hat er einen Namen?“
Kreiler zuckte mit den Schultern. „Ich nenne ihn Bobby. Er steht mir zur Seite, wenn ich meine kleinen Patienten therapiere. Kinder fühlen sich wohler, wenn sie ein Kuscheltier in ihrer Nähe wissen. Sie glauben, es könne sie beschützen, wenn es brenzlig wird.“
Anna nickte. „Du benutzt ein Stofftier, um ihr Vertrauen zu gewinnen? Finde ich gut. Interessant. Darf ich mich setzen?“
Sie ist nervös. „Nur zu.“
Anna setzte sich und schlug ihre Beine übereinander. „Ich habe mich doch nicht auf deinen Platz ge–“
Doch! Hast du. In Kreilers Kopf gab die Stimme seines Freundes Bobby Murmellaute von sich. Sei still, Bobby. Ich bin dran, befahl Kreiler seiner inneren Stimme.
„Nein, es ist alles in Ordnung. Du sitzt auf dem Stuhl des Glücks.“
Sie lächelte verwirrt. „Stuhl des Glücks?“
„Weißt du, warum du hier bist, Anna?“
„Was soll das, Jörg? Ich bin nicht verrückt, und ich habe den Grund der Einweisung ganz sicher nicht vergessen. Einen Teil meiner Vergangenheit schon, aber das hier nicht!“
Er lachte. „Sehr gut. Du reagierst so, wie ich es erwartet habe. Dann können wir also anfangen?“
Noch immer klang ihre Stimme verärgert. „Ja!“
„Mit Unterstützung von Hypnose und suggestiver Regression wirst du, wie ich hoffe, die Vorfälle der vergangenen Jahre noch einmal durchleben, was natürlich sehr hilfreich für deine Genesung wäre.“
„Damit können wir dann die Dämonen vertreiben?“, fragte sie.
Ja, aber danach wirst du mein Mädchen sein.
Nein, Bobby, mein Mädchen, nicht dein Mädchen!
„Wir werden sehen, Anna“, antwortete Kreiler. „Ich denke schon. Nein, ich bin mir absolut sicher, dass wir es schaffen werden. Die Sitzungen werden auf Video aufgezeichnet, damit du sie dir später ansehen kannst, falls du das wünschst. Würdest du dich jetzt bitte hinlegen.“
Sie nickte.
„Mach es dir bequem“, sagte Kreiler und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. „Ich werfe nur noch rasch einen Blick in meine Notizen, dann können wir das Band und die Kamera starten.“
Anna streifte sich die Schuhe ab und sank auf die Couch. „Müssen wir denn unbedingt ein Band mitlaufen lassen?“
„Allerdings. Das müssen wir. Wirklich. Das ist übrigens nicht meine Idee. Die Versicherungsgesellschaft für die Arzthaftpflicht verlangt das.“
„Ich habe nicht vor, dich zu verklagen, Jörg.“
Er lachte. „Ja, ja. Das sagen sie alle.“
Er deckte sie mit einer Wolldecke zu, dann richtete er die Digitalkamera auf sie und schaltete die Wandleuchte ein. Sofort wurde der Raum von zarten Farben überflutet. Das Rot vermischte sich dem Blau und dem Orangeton.
„Das Licht ist schön“, sagte sie. „So beruhigend.“
„Es hilft bei der Hypnosetherapie. Mit Hypnose bezeichnet man den Zustand, in welchem der Betreffende außergewöhnlich empfänglich für Suggestionen ist. Hast du Angst?“
Anna nickte.
„Wovor denn?“
„Dass ich eine Frage falsch verstehe.“
„Das geschieht nur, wenn du eine Frage falsch verstehen möchtest.“
„Ich habe Angst vor dem, was ich sehen könnte.“
„Das verstehe ich. Aber ich werde dich schützen.“
„Bitte, Jörg“, sagte sie flehend.
„Nach allem, was du mir gesagt hast, kannst du dich nicht mehr daran erinnern, was vor sieben Jahren geschehen ist.“
„Ich … ich habe Lücken.“
Und ich habe Sehnsucht nach dir, nach deinem Körper, nach …
Verdammt noch mal, Bobby, du störst die Sitzung!
