Kapitel 19

München Vormittag

Kreiler drückte auf die Tracktaste des DVD-Players und sprang zum ersten Teil der Sitzung. Van Cleef hatte ihm berichtet, dass Anna ihr Leben dem behinderten Lukas verdankte, der nun in der Forensischen Strafanstalt Agrona Cara in Essen inhaftiert war. Die meisten Informationen über Lukas stammten von ihm selbst und seien in den Polizeiakten festgehalten. Im zweiten Teil der betreffenden Sitzung war es Kreiler gelungen, Anna zum damaligen entscheidenden Abschnitt heranzuführen, in dem Lukas ihr das Leben gerettet hatte.

„Das habe ich nicht gewusst“, sagte Anna, nachdem Kreiler sie zurückgeholt hatte.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

„Keine Ahnung, da waren gerade Tausende von Eindrücken. Wie Blitze. Ich weiß auch nicht. Hat der Junge von damals mir wirklich das Leben gerettet?“

„Ja, er hat dich gerettet“, sagte er. „Diesen Widerstreit deiner Erinnerung, darüber haben wir doch gesprochen.“

„Der hat sich aber plötzlich zu einer regelrechten Schlacht entwickelt. Was ist nun eigentlich wirklich? Ich komme mir vor wie eine Zuschauerin, die sich zurücklehnt und einen Film anschaut, in dem ich die Hauptrolle spiele.“

Kreiler rieb sich nachdenklich das Kinn. „Hm …“ Er stand auf. „Möchtest du einen Kaffee? Es lässt sich doch alles viel leichter ertragen mit einer guten Tasse Kaffee.“

„Ja, bitte.“

Er reichte ihr eine volle Tasse.

„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Patientin während ihrer Behandlung völlig den Verstand verliert?“

Kreiler lächelte. „Hör mal. Ein Mann geht zu seinem Arzt und sagt: Ach, Herr Doktor, irgendetwas stimmt nicht mit meinem Gedächtnis. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Das macht mich noch wahnsinnig. Da sieht der Arzt ihn an und sagt: Oh, und wie lange haben sie dieses Problem schon?“

Anna grinste und sagte: „Und der Mann antwortet: Welches Problem?“

„Ganz genau. Welches Problem. So und jetzt beruhigst du dich erst mal und trinkst deinen Kaffee.“

***

Nachmittag

Nachdem sie gegangen war, setzte sich Kreiler in seinen Ohrensessel und lehnte sich zurück. Er verschränkte die Finger im Nacken, schloss die Augen und dachte an die Anna, die im Alter von achtzehn Jahren Opfer eines Psychopathen geworden war. Heute Nachmittag hatte sie die erste halbe Stunde, die sie zusammen in dem dunklen Raum verbracht hatten, in Trance stumm auf der Couch gelegen, doch ihr Gesicht hatte ihm das Grauen gezeigt.

Er nahm die Fernbedienung, drückte die Play-Taste und ließ die Glasperlen von Katharinas Kette durch seine Finger gleiten, während er Anna betrachtete, die in Trance war. Im Profil verfehlte ihr Gesicht nur knapp das klassische Schönheitsideal – ihre Nase war ein bisschen zu klein, ihr Kinn ein bisschen zu fliehend. Krähenfüße verrieten, dass sie zu viel grübelte. Ihr blondes Haar war fransig geschnitten und sorgsam frisiert. Sie trug ein ärmelloses dunkelrotes Leinenkleid und rote Pumps. Sie hatte makellose, lange Beine. Wie ihre Schwester.

„Können wir anfangen, Anna? Wie ich sehe, bist du entspannt.“

„Kein Wunder bei den kleinen Glückspillen, die du mir verordnet hast.“

„Sie schaden dir nicht. Kannst du mir sagen, wie spät es ist?“

Anna schaute auf ihre Armbanduhr. „Es ist elf Uhr.“

„Lehn dich zurück. Entspann dich. Konzentrier dich auf meine Stimme, auf meine Worte.“

Jetzt wirkte sie gelöst.

„Erzähl mir von deinen Träumen.“

„Ich habe von Max geträumt. Er brachte mir einen Strauß Rosen. Ich fragte, ob er im Garten welche hat stehen lassen. Er meinte, dass im Garten noch Hunderte von Rosen sind und jede von ihnen mir sagt, wie sehr er mich liebt.“

Ein stechender Schmerz explodierte hinter Kreilers Augen. Er wandte den Blick vom Bildschirm und starrte aus dem Fenster, in der Hoffnung, seine Emotionen in den Griff zu bekommen. Es gelang ihm nicht.

„Und dann träumte ich von Katharina, die mir aus einem Buch vorgelesen hat. Es hieß Großvater Dämmerlicht. Es war so real, so schön. Kannst du mich da hinführen, Jörg?“, hörte er Anna sagen.

„In diese Zeit? Das finde ich nicht besonders klug, muss ich sagen. Wir haben deine Kindheit bereits hinter uns gelassen. Erinnerst du dich?“

„Kannst du es oder nicht? Ich möchte nicht nur Angst haben, wenn du mich hypnotisierst.“

„Angst? Ich versichere dir, deine Ängste sind vollkommen unbegründet. Denk doch daran, was du hinter dir hast. Zwei Mordanschläge und intensivste Schuldgefühle und Selbstzweifel. Momentan erlaubt es dein Zustand einfach nicht, dass du selbst darüber bestimmst, in welche Zeit du geführt wirst.“

„Du bist ausgesprochen stur und dickköpfig“, sagte sie enttäuscht und zupfte an dem Teddy.

Du auch.

„Hm?“

Unternimm endlich etwas, Jörg!

„Also gut, ich füge mich“, sagte sie schließlich.

„Leg dich zurück. Und jetzt möchte ich, dass du tief einatmest, und dann lässt du einfach die Luft raus. Jetzt atmest du noch einmal tief ein, und dann wirst du alles herauslassen, und all deine Spannungen und Ängste werden in einer dichten Wolke aus schwarzem Rauch verschwinden. Sieh zu ihr, sieh, wie sie von dir fortschwebt. Sie nimmt deine Sorgen mit und macht dich leicht und jung … Wie fühlst du dich jetzt?“

„Gut.“

Und wieder führte er sie in eine imaginäre, sichere Welt.

***

Jörg Kreilers Sicht verschwamm, teils vom steigenden Blutdruck, teils vom Hyperventilieren, teils von dem Milligramm Valium, das er eine Stunde vor der Sitzung geschluckt hatte. Manchmal schläferte das Beruhigungsmittel das Böse in ihm ein, manchmal nicht. Das Pochen in seinem Kopf stellte jetzt jedes Kopfweh, jede Migräne in den Schatten. Es fühlte sich an, als würde ein Dutzend Schlagbohrer einen Weg aus seinem Schädel suchen, durch seine Stirn, seine Schläfen, seine Ohren, nach unten durch seine Gaumenplatte, seine Lippen. Er spähte angestrengt in die Nacht und glaubte deutlich in der Ferne den roten Schimmer von Rücklichtern zu sehen und Bobby, der ihn durch die Dunkelheit lotste.

Erregt rief Bobby ihm in Erinnerung, wie Anna den kurzen, engen schwarzen Rock abstreifte. Man sah zu viel von den langen gebräunten Beinen. Und dann dieses blaue Top, das viel zu eng war und viel zu viel von ihren Brüsten preisgab.

Seine Erektion schmerzte, er musste sich Befriedigung verschaffen, und Anna lockte mit ihrem süßen Geruch. Über ihrem schlanken Körper lag eine dünne Bettdecke, die die Konturen weich nachzeichnete. Er atmete schnell und gepresst, doch er hatte sich unter Kontrolle.

Ihr makelloser Körper trieb ihn in den Wahnsinn. Er konnte sich nicht sattsehen an ihr. Ihre Kleidung hatte er sorgfältig – damit sie später keinen Verdacht schöpfen würde – auf den Schreibtisch gelegt.

Dann ein Einstich, kurz und schmerzlos, eine rauschhafte halluzinogene Wirkung. Sie spreizte ganz von selbst die Beine. Er betrachtete den winzigen pinkfarbenen Spalt mittendrin und spürte einen Schauder der Erregung. Mit den behandschuhten Fingern streichelte er über den wehrlosen Körper. Die Augen starr auf sie gerichtet, registrierte er jede Regung. Sie wirkte noch sinnlicher als sonst. Er berührte die Brustwarzen, ihre festen Brüste, ihre Scham, dann berührte er sich selbst, und sein Penis zuckte. Reibung erhöhte die Geilheit. Jetzt wand sich auch Annas Körper vor Lust hin und her. Er rieb über ihre Brüste, seine Finger strichen leicht wie eine Feder über die Innenseiten ihrer Schenkel, bevor sie höher wanderten und die feuchten Falten öffneten. Seine Zunge begann die weite Reise über den Bauch zu ihrer weichen, warmen, nassen Spalte. Sanft drang er in sie ein. Allmählich erwachte ihr Körper und fing seine Stöße rhythmisch auf. Als er kam, stieß sie einen spitzen Schrei aus und rief einen Namen, der nicht seiner war, sondern der seines Feindes, und er sprach die Worte, die ihr Peiniger Jakob so oft an die Schlafzimmerwand geschrieben hatte und die er aus den Akten kannte:

„Anna … Eu so a saudade, um principe, e lindo como o amor.

Danach erhöhte er die Ketamin-Dosis. Für einen kurzen Augenblick starrten ihn Verwirrung und blankes Entsetzen aus ihren Augen an.

„Jakob?“

***

Eine Stunde später hatte sie sein Paradies verlassen und kam allmählich zu sich. Kreiler schaute lächelnd an die Decke. Er zuckte immer noch vor Erregung.

Ich habe endlich mit ihr geschlafen, dachte er, und ich habe es genossen.

Er wollte nun mit ihr jenen unerschütterlichen Bund schmieden, zu dem sie vor der Regredierungsphase niemals bereit gewesen war.

„Es ist alles ein Geheimnis“, hörte er sich sagen. „Du darfst es niemandem verraten.“

„Ich werd’s nicht weitererzählen“, versprach sie.

„Kannst du morgen wieder herkommen?“

„Okay.“

Kurz darauf verließ sie benommen das Zimmer. Sie würde sich später an nichts mehr erinnern. Ketamin löschte jede Erinnerung.

Kreiler lächelte, und Bobby lächelte.

Mein Sieg über Anna.

Nein, Bobby, er war mein Sieg.

Es war unser Sieg und eine Schlappe für Max.

„Halt doch dein dummes Maul! Verschwinde!“, kreischte Kreiler.

Er blieb noch eine Weile in seinem Büro. Die Anonymität seines Sprechzimmers gab ihm jetzt in der Nacht ein befreiendes Gefühl. Er wusste: Schritt für Schritt, Tag für Tag würde sie ihm näher kommen. Er würde sie so laut und so lange schreien und heulen und trauern und wüten lassen, wie es nötig war, bis Katharina endgültig aus ihr emporstieg.

Kreiler schaltete den DVD-Player aus. Noch immer konnte er Annas Haut riechen. Er wünschte, sie wäre in diesem Moment bei ihm. Er wünschte, er könnte hier in der Klinik in ihrem Zimmer mit ihr zu Abend essen und mit ihr in einem Bett schlafen. Auf der Suche nach Wahrheit und gestohlenen Intimitäten fühlte er sich jetzt eher allein als frei. Er rief Max Gavaldo an und erzählte ihm von Anna. Danach flachste er ein wenig mit Katharina herum.

Eine halbe Stunde später verließ er die Klinik. Er war froh, endlich wieder an der frischen Luft zu sein, drehte sich eine Zigarette und schlenderte dann zum Parkplatz am hinteren Ende des Klinikgebäudes.

Bevor er ins Auto stieg, schaute er zu Annas Fenster hoch. Ihr Zimmer war hell erleuchtet. Er sah, wie sie allein am Fenster stand und mit einer Hand den Vorhang offen hielt. Ihre blauen Augen lächelten, und sie winkte zu ihm herab, ihr blondes Haar war zur Seite gebürstet. Sie hob die Hand zu einem Gruß.

„Sie ist so weit, Bobby“, flüsterte Kreiler.

Jörg, wir bekommen bald unsere Katharina, rief Bobby vergnügt und hüpfte durch die Nacht.

Am nächsten Tag erzählte er Annas Tochter, dass Bobby ihrer Mutter wunderschöne Glasperlen geschenkt hätte, aus denen sie soeben eine Kette gebastelt hatte. Und er erzählte, wie sehr auch sie den getupften Teddybär mochte.