19

Beccas Blutbild war fast normal, jedenfalls wies kaum etwas auf Krebs hin. Es war ein Wunder, aber Becca feierte keine Party. Kelly und Sterling schienen zu verstehen, dass sie sich selbst zunächst hintanstellen wollte – wozu für sie auch die durch Dorian verkörperte Gefahr gehörte –, um sich auf die Gesamtzusammenhänge zu konzentrieren.

Sechs Stunden später beendete Becca durch einen Knopfdruck am Computer eine Sitzung mit Kelly, drehte sich vom Labortisch weg und stand auf, nur um direkt in Sterlings Arme zu rennen.

Er umfasste sie und gab ihr Halt. Hitze wallte durch ihren Bauch, und sie verspürte das drängende Verlangen, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und mit den Fingern durch sein stacheliges blondes Haar zu fahren.

»Du wachst mal wieder über mich?«, rügte sie.

»Ich wollte dir deine Dosis Ice bringen«, gab er zur Antwort, dann grinste er. »Aber ja, ein bisschen bewache ich dich auch.«

»Ich habe meinen mentalen Schild aufgerichtet«, erwiderte sie. »Ich kann es spüren. Mit mir ist alles in Ordnung. Ich schwöre es. Du brauchst nicht vor mir zu stehen und darauf zu warten, dass Dorian angreift.«

»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«, entgegnete er. »Ich bleibe dicht bei dir. Also gewöhn dich am besten daran.« Er nahm die Hände von ihren Armen. Sie fröstelte und sehnte sich schon jetzt wieder nach seiner Berührung. Er hielt ihr die Ampulle mit dem Ice hin. »Ich will nicht, dass du Entzugserscheinungen bekommst.«

Widerstrebend griff sie danach, schloss aber, statt das Ice zu nehmen, ihre Hand um seine, da ihr plötzlich etwas einfiel, das sie bei der Kontaktaufnahme mit seinem Bewusstsein begriffen hatte. »Mir geht es nicht einfach darum, dass ich diese Sucht überlebe«, erklärte sie. Aus irgendeinem Grund wollte sie, dass er das wusste. »Mir ist bewusst, dass du dir deswegen Sorgen machst; dass du dich vielleicht sogar sorgst, ich könnte meine Meinung hinsichtlich der Notwendigkeit, das Ice zu zerstören, ändern. Aber dann hätte ich dir nichts von Dorian erzählt. Ich weiß, du denkst vielleicht, ich würde meine Entscheidungen einfach nur treffen, um am Leben zu bleiben – oder zumindest dürften das andere in deinem Umfeld denken. Aber das stimmt nicht. Hier geht es um etwas, das größer ist als ich.«

Er strich ihr das Haar aus den Augen, sanft, fürsorglich, beschützend. »Dann werde ich dich wohl am Leben erhalten müssen.«

In diesem Moment wäre sie am liebsten mit ihm verschmolzen – sie wollte glauben, dass er sie beschützen, sie retten konnte. Aber das konnte er nicht. Warum sich Sand in die Augen streuen? Sie nahm die Ampulle Ice aus seiner Hand und wandte sich von ihm ab. Sie schämte sich ihrer Sucht und wollte nicht, dass er sah, wie sie die Droge nahm.

Rasch schluckte sie das Ice und legte die leere Ampulle auf den Labortisch. Das eisige Gefühl durchschoss sie, und sie griff sich an die Kehle. Plötzlich waren da Sterlings Hände auf ihren Schultern; er drehte sie zu sich um. Bevor ihr klar wurde, was er vorhatte, kämmten seine Finger auch schon durch ihr Haar, und er küsste sie heiß und fordernd. Stark und warm drängte sich sein Körper an sie.

Nach nur einem Moment des Zögerns lehnte sich Becca ihm entgegen, schlang die Arme um seinen Rücken und stöhnte, als seine Zunge über ihre glitt, sie hungrig liebkoste und neckte. Er schmeckte wie Apfelkuchen, und wenn sie nicht so heiß auf ihn gewesen wäre, hätte sie vielleicht gelacht. Schließlich hatte er tatsächlich Apfelkuchen gegessen.

Aber sie war heiß, und zum ersten Mal, seit sie Sterling kennengelernt hatte, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, küsste sie ihn – küsste sie einen Mann – mit vollkommener Hingabe. Küsste ihn, als gäbe es kein Morgen, wie eine Frau, die wusste, was sie wollte. Und was sie wollte, war er.

Lange Sekunden später riss Sterling seinen Mund von ihrem los, sah unter schweren Lidern mit Schlafzimmerblick auf sie herab, was in ihr den Wunsch weckte, ihn sogleich wieder zu küssen. »Ich dachte, du hättest deine Gründe, mich nicht zu berühren«, sagte sie herausfordernd und erkannte die von Verlangen erfüllte raue Stimme kaum als die ihre.

»Ich bin nie besonders gut darin gewesen, das zu tun, was ich eigentlich hätte tun sollen«, antwortete er und liebkoste mit dem Daumen ihre Wange. Irgendwie wurden ihre Brüste davon schwer, die Brustwarzen versteiften sich und schmerzten. Becca war noch nie so willig gewesen, sich in einem Mann zu verlieren. Andererseits war sie auch noch nie in einer Lage gewesen, in der sie nichts zu verlieren hatte als sich selbst. Es war auf eine Art befreiend, die sie bereitwillig willkommen hieß.

Sie holte tief Luft und gab sich alle Mühe, das Flattern in ihrem Magen zu vertreiben, eine Nervosität, die das Ergebnis von langen Jahren voll unterdrückter Begierde war. »Und ich habe immer genau das getan, was von mir erwartet wurde«, gestand sie. »Diesmal nicht. Und ich will auch nicht, dass du es tust.«

Er senkte den Kopf, sein warmer Atem liebkoste ihre Haut. Die Verheißung seines Kusses trieb sie auf die Zehenspitzen, als er plötzlich zurückwich. »Sobald wir es einmal getan haben«, sagte er, und seine Stimme klang tief und voll wie alter Whiskey, »können wir es nicht mehr ungeschehen machen.«

Schon in ihrem Haus hatte er etwas Ähnliches gesagt, als er im Begriff gestanden hatte, ihr von den GTECHs zu erzählen. Sie war damals nicht zurückgeschreckt, und sie würde es auch jetzt nicht tun. Und anscheinend würde auch er sich nicht davon abhalten lassen, denn seiner Warnung zum Trotz wich er nicht weiter von ihr zurück, ließ keinen Abstand zwischen ihnen aufkommen, und sie konnte die dicke Wölbung seiner Erektion spüren. Das verlieh ihr Mut.

Becca legte ihm die Hand flach auf die Brust, spreizte die Finger und nahm das Gefühl der unter ihrer Hand spielenden Muskeln in sich auf. Sie wollte ihn berühren, wollte ihn ganz nah spüren, wollte, nur für ein kleines Weilchen, alles andere vergessen.

»Ich will nicht sterben, ohne dich ganz und gar gekannt zu haben, Sterling.«

Qual durchzuckte seine Züge. »Becca …«

Sie legte ihm die Fingerspitzen auf die Lippen. »Nicht«, murmelte sie, nahm die Finger weg und ließ sie über sein Kinn wandern. »Jeder Tag unseres Lebens könnte für jeden von uns der letzte sein. Mit diesem Bewusstsein lebe ich jetzt einfach. Ich bedaure, das nicht schon mein Leben lang getan zu haben.« Sie hatte eine Menge bereut und bedauert, seit sie wusste, dass sie Krebs hatte, und auf dieses Bedauern wollte sie jetzt gern verzichten. »Ich will dich, Sterling.«

Er blickte auf sie herab, und so hatte sie noch niemand angesehen – mit so viel siedender Hitze im Blick. Er machte ganz den Eindruck, als wollte er sie verschlingen, so wie er es einmal halb scherzhaft vorgeschlagen hatte, und Gott sei Dank schien er jetzt auch entschlossen, genau das zu tun. Er küsste sie, und es war mehr als ein Kuss. Es war eine Inanspruchnahme, eine Eroberung. Seine Lippen drückten sich auf ihre, zart zuerst und dann fest, seine Zunge drängte sich an ihren Zähnen vorbei, warm vor Verlangen, hungrig … er verschlang sie. Und sie wollte verschlungen werden, wollte ihn ihrerseits verschlingen. Wollte alle lüsternen, sinnlichen Untaten vollbringen, an die sie je zu denken gewagt, sich je auszumalen getraut hatte, die ihre Hemmungen ihr jedoch stets verboten hatten.

Becca stellte sich auf die Zehenspitzen, griff nach ihm, schmiegte ihren Körper an seinen und flehte stumm nach mehr. Sie zog ihm das T-Shirt aus der Hose und schob ihre Hände darunter. Warme Haut begrüßte sie, und sie stöhnte in seinen Mund hinein. Immer noch mehr von dieser Haut wollte sie auf ihrer spüren.

Sie schob das Shirt hoch. »Zieh es aus«, keuchte sie eng an seinen Mund gepresst.

Stattdessen fühlte sie sich auf den Labortisch gehoben, die Beine gespreizt, Sterling dazwischen. Und noch immer küsste er sie, erst sanft, tief, dann wild; er ließ die Lippen über ihr Kinn gleiten, vorbei an ihrem Ohr, an ihrem Hals hinab. Er schob ihren Laborkittel beiseite, und starke Hände glitten über ihren Brustkorb, liebkosten die Wölbungen ihres Busens.

Becca, kühn vor Verlangen, berührte ihn mit ihren Händen überall, wo sie hingelangen konnte. Als sie endlich die Hand in seinen Schritt legte und der Wölbung seiner Erektion nachspürte, stöhnte er und wich zurück.

»Bist du dir auch sicher, dass du es willst?«, fragte er mit vor Begehren heiserer Stimme. Und dieses Begehren ließ Becca nur noch heißer brennen.

Sie streichelte seine steife, lange Männlichkeit und musste unwillkürlich lächeln. »Bist du dir auch sicher, dass du es willst?«

Halb knurrte, halb stöhnte er, und er küsste sie wieder. Tief drang seine Zunge in sie ein, eine Verheißung, dass hier und heute der beste Sex ihres Lebens auf sie wartete. Und sie war bereit.

»Nicht hier«, flüsterte er dicht an ihren Lippen. »Im Bett.« Er beugte sich ein Stück zurück, um sie anzusehen. »In meinem Bett. Ich will dich in meinem Bett.«

Diese Erklärung hatte etwas Urtümliches, etwas von einem besitzergreifenden Höhlenmenschen, das sie regelrecht vor Verlangen zittern ließ. »Nimm mich mit – und nimm mich«, sagte sie, und musste fast über ihr Wortspiel lächeln.

Er hob sie vom Tisch, nahm ihre Hand und führte sie zur Tür, da klingelte plötzlich sein Handy. Ein leiser Fluch entfuhr seinen Lippen, als er es aus der Tasche fischte – es war ein anderes als das, das sie zuvor bei ihm gesehen hatte.

»Da muss ich rangehen«, entschuldigte er sich, lehnte sich an die Tür und zog sie dicht an sich, während er ins Telefon sprach, als könne er die Vorstellung, sie loszulassen, nicht ertragen. Sie genoss es und schmiegte sich an ihn, ihre Hand auf seiner Brust … ihre Lippen an seinem Hals.

Becca hörte eine gedämpfte Männerstimme, dann merkte sie, wie Sterling in Habachtstellung ging. Sie beugte sich zurück und bemerkte die Anspannung auf seinem Gesicht.

»Wie lautet die Adresse?«, fragte er, um einige Sekunden später hinzuzufügen: »Ich bin in fünf Minuten da.«

Er klappte das Handy zu, zog sie überraschend an sich und küsste sie. »Das ist für den Fall, dass du beschließt, mich nicht mehr küssen zu wollen, wenn ich zurückkomme.« Er schob sie von sich und eilte auf den Schrank zu, um verschiedenes Zubehör herauszuholen.

Als könnte so etwas passieren. »Zurück von wo? Was ist denn los?«

»Das war die Polizeibehörde von Vegas, oder genauer gesagt, mein Informant dort«, erklärte er, schnappte sich einen Army-Rucksack vom Mantelständer und füllte ihn mit den Utensilien, die er dem Schrank entnommen hatte.

»Du hast einen Informanten in der Polizeibehörde von Las Vegas?«

»Junger Bursche mit einer kranken Mutter, um die er sich kümmern muss«, antwortete Sterling. »Ich bezahle ihn. Er hilft mir, die Welt zu retten. Funktioniert für uns beide.« Er hängte sich die Tasche über die Schulter. »Wir haben ein weiteres mutmaßliches Ice-Opfer. Die unvollständigen ärztlichen Unterlagen der Regierung machen uns zu schaffen. Ich werde mein Mögliches tun, um den Körper herzubringen. Zumindest will ich Blutproben besorgen. Aber ich muss jetzt los. Das Militär hat ein Notfall-Alarmsystem für alles eingerichtet, was einer Ice-induzierten Reaktion ähnelt. Sie werden nicht lange brauchen, bis sie das Opfer für sich beschlagnahmt haben.« Er machte sich auf den Weg zur Tür.

Becca folgte ihm. »Ich komme mit.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein.« Seine Stimme klang entschieden. »Du kommst nicht mit. Es ist zu gefährlich. Adam ist hinter dir her. Das weißt du.«

»Mir könnten vielleicht Einzelheiten an diesem Opfer auffallen, die du übersehen würdest«, gab sie zu bedenken. »Wir haben nicht viel Zeit, um dieses Rätsel zu lösen, Sterling. Ich muss dabei sein. Ich muss diese Gelegenheit nutzen, um herauszufinden, was wir übersehen haben.«

»Selbst wenn ich es in Erwägung ziehen würde – und das werde ich nicht –, muss ich windwalken, um vor dem Militär dort zu sein.«

Verzweiflung stieg in ihr auf. Diese Gelegenheit könnte so wichtig sein. Vielleicht entscheidend. Ihre einzige Hoffnung. »Kannst du mich nicht mit dir transportieren?«

»Der Transport von Menschen mit dem Wind kann ein tödliches Risiko für sie darstellen.«

Drängend hielt sie dagegen: »Ich unterscheide mich von den meisten anderen Menschen. Ich bin nicht einmal wie die meisten Ice-Süchtigen. Das haben wir bewiesen. Wir können nicht riskieren, etwas zu übersehen. Du musst mich mitnehmen. Mir wird schon nichts passieren.«

»Das kannst du nicht wissen.«

»Und du kannst nicht wissen, dass es nicht so sein wird. Auf der einen Seite steht ein Leben auf dem Spiel, mein Leben, und auf der anderen das ganze Land. Du weißt, dass es da keine andere Entscheidung geben kann. Du musst mich mitnehmen. Wir verschwenden mit dieser Debatte nur Zeit.« Sie griff nach seinem Arm. »Gehen wir.« Er zögerte, und sie fügte hinzu: »Ich muss sowieso sterben. Ich darf selbst entscheiden, wie. Und ich entscheide mich, es zu tun, indem ich Leben rette.«

Er blieb still stehen, fluchte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich muss wahnsinnig sein, das überhaupt in Erwägung zu ziehen.«

Das kam einem Ja so nahe, wie sie es sich nur wünschen konnte, und Becca handelte sofort. Sie eilte zum Schrank, schnappte sich weiteres medizinisches Zubehör, lief dann zu Sterling zurück und übergab ihm alles. »Steck die Sachen in deinen Rucksack.«

Er warf ihr einen grimmigen Blick zu. »Ich schwöre«, brummte er, »ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, die mich derart nach ihrer Pfeife hat tanzen lassen wie du.«

Sie dachte an das, was Caleb über seinen Bruder gesagt hatte, reckte das Kinn und wiederholte seine Worte. »Ich sehe das als Kompliment.«

Sterling griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich. Seine Resignation zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie sollte gleich windwalken, was sie mit aufgeregter Neugier erfüllte, aber ohne einen Funken Angst.

Im Moment, so kam es ihr vor, könnte sie sterben, um zu leben. Oder vielleicht lebte sie, um zu sterben? So oder so – sie brannte darauf, diese medizinische Probe an sich zu bringen.

Weniger als eine Minute später öffneten sich stählerne Sicherheitstüren, und unsichtbare Windböen wehten ins Innere des Neon. Sterling zog Becca dicht an sich, und mehrere Sekunden wankte er in seiner Entscheidung, sie mitzunehmen. Vielleicht tat er oft nicht das, was man von ihm erwartete, aber er war auch nicht der Typ, der Dummheiten machte. Becca mitzunehmen lag irgendwo in der Mitte zwischen beidem, wahrscheinlich mit leichter Tendenz zur Dummheit. Aber ihm blieb im Augenblick nicht viel Zeit für solche Überlegungen. Diese Gelegenheit würde ungenützt verstreichen, wenn er jetzt nicht handelte.

»Mir wird schon nichts zustoßen«, sagte Becca und strich ihm über die Wange, als spürte sie sein Zögern oder lese seine Gedanken. »Gehen wir, bevor sie dieses Ice-Opfer weggebracht haben.«

Unglaublich. Wirklich verdammt noch mal nicht zu fassen. Becca schien nicht die leiseste Angst zu verspüren und mit der Vorstellung, dass Windwalken für einen Menschen tödlich sein konnte, überhaupt nichts anfangen zu können. Erst der Krebs und dann diese Hölle bei Adam – irgendwie hatte sie eine unnatürliche Unempfindlichkeit gegenüber Angst entwickelt.

Bevor er es sich noch selbst hätte ausreden können, fasste Sterling nach Becca – und gleichzeitig auch ein klein wenig Zuversicht. Es schien, als bekäme er in letzter Zeit immer mehr von beidem zu fassen. Er betätigte den Knopf, um die Türen zu verschließen, dann verschwanden sie im Wind.