28

»Oh mein Gott«, murmelte Becca. »Sag mir, dass wir nicht Michaels Wagen genommen haben.«

Sterling lenkte den Mustang auf den Parkplatz von McDonald’s, wo er sich mit Marcus treffen wollte. »Nicht einfach nur sein Auto«, stellte er richtig. »Sein Ein und Alles.«

»Er wird mächtig sauer sein«, bemerkte sie.

»Gut«, gab Sterling zurück. »Er hat es verdient, sauer zu sein.«

»Brich keinen Streit mit ihm vom Zaun, nur weil du auf mich wütend bist«, sagte sie tadelnd.

Sein Handy klingelte. »Ich bin nicht wütend auf dich«, meinte er und riss das Telefon aus dem Gürtel. Er war wütend auf die ganze Welt, weil sie ihm Becca nehmen wollte, und das schon bald. Er konnte es in den Knochen spüren.

Er fuhr in eine unauffällige Parklücke an der Rückfront des Fastfood-Restaurants und hielt vergeblich nach Marcus Ausschau, bevor er auf sein Handy sah. Mit einem leisen Knurren nahm er den Anruf entgegen. Zu sagen, dass seine Stimmung mies war, wäre eine Untertreibung gewesen.

»Zehn beschissene Tage lang haben Sie meine Anrufe ignoriert, Riker«, sagte er mit schneidender Stimme.

Riker ließ sich von Sterlings Laune nicht beeindrucken und antwortete: »Die Liebe wächst mit der Entfernung.«

»Die Feigheit auch«, blaffte Sterling zurück. »Wir haben herausgefunden, dass die Toten einen Drogencocktail im Blut hatten. Und das haben wir nicht gerade Ihrer Hilfe zu verdanken.«

»Ich sammle die Leichen ein«, erwiderte Riker trocken. »Ich untersuche sie nicht. Und ich entscheide auch nicht, wer was wissen darf.«

Sterling gab einen angewiderten Laut von sich. »Bullshit. Sie leiten das Ice-Abwehrsystem der Army. Sie wussten über Eclipse Bescheid, und Sie wussten auch, wie nötig ich dieses Wissen brauchte. Ihr Typen wollt unsere Hilfe, und trotzdem lasst ihr uns im Dunkeln tappen.«

»Ihr Typen?«, fragte Riker ungläubig. »Sie meinen die US-Army?«

»Ich meine die korrupten Scheißkerle über Ihnen, die sich als US-Army ausgeben«, korrigierte Sterling, erwog kurz, den Motor abzuwürgen, und beschloss dann, ihn laufen zu lassen – für den Fall, dass Becca schnell fliehen musste. »Während die Army damit beschäftigt ist zu planen, was immer diese Typen im Schilde führen – zweifellos etwas, das den Renegades nicht gefallen wird –, macht Adam Boden gut, und unschuldige Leben werden in Gefahr gebracht.«

Ein silberner Porsche bog in die Zufahrt des Restaurants ein. Eine Nobelkarosse – kein Zweifel: Marcus. Zeit, das Gespräch zu beenden. »Das Ice wird nicht aus Adams DNA hergestellt«, teilte Sterling Riker noch rasch mit. »Wenn Sie mehr wissen wollen, dann sorgen Sie dafür, dass irgendjemand Kellys Anrufe beantwortet und dass sie bekommt, was sie will. Mir ist es egal, ob es der Klebezettel auf Ihrem verdammten Leichenkühlschrank oder sonst was ist.« Er legte auf und sah Becca in die Augen. »Bleib hier drinnen.«

Sie streckte die Hand nach der Tür aus. Er hielt ihren Arm fest. »Ich habe gesagt, bleib hier drinnen.«

»Wenn mich hier keiner sieht, dann bin ich ganz umsonst hergekommen«, wandte sie ein und warf ihm funkelnd einen trotzigen Blick zu.

Er packte und küsste sie, nahm einen langen und ausgiebigen Zug von dem, was immer mehr zu seiner eigenen Sucht wurde. Er wollte sie nicht hier haben, wo sie ihr Leben riskierte. Denn er hatte keinen Plan, wie er es vielleicht retten konnte.

»Das hier ist kein Bungee-Sprung, Becca«, erklärte er heiser. »Wir haben diese neuen Nikotinwaffen noch nicht. Wir haben noch nicht einmal Verstärkung im Rücken. Marcus entgeht nichts. Er wird mitbekommen, dass du hier bist. Das ist alles, was wir wollen.« Er ließ sie los. »Verriegel die Türen, und beim ersten Anzeichen von Ärger machst du, dass du hier wegkommst.«

Sie nickte. »Okay. Hör auf, dich so … wütend aufzuführen.«

»Verdammt, es ist mir zuwider, was du da vorhast, Becca, und es macht mir höllisch zu schaffen, dass mir kein uneigennütziger Grund einfällt, um dich aufzuhalten. Also bin ich wütend, wann immer ich es will.« Er wartete nicht auf eine Antwort. Er stieß die Tür auf und schritt gemächlich auf die andere Seite des Mustangs hinüber, versuchte, das Unbehagen, das seinen Bauch zusammenkrampfte, mit einer lässigen Fassade zu überdecken.

Marcus lehnte an der Fahrerseite des schnittigen silbernen Porsches, die Arme verschränkt, eine Sonnenbrille von Oakley über den Augen. Sein eleganter Anzug aus Italien, Frankreich oder weiß der Teufel woher stand in deutlichem Kontrast zu Sterlings Jeans und T-Shirt.

»Eine tolle Art, unauffällig zu sein, Marcus«, sagte Sterling gedehnt und ließ seinen Blick über den Porsche wandern. »Oder vielleicht habe ich dich am Telefon ja falsch verstanden, und du hast gesagt: ›Sei möglichst auffällig‹.« Er schnaubte. »Allerdings wäre ich jede Wette eingegangen, dass du ein Lamborghini-Typ bist … wenn ich um Geld wetten und Glücksspiele machen würde, was nicht der Fall ist.«

»Wenn du ein Spieler wärest, Sterling«, erwiderte Marcus langsam, »würden wir uns jetzt nicht unterhalten. Wir würden uns überhaupt nicht unterhalten. Ich spiele nicht. Ich entwerfe Strategien, um zu gewinnen, und dann gewinne ich. Und nur damit das klar ist: Ich habe eine ganze Reihe von Autos. Und, ja, einer von ihnen ist ein Lamborghini.«

Sterling hätte viel darum gegeben, durch diese verdammte Sonnenbrille sehen zu können, und er fragte sich, was Marcus hinter den Gläsern versteckte. »Und nur, damit das klar ist: Das hast du nur um deines viel zu aufgeblähten Egos willen gesagt.« Dann fragte er mit ungeduldiger Stimme: »Warum sind wir hier, Marcus?«

»Ich weiß, wo du das Ice herbekommen kannst, das du willst.«

Sterling runzelte die Stirn. »Ich höre.«

»Wie es scheint, sind meine Casinos durch einen von Adams Dealern unterwandert worden«, berichtete er. »Ich habe die fragliche Frau identifiziert. Und ich möchte die Sache folgendermaßen angehen: Du machst mit ihr das Geschäft, wie du es vorgehabt hast. Mein Anteil bleibt wie gehabt, und ich setze dir weitere fünfzig Riesen auf die Rechnung.«

Sterling lehnte sich an den Mustang, hauptsächlich deshalb, weil es Michael in Rage bringen würde – und er war heute wirklich in der Stimmung, die ganze Welt in Rage zu bringen. »Wenn das deine Art ist, mir zu sagen, dass es dir leidtut, die ganze Zeit ein Arschloch gewesen zu sein«, sagte Sterling, »dann gefällt mir, wie du dich entschuldigst.«

Marcus warf Sterling einen USB-Stick zu. »Bilder und alle relevanten Details. Sie heißt Sabrina, eine Cocktail-Kellnerin in unserem Belladonna-Casino, die, wie mir mehrere meiner Angestellten versichern, in diesem Ice-Ring ganz oben steht. Will sagen, sie ist nicht nur eine kleine Dealerin. Mach dein Ding mit ihr, verdammt, mach’s mit ihr, ist mir völlig egal. Dann sieh zu, dass du sie mir vom Hals schaffst. Ich brauche diese Art Ärger nicht, sie versaut mir nur das Geschäft. Freitagabend hat sie wieder Dienst – drei Tage zu spät, meiner Meinung nach. Sie wohnt im Hotel. Sie sollte irgendwo in der Nähe sein.«

Sterling wurde misstrauisch. Das roch nach Ärger. Eine Frau, weit oben an der Spitze der Vertriebskette – klang ganz nach seiner Anruferin, dieser Madame. Ein Zufall? Nur wenige Dinge waren Zufall. Wie etwa das mit Becca und ihm, dachte er und schob den Gedanken beiseite. »Warum nimmst du nicht jemand von deinen Sicherheitsleuten dafür?«

»Je weniger die ganze Sache mit mir und meinem Personal zu tun hat, desto besser für mein Geschäft.« Sein Blick wanderte zu dem Mustang und zu Becca auf dem Beifahrersitz. »Ist das deine neue Assistentin?«

Sterling kniff kaum wahrnehmbar die Augen zusammen. »Wer hat dir erzählt, dass ich eine neue Assistentin hätte?«

»Ich tue einfach nur das meinige, um Eddies Arztrechnungen für seine arme kranke Mutter zu bezahlen.« Er lachte. »Es gibt nichts, was du weißt, das ich nicht weiß.« Er öffnete die Autotür und schlüpfte hinein. Seine Arroganz war offenbar so groß, dass er davon ausging, dass Sterling seine Forderungen einfach annehmen würde.

Sterling steckte den USB-Stick ein und sah zu, wie Marcus davonfuhr. Da war noch etwas anderes, das ihm zu schaffen machte. Es gibt nichts, was du weißt, das ich nicht weiß. Diese Aussage beunruhigte ihn und das nicht wegen Eddie. Eddie wollte seine Mutter um jeden Preis retten. Allerdings würde Sterling nun ein paar ganz spezielle Worte mit ihm wechseln. Nein, es ging um Marcus. Marcus war in allem korrekt und exakt, selbst in seiner Sprache. Vielleicht begann er jetzt unvorsichtig zu werden, aber das war wenig wahrscheinlich. Marcus schützte sich durch Vorsichtsmaßnahmen, die so undurchdringlich waren wie die Verteidigungsanlagen von Sunrise City.

Sterling schüttelte den Kopf. Es ging weniger darum, was der Mann gesagt hatte. Da war noch etwas anderes. Warum weckte die Gelegenheit, einer von Icemans Topdealerinnen derart nahe zu kommen, solches Unbehagen in ihm? Scheiße, verdammt. Irgendetwas stimmte da nicht. So viel war ihm bewusst.

Dann verzog er das Gesicht. Klar. Brillante Beobachtung. Natürlich stimmte da etwas nicht. Er stieß auf Ärger, wo er hinschaute. Adam versuchte, die Weltherrschaft zu übernehmen, und er selbst stand im Begriff zu erleben, dass ihm seine eigene Welt unter den Füßen weggerissen wurde, weil er sich in eine Frau verliebt hