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»Mischen!«, rief der Croupier.

Sterling entspannte sich. »Danke, lieber Gott, die Qual hat ein Ende, wenn auch nur für ein paar Minuten«, brummte er und hielt überall im Casino Ausschau nach einem Anzeichen von Sabrina Walker, der rothaarigen Cocktail-Kellnerin, von der Marcus behauptet hatte, sie sei Ice-Dealerin.

»Schon irgendeine Spur von ihr?«, fragte Becca neben ihm und presste ihr Bein an seines.

Er war sich jeder ihrer Bewegungen bewusst, jeder ihrer Berührungen, selbst des Augenblicks, wenn sie eine Dosis von diesem verfluchten Ice einnehmen musste, das sie am Leben erhielt. Es brach ihm das Herz, sie mit all diesen Drogen vollzustopfen und dann in diesem Casino aller Welt vorzuführen, um dadurch Tad zu einem Mordversuch einzuladen. Für Sterling war es, als wollte er mit dem Sensenmann seinen Spott treiben – so einen Mist machte man nicht, wenn man nicht den Gestank in der Nase haben wollte, der sich aufdrängt, sobald man die Radieschen von unten sieht.

Sterling wollte, dass die ganze Sache endlich ein Ende hatte. Er wollte sie in Sicherheit wissen. Und er hatte klargestellt, dass sie ohne ihn nicht einmal auf die Toilette gehen würde. Es kümmerte ihn einen feuchten Dreck, ob sie sich in die Hosen machen und diese hübschen schwarzen Jeans besudeln musste, die ihren Hintern so perfekt umschloss.

»Noch nicht«, antwortete er. »Aber auf ihrem Dienstplan steht: Freitag, fünf Uhr. Und jetzt haben wir Freitag, fünf Uhr.«

»Marcus hat auch gesagt, dass sie im Hotel wohnt, aber du hast deine Leute nach ihr Ausschau halten lassen, und sie hat sich bis jetzt noch nicht blicken lassen«, rief ihm Becca ins Gedächtnis.

»Sie wird kommen«, beteuerte Sterling. »Denn ob Marcus nun für Tad arbeitet, von Tad verfolgt wird oder sich Tad als Marcus ausgibt – diese Frau ist unsere Verbindung zu ihm. Wir finden sie. Oder er findet uns.«

»Wir sitzen hier an einem Blackjack-Tisch«, gab sie zu bedenken. »Und die einzige Person, die uns hier nicht finden kann, ist die Kellnerin mit den Freigetränken. Überall sind Kameras.«

»Sind Sie dabei?«, fragte der Croupier.

»Klar doch«, antwortete Becca und schob einen Chip für sie beide über den Tisch.

»Bingo!«, murmelte Sterling. »Fünf Uhr kommt in unsere Richtung.«

»Die richtige Bezeichnung für dieses Spiel lautet Black Jack«, neckte Becca, schaute möglichst unauffällig in Richtung der Frau und beobachtete, wie sie die Bestellung eines Mannes aufnahm. »Oh ja. Du hast recht. Sie ist deine Anruferin, diese Madame. Sie hat dieses Flair einer Königin, das andere Frauen so verabscheuen.«

»Karte?«, fragte der Croupier.

Becca warf einen Blick auf den Tisch und stupste Sterling an. »Du hast dreizehn. Der Croupier hat zwölf. Er sollte sich überkaufen. Jedenfalls laut Regelbuch. Du solltest keine Karte mehr nehmen.«

Er warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Woher weißt du das alles?«

»Ein Haufen Typen bei der NASA haben andauernd gespielt.« Sie lächelte. »Okay. Und ich habe auch gespielt.« Sie deutete auf den Tisch. »Nimm keine Karte mehr.«

»Na schön«, erwiderte er und sah den Croupier an. »Keine Karte.«

Der Croupier wirkte leicht verärgert, und Becca fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. Ihre Augen funkelten amüsiert. »Jetzt mach das Beste aus deinem Blatt.«

Sterling küsste sie, weil ihre Lippen so glänzten und so verführerisch waren, saugte tief ihren süßen Duft in sich ein, den er ein Leben lang einatmen wollte. Dann fuhr er mit seiner Hand durch die Luft.

Der Croupier drehte Sterlings Karten um und stapelte neues Geld auf Sterlings Feld.

»Du gewinnst weiter«, stellte Becca fest.

Sterling schob das Geld zum Croupier zurück. »Trinkgeld.« Dann sah er Becca an. »Das ist der Grund, warum ich nicht spiele.«

»Weil du gern gewinnst?«

»Weil ich mein Glück nicht an einem verfluchten Pokertisch aufbrauchen will, sondern dort, wo ich es wirklich nötig habe«, antwortete er und deutete auf Ursache und Ziel ihres Casinobesuchs.

»Sabrina« oder »Madame« fixierte ihn mit zusammengekniffenen Augen und wirkte unruhig und ängstlich. Gespielt unruhig und ängstlich. Sterling war kein Idiot, und sie war keine gute Schauspielerin. In ihrem tief ausgeschnittenen Cocktailkleid, das ihre Brüste kaum verdeckte, kam sie auf sie zugetänzelt. Sie war hübsch, auf Schlampenart – der »Wir-begegnen-uns-eh-nie-wieder«-Typ, bei dem man am nächsten Morgen auf Nimmerwiedersehen aus dem Bett schlüpft. Der Typ Frau, den er bevorzugt hatte, bevor Becca in sein Leben getreten war. Der Typ Frau, der dafür stand, wie seicht und leer sein Leben gewesen war.

»Und auf geht’s«, flüsterte Becca.

»Sind Sie dabei?«, fragte der Croupier erneut.

Sterling fasste ihn scharf ins Auge. »Nein, bin ich nicht, und ich gebe Ihnen ein verdammtes Trinkgeld dafür, wenn Sie endlich aufhören, mich das zu fragen.«

Sabrina erschien neben ihrem Tisch und hielt nicht allzu diskret direkt auf Sterling zu, wobei sie Becca gar nicht zu beachten schien, die nun ihrerseits Sterling einen gereizten Blick zuwarf. »Ich weiß nicht, wie Sie dahintergekommen sind, wer ich bin, aber Sie sollten sich besser bemühen, unauffällig zu bleiben und die Sache glatt über die Bühne gehen zu lassen – oder Sie bringen mich direkt ins Grab. Die Geschäftsbedingungen bleiben unverändert. Also, wenn Ihr Boss nicht bereit ist, meine Bedingungen zu erfüllen, hat sich die ganze Angelegenheit zusammen mit Ihrer Getränkebestellung erledigt.«

Sie war also Madame, und sie hatte keine Ahnung davon, dass Marcus ihn im Rahmen einer speziellen Abmachung zu ihr geschickt hatte. Oder zumindest wollte sie ihn das glauben machen. »Er ist dazu bereit«, bekräftigte Sterling.

Sie legte den Kopf schräg und taxierte ihn, als würde sie die Verlässlichkeit seiner Antwort abwägen. »Alles klar. Ich habe um neun Pause.« Sie warf einen Blick auf Becca und schaute dann wieder Sterling an. »Crystal’s Dress Shop im Forum. Dort gibt es keine Kameras. Umkleidekabine Nummer zwei. Und Ihre Frau kommt reinmarschiert. Nicht Sie. Und wenn sie nicht aushandeln kann, was ich will, verschwinde ich.«

Damit ging sie zum nächsten Tisch weiter und ließ Sterling in der absoluten Gewissheit zurück, es hier mit einer weiteren Falle zu tun zu haben – mit Becca als Opfer.

Sein und Beccas Blick trafen sich, und trotz all der Mühe, die sie sich heute gegeben hatte, einen unbeschwerten Plauderton anzuschlagen, sah er die ängstliche Beklommenheit in ihrem Blick. Doch er spürte auch, wie sich um ihre Angst herum Wellen nervöser Energie ballten, machtvoll von ihr ausstrahlten und auf ihn übergriffen.

Es spielte keine Rolle, dass sie hierhergekommen waren, um die Gefahr zu suchen, und auch nicht, dass sie sie jetzt gefunden hatten. Er wollte keine Gefahr, nicht wenn Becca zugegen war. Wie schaffte es Michael nur, sich auf den Kampf zu konzentrieren, ohne sich vor Angst um Cassandra in die Hosen zu machen? Sterling war nicht gut darin. Nie zuvor hatte er sich um Leben oder Sterben geschert. Er hatte im Augenblick gelebt, sich auf seine Instinkte verlassen und ein Risiko nach dem anderen auf sich genommen. Er sagte sich, dass er an das größere Ganze denken sollte, dem er diente, statt an die eine Frau, die ihm ans Herz gewachsen war. Doch hier saß er nun, hatte zugleich dem größeren Ganzen gerecht zu werden und ihre Sicherheit zu gewährleisen, und er konnte nur noch daran denken, dass da eine Tür war und er nichts lieber wollte, als sich Becca über die Schulter zu werfen und mit ihr davonzulaufen.

Beccas Fassade der ruhigen Gelassenheit, die sie Sterling zuliebe den ganzen Tag über krampfhaft aufrechterhalten hatte, begann zu bröckeln und hatte sich schnell in Nichts aufgelöst.

»Ich konnte nicht in ihren Kopf sehen«, sagte sie und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Sie hatten das Forum fast erreicht, nachdem sie, um den Schein zu wahren, noch einige weitere Runden am Blackjack-Tisch sitzen geblieben waren.

Sterling zog sie hinter eine Reihe Spielautomaten, die Hände auf ihren Schultern. »Du bist nervös. Wird schon klappen.«

»Was ist, wenn sie Tad ist?«

Es schüttelte ihn sichtlich. »Oh, da hast du mir aber eine wirklich sehr, sehr unangenehme Vorstellung in den Kopf gesetzt. Nein, sie ist nicht Tad. Das verspreche ich dir. Er mag sich verwandeln können, aber ich bezweifle, dass er einen so übertriebenen Gang hat.«

Sie legte die Stirn in Falten. »Du fandest ihren Gang übertrieben?«

Er lächelte und strich ihr übers Haar. »Wie der eines Callgirls, Liebling.«

»Oh. Ja. Kann ich nachvollziehen.« Ein weiterer schrecklicher Gedanke stieg in ihr auf. »Was ist, wenn mein Schild nicht funktioniert?«

»Versuch es doch mal.«

»Caleb meinte, das solle ich nicht tun. Er sagte, ich würde dadurch Dorian darauf aufmerksam machen, dass ich weiß, wie man ihn einsetzt, und ihm außerdem Zeit geben, meinen Schild auszukundschaften und ihn vielleicht zu umgehen. Ich hätte diese Frau gern berührt und versucht, auf diese Weise ihre Gedanken zu lesen, aber das war mir dann doch zu offensichtlich.«

»Erstens«, erwiderte Sterling, »habe ich keinerlei Grund zu der Annahme, dass Dorian heute hier aufkreuzen wird. Der wird sich erst blicken lassen, sobald Adam versucht, dich auf konventionellere Weise aus dem Weg zu räumen – mit gutem, altmodischem Mord. Aber wenn er das tut, haben wir die Waffen, die du und Kelly entwickelt haben.«

»Von denen wir nicht wissen, ob sie funktionieren werden«, rief sie ihm ins Gedächtnis. »Und Dorian ist schon einmal auf mich losgegangen. Du kannst unmöglich wissen, ob er nicht doch heute hier auftauchen wird, ja nicht einmal, wie nah er mir sein muss, um mein Bewusstsein wieder anzugreifen.«

»Du hast einen Schild«, gab Sterling zu bedenken. »Caleb ist im Hotel, für den Fall, dass du zusätzlichen Schutz benötigst. Und Adam wird seine wichtigste Waffe und die Quelle des Ice nicht ohne einen verdammt guten Grund riskieren.«

»Ja, gut, diese Waffe ist wirklich sehr mächtig«, räumte sie ein. »Ich bin mir nicht sicher, ob es für Dorian überhaupt ein Risiko gibt, das er in Erwägung zu ziehen hat. Er ist so stark.«

»Liebling«, sagte Sterling leise. »Bitte. Du machst dich nur verrückt. Probier einfach mal schnell aus, ob dein Schild funktioniert, und leg ihn dann wieder ab – aber behalte ihn lange genug, um dir die Sicherheit zu geben, dass er da ist.«

Becca zwang sich, ihren Atem zu beruhigen, und tat wie geheißen. Sie richtete ihren Schild auf, fühlte das Wohlbehagen zu wissen, dass er da war, löste sich dann widerstrebend aus der Sicherheit, die er ihr gab, und legte ihn ab.

»Und?«, fragte Sterling.

Sie nickte.

Er verzog die Lippen zu einem leisen Lächeln. »Gut.«

»Ich hätte sie doch berühren sollen«, meinte sie. »Dann würde ich jetzt wissen, ob sie die Wahrheit gesagt hat. Vielleicht braucht sie wirklich unsere Hilfe.«

»Und ich glaube, ich fange an, Black Jack richtig zu mögen«, erwiderte er. »Die potenzielle Versuchung verwandelt sich nur allzu leicht in Sucht. Mit anderen Worten: Gefahr und potenzielle Gefahr sind Jacke wie Hose.«

»Sie hat uns gewarnt. Sie hat uns Zeit gegeben, uns vorzubereiten. Warum sollte sie das tun, wenn sie plant, uns anzugreifen?«

»Jedenfalls nicht, weil sie auf ihre Pause wartet«, antwortete Sterling. »Rede dir bloß nicht ein, dass sie nichts Schlimmes vorhat – das verleitet dich nur zur Unachtsamkeit.«

Becca schlang die Arme um ihre Brust. »Das werde ich nicht tun. Ich weiß schon.« Aber er hatte recht. Es war genau das, was sie zu tun versuchte.

»Wahrscheinlicher ist, dass sie erst einmal denjenigen anrufen musste, für den sie arbeitet, wer auch immer das sein mag – Marcus, Iceman, Tad. Und dann musste sie die Vorbereitungen für das treffen, was auch immer in dieser Umkleidekabine stattfinden wird«, gab Sterling zu bedenken.