„Ich möchte dich darauf hinweisen, dass manche Patienten wesentlich intensivere Sinneswahrnehmungen haben als andere. Es kann dir also so vorkommen, als würdest du dich in der Vergangenheit befinden. Alles, was du siehst, hörst, fühlst, sogar das, was du riechst, könnte dir absolut real erscheinen.“
„Ich verstehe. Genau das ist es …“
„Sorge dich nicht. Ich werde auf dich aufpassen.“
„Ja.“ Sie klang wie ein verängstigter kleiner Vogel.
„Du beschreibst mir alles, was du erlebst, und die Kamera wird das Ganze aufnehmen.“
„Glaubst du, dass ich es schaffe?“, fragte sie ängstlich.
Ich werde es schaffen!
Kreiler antwortete nicht und schaltete das integrierte Aufnahmegerät ein.
„Heute ist Freitag, der 20. Oktober 2006. Aufzeichnung der ersten Sitzung mit Anna Gavaldo. Diese Aufzeichnung wird mit ihrem Einverständnis gemacht. Anna, würdest du …?“
„Entschuldige. Wenn du mit mir redest, möchte ich dir in die Augen schauen.“
Er sah auf sie herab und erblickte die Farbe eines strahlend blauen Himmels, das Meer und seine Brandung, und er spürte gleichzeitig eine taube Verzückung, die wie ein Messer durch sein Inneres glitt. Wie lange werde ich mich in der Gewalt haben?
„Anna, bitte deinen vollständigen Namen für die Aufzeichnung.“
Anna nannte ihren Namen.
„Das Ziel unserer heutigen Sitzung ist die Rückführung. Wir versuchen, dich zu dem Abend zurückzuführen, an dem du überfallen wurdest. Um das zu erreichen, werden wir anfangs ein wenig miteinander plaudern, damit du dich besser entspannen kannst.“ Er lächelte. „Also, was gab es heute Morgen zum Frühstück?“
„Es gab Müsli mit Honig.“
„Was hast du getrunken?“
„Kaffee mit Milch, ohne Zucker.“
„Anna, kannst du mir sagen, wie spät es ist?“
Sie schaute auf ihre Armbanduhr. „Es ist elf Uhr.“
„Und welchen Tag haben wir heute?“
„Freitag, den 20. Oktober 2006.“
„Sehr gut. Wann hast du deinen Mann Max zum ersten Mal getroffen?“
Annas Gesichtszüge entspannten sich mit einem Mal. „Im Convento di Carmo.“
Ich werde dir diesen Kerl schon austreiben!
Bobby! Sei still!
„Und wann war das?“
„Bitte?“
„Wann war das?“
„Damals war ich vierzehn Jahre.“
Kreiler spürte den stechenden Schmerz der Eifersucht in seiner Brust. „Und deine Ehe mit Max?“
„Ja, was soll ich da sagen? Wir sind seit sechs Jahren verheiratet, und ich kriege noch immer Herzklopfen, wenn ich seine Stimme am Telefon höre.“
Soll ich ihn für dich umbringen?, wollte Bobby wissen.
Reiß dich zusammen. O Gott!, dachte Kreiler.
Du entwickelst dich zum Jammerlappen, Jörg.
„Lehn dich zurück, Anna. Entspann dich und konzentriere dich auf meine Stimme. Also, ich möchte, dass du jetzt tief einatmest und dann die Luft herauslässt. Und wenn du dann wieder einatmest, dann möchte ich, dass du dir Folgendes vorstellst. Die Luft wirbelt rund um deine Lunge, und dann strömt sie davon, und wenn sich die Lunge erneut mit Luft füllt, dann möchte ich, dass du dir vorstellst, dass all die Spannungen, die in dir sind, herausgezogen werden. Sie sind wie Rauch, der in dir herumwirbelt, und du bläst ihn raus wie einen tiefen Seufzer. Und all deine Ängste und Sorgen entweichen in einer dichten Wolke aus schwarzem Rauch. Siehst du, wie der Rauch langsam von dir wegschwebt? Spürst du die sanfte Meeresbrise, die dich umgibt?“
Wenig später hatte er sie in leichte Trance versetzt. Sie lag entspannt auf dem Rücken, mit schlaffen Gliedmaßen, geschlossenen Augen und ausdrucksloser Miene.
„Welches Datum haben wir heute?“
„Dienstag, den 11. Oktober 2005.“
„Bist du dir sicher? Siehst du, wie der Wind mit dem Kalenderblatt spielt? Dein Finger gleitet über den Kalender, die Zeit bewegt sich rückwärts, weiter und weiter. Während der Wind die Zeit rückwärtslaufen lässt, gehen auch wir, was das Datum betrifft, rückwärts. Wir gehen immer weiter zurück. Was für ein Tag ist jetzt?“
„Montag, der 8. Oktober 2001 …“
„Wir gehen weiter zurück, weiter, immer weiter. Du bist auf einem weichen Pfad neben einem kühlen Bach und bleibst ein Weilchen stehen, um dem Wasser zu lauschen. Du fühlst dich frei und entspannst dich. Du gehst weiter, ganz langsam. Du siehst ein Blatt, das wie ein Schiffchen auf dem Wasser treibt, und verfolgst mit den Augen, wie es mit der Strömung segelt. Das Blatt begleitet dich. Bei jedem Schritt lässt du mehr los, und bei jedem Schritt, den du den Pfad entlanggehst, fühlst du dich wohl und sicher, du bist ruhig und gelassen, in Geist, Körper und Seele.“
Anna runzelte die Stirn, als Kreiler sie von dem Bach wegführte, und verzog leicht das Gesicht.
„Du kommst zu einer zartgrünen Sommerwiese mit Blumen, du riechst den Duft der Blumen, es ist warm, die Sonne scheint, der Himmel ist blau, du spürst eine leichte Brise auf den Wangen und gehst auf einen Wald zu und siehst einen Weg, der durch den Wald führt.“
Ihre Brust hob und senkte sich. „Und wieder läuft die Zeit zurück, weiter und weiter in die Vergangenheit. Immer weiter … weiter. Welches Datum haben wir heute?“
„Freitag, den 27. Oktober 1995. Heute wurde Katharina beerdigt. Sie hat mich im Stich gelassen.“ Anna begann zu weinen. „Sie wurde ermordet.“
„Bist du sicher?“, fragte er.
Plötzlich stand sie auf dem Friedhof, wo sie Katharina am späten Nachmittag begruben. Die Trauernden am Sarg und der Priester warfen in der winterlich anmutenden Sonne lange Schatten. Wenn der Wind sich zwischendurch beruhigt hatte, hörte man unten auf der Straße gelegentlich einen Wagen vorbeifahren. Es war schnell vorüber. Nachdem der Priester den Sarg und die Trauergäste gesegnet hatte, defilierten die Leute aus dem Dorf vorbei; einige legten Blumen auf den Sarg. Severin, Katharinas Jugendliebe, der schon seit fast drei Jahren in Boston lebte, machte einen verstörten Eindruck. Er blieb am Grab stehen, bis der Letzte gegangen war. Anna wusste, wie ihm zumute war. Sie sah, wie er die Augen zu Boden schlug, und später, als alle fortgegangen waren, sah sie ihn weinen.
Dann bemerkte sie einen Schatten, der mit versteinerter Miene zwischen der trauernden Gemeinde stand und sie beobachtete, ein Schatten, der sich verschob und sich auf die Trauergemeinde senkte, die wie hinter dunklem Milchglas verschwand. Ein Mann hob sich in überirdischer Deutlichkeit aus dem Schatten heraus, dass sie selbst seine Gedanken lesen konnte. Sie hörte sein Flüstern.
„Warum verzweifelst du, Anna, wenn der Tod das
Tor zu Freude und Herrlichkeit ist?“
„… ist es Katharina, die in dem Grab liegt?“, fragte Kreiler vorsichtig.
Sie bewegte sich unbehaglich auf der Couch und nickte. „Ich glaube, ja. Ich bin mir aber nicht sicher.“
Er sah jetzt, dass sich ihre Abwehr in einer Mischung aus Furcht und Elend verlor.
„Was siehst du, Anna?“
Sie schilderte unter seiner Anleitung ihre Empfindungen. „Ich schaue mich noch einmal zu Katharinas Grab um, an dem Severin steht. Aber …“
„Anna, sieh genau hin. Wer liegt in dem Sarg?“ Kreiler saß vorgebeugt in einem Ohrensessel, etwa anderthalb Meter entfernt, und staunte über die Veränderung in ihrem Gesicht, wie Trauer einem Ausdruck argwöhnischer Furcht und Entsetzen wich.
Anna wollte nicht hinschauen, sie wollte nicht hinuntersehen, dort, wo ihre Schwester lag, die sie immer beschützt hatte. Was sollte aus ihr werden? Wer beschützte sie jetzt außer ihre Großeltern? Katharina war so stark, sie war unersetzlich für sie.
Anna hielt die Hand ihrer Großmutter fest umklammert. Sie wollte nicht neben ihrer Mutter stehen. Sie verabscheute diese zur Schau gestellte Beherrschung, wie auch Katharina sie verabscheut hatte.
Ein merkwürdiger Impuls erfasste sie, ein Sog, der von Katharinas Grab auszugehen schien und sie zwang, ihre Starre zu lösen. Gleichzeitig überfiel sie die Angst, dass sie sich zu ihrer Schwester ins Grab stürzen könnte. Sie wollte nicht ohne sie leben.
Ein flüchtiger Blick auf das Grab, und
plötzlich war es nicht Katharina, die in dem Sarg lag, sondern sie
selbst – auf roten Samt gebettet.
„Wer steht am Grab? Was siehst du?“
„Meine Mutter … Sie steht vor einem Grabstein.“
„Und weiter?“
„Auf dem Grab liegt ein Blumengebinde aus Schleierkraut und Lilien.“
Katharina konnte Lilien nicht ausstehen.
Bobby! Bitte!, ermahnte Kreiler seine innere Stimme
Annas Miene verfinsterte sich. Sie rollte sich auf die Seite.
„Anna?“, flüsterte er.
„Nein! Ich kann nicht!“
Das ist … das ist Katharinas Stimme!
Verdammt! Halt endlich deine Klappe und verschwinde.
„Was steht auf dem Grabstein?“
„Ich kann es nicht sehen. Meine Mutter steht davor, mit meiner Schwester.“
Schwester?
„Deine Mutter verlässt jetzt den Friedhof. Kannst du sehen, was auf dem Grabstein steht?“
Anna gab einen klagenden Ton von sich und drehte das Gesicht in die Kissen.
„Sieh nicht weg, Anna.“
Sie blickte hoch, ihre Augen wurden groß. „Anna Wendel. Mein Name steht auf dem Grabstein ...“ Dann versagte ihre Stimme. Ihr Unbehagen war jetzt greifbar, und er befürchtete, dass es in Hysterie übergehen könnte. Außerdem durfte er am Anfang nicht zu weit gehen.
Mit leiser Stimme führte er sie langsam aus der Trance heraus und ging den Weg zurück, den sie durch die imaginäre Landschaft gekommen war. Die Wiese. Der Wald. Der Bach.
„Atme tief durch“, wies er sie an. „Die Luft ist köstlich. So süß und frisch und kühl.“
Ihre Brust hob und senkte sich langsam und gleichmäßig.
„Wenn ich bis fünf zähle, wirst du aufwachen und dich entspannt und erfrischt fühlen, okay?“ Ohne auf ihre Antwort zu warten, begann er zu zählen. „Eins … zwei … drei …“
Annas Lider zuckten, dann öffneten sie sich langsam und zeigten ihm zwei dunkle, geweitete Pupillen, die sich im Licht zusammenzogen.
Kreiler reichte ihr ein Kleenex.
Anna blinzelte hektisch ins Licht, dann hob sie schwungvoll die Füße von der Couch und kam hoch. Ihr Gesicht war gerötet, doch ihre Augen waren glänzend und hell.
„Du hast sehr gut mitgemacht. Ich bin stolz auf dich!“
Sie räusperte sich. „Ich verstehe das alles nicht, Jörg. Das war nicht so!“
„Sag mir, was du denkst.“
„Ich denke, dass das alles verrückt ist.“
Sie hat recht, Jörg.
Sie seufzte. „Warum soll ich mich an Sachen erinnern, die niemals passiert sind?“
„Siehst du, es ist unmöglich, eine Erinnerung zu wecken, ohne gewissermaßen auch die Emotion zu wecken, die mit dieser Erinnerung verbunden ist. Das emotionale Beiwerk kann manchmal so schmerzlich sein, so erschreckend, dass das Gehirn eine Erinnerung vollständig löscht.“
Du Lügner!, kreischte Bobby.
„Nein“, sagte sie erregt. „Es ist alles doch noch da, so frisch, so vollständig. Katharinas Beerdigung, ich war doch da!“
„Das ist mir durchaus klar. Aber damit die Wunschvorstellung weiterbestehen konnte, hast du meiner Meinung nach angenehmere Erinnerungen erfunden, die nun die tatsächlichen Erlebnisse überlagern.“
„Welche Wunschvorstellung?“
„Du wolltest auch tot sein, weil du glaubtest, ohne Katharina nicht weiterleben zu können. Deshalb hast du dich in dem Grab liegen sehen.“
„Es ist trotzdem nicht so passiert! Nein!“
„Wenn du das sagst.“
„Das sage ich nicht nur so, das war auch so!“
„Wie können wir so etwas mit Sicherheit jemals wissen?“
„Wir können es! Du weißt es, ich weiß es. Was redest du da?“
Reg dich ab, Liebes.
„Aber wieso erinnerst du dich denn dann so präzise an Dinge, die niemals passiert sind?“
Sie sah ihn völlig verblüfft an.
„Sieh mal, Anna, du hast deiner Schwester schon immer sehr nahegestanden, und du wolltest ihr auch im Tod nahe sein, damit sie sich im Grab nicht allein fühlt. So geht es vielen, die um einen geliebten Menschen trauern. Und du warst damals noch ein Kind. Das, was du siehst, ist normal.“
„Nein! Nein, ich möchte meine Erinnerungen so behalten, wie sie sind.“
Er seufzte. „Ich glaube, es reicht für heute. Versuche, dich abzulenken. Lies ein Buch oder sieh ein bisschen fern. Grüble nicht zu viel. Alles wird gut!“
Sie lächelte gequält. „Versprichst du mir das?“
„Ja.“
Aber ich
nicht!, flüsterte Bobby.
***
Kreiler schaltete das Tonbandgerät ein und dachte kurz nach. Dann drückte er die Aufnahmetaste und diktierte: „Allmählich beginnt Katharina in Anna zu hypostasieren. Sie hindert ihre Schwester daran, sich mit dem emotionalen und physischen Trauma auseinanderzusetzen. Ich benutze für meine Therapie eine Methode, die im diagnostischen und statistischen Handbuch der Geisteskrankheiten, herausgegeben von der Amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie, beschrieben wurde. Dort heißt es: Das wesentliche Merkmal ist die Existenz zweier unscheinbarer Persönlichkeiten innerhalb des Individuums. Jede Persönlichkeit ist eine voll ausgebildete und komplexe Einheit mit eigenen Erinnerungen, Verhaltensmustern und sozialen Bezügen, die die Handlungen des Individuums bestimmen, wenn diese Persönlichkeit dominiert. Der Übergang von einer Persönlichkeit zur anderen geschieht plötzlich, oft verbunden mit emotionalem Stress … Normalerweise hat die originäre Persönlichkeit weder Kenntnis noch ein Bewusstsein davon, dass die andere Persönlichkeit existiert … Wie es auch bei Anna der Fall ist. Zum zweiten Mal kam Katharina als Person – wenn auch nur zögerlich – an die Oberfläche. Für die Therapie, doch besonders für mich, ist dies ein erster Erfolg.“
Er schaltete das Gerät aus. Anna hatte im Raum einen zarten Jasminduft hinterlassen, den er gierig aufsog. Er spürte die Hitze zwischen seinen Lenden. Er hatte in den vergangenen Jahren immer nur von Katharina geträumt, doch jetzt war er Feuer und Flamme für Anna, wollte sich hinter sie knien und ihren Hintern mit seinen Händen umschließen, ihre kühne Festigkeit fühlen, ihre Wärme, während er die Pobacken auseinanderdrückte. Er wollte mit seiner Zunge ihre süße Wärme kosten und eng umschlungen jeden ihrer Düfte einatmen. Anna wurde seiner geliebten Katharina immer ähnlicher, durch Anna lebte sie weiter. Er spürte, wie sein Glied hart und steif wurde. Seine Hand glitt nach unten. Er öffnete den Reißverschluss seiner Hose, nahm seinen Penis heraus und masturbierte heftig. Er kam gewaltig, schrie Katharinas Namen und war glücklich.
Während er zu den Papiertüchern griff, wusste er, dass in ihm ein Sturm tobte, ein Sturm unbegrenzter Möglichkeiten, keine davon besonders freundlich und jede mit unabsehbaren Folgen.
Er betrachtete sich selbst gern als attraktiv und glaubte, dass er es wert war, von Anna geliebt und erlöst zu werden, doch ihre Worte bewirkten manchmal genau das Gegenteil, besonders dann, wenn sie von Max und Katharina, ihrer Tochter, sprach. Immer dann war sein Schutzwall angeknackst, und er stand vor einem Abgrund, wo sich feine Risse auftaten, die sich allmählich zu größeren Klüften verbreiterten, um dann zusammenzuwachsen zu einem gähnenden schwarzen Loch, das ihn verschluckte und voller Trauer wiedergebar.
Doch jetzt kannte er die Lösung des
Problems.
***
Starnberg
„Anna macht Fortschritte, Max“, sagte Kreiler mit ruhiger Stimme. „In der ersten Sitzung hat sie mir von der Beerdigung ihrer Schwester erzählt. Sie glaubte, selbst in dem Grab zu liegen.“
Er hörte, wie Max am anderen Ende der Leitung den Atem anhielt. „Das ist ein gutes Zeichen. Glaub mir. Damit assoziiert sie den Wunsch, ihrer Schwester nahe zu sein. Sie wollte damals ebenfalls sterben, weil Katharina sie verlassen hatte. Der Mord spielt also hier eine sekundäre Rolle. Ich konnte sie beruhigen.“
„Wann kann ich sie besuchen?“
„Frühestens in drei bis vier Tagen. Sie soll sich vollkommen auf die Therapie konzentrieren. Vertrau mir, Max.“
„Mir bleibt wohl nichts anderes übrig.“
Kreiler ignorierte die Bemerkung. „Hast du einen gehoben?“
„Mehrere.“
„Manchmal hilft es. Und jetzt würde ich gern mit meiner kleinen Freundin sprechen. Sie schläft doch noch nicht, oder?“
„Nein. Kommst du mal, Kleines? Onkel Jörg möchte dir gute Nacht sagen.“
Katharina kam polternd angerannt und riss Max förmlich den Hörer aus der Hand.
„Hallo, Onkel Jörg.“
„Hallo, meine Kleine“, sagte Kreiler leise. „Was hältst du davon, wenn ich dich morgen früh abhole. Wir könnten in den Zoo zu den Bären gehen.“
„Ja“, piepste Katharina. „Das machen wir.“
„Und dann habe ich noch ein Geschenk für dich“, sagte die Stimme am Telefon. „Ich habe es deiner Mami gezeigt, und es gefällt ihr. Sie sagt, du wirst es mögen. Mami ist sehr krank und schläft immer, Schätzchen, aber wir können sie gesund machen. Du und ich.“
Katharina nickte. „Ja.“
„Ich mache Mami wieder gesund. Das verspreche ich dir“, sagte er mit seltsam heller Stimme.
„Ja!“, meinte Katharina ernst. „Mach Mami schnell wieder gesund. Ich schlafe am liebsten bei Mami. Morgens kuschele ich immer mit ihr, da mag ich keine Männer in ihrem Bett. Und wenn ich groß bin, habe ich auch so schöne Schuhe wie Mami, so welche mit Perlen und Untersetzern.“ Plötzlich machte sie eine Pause. „Oje! Jetzt weiß Papi, dass ich heimlich Mamis Schuhe anziehe. Gibst du Mami einen Kuss von mir, Onkel Jörg? Und sie soll bei offenem Fenster schlafen, weil atmen so gesund ist. Gute Nacht, Onkel Jörg.“
Als Kreiler spät in der Nacht in seinem Badezimmer in den Spiegel blickte, sah er ein freudig erregtes Gesicht mit geröteten Wangen.
„Ja, das hast du gut gemacht, Bobby! Wirklich gut gemacht. Das Spiel kann beginnen.“
Wir sind schon mittendrin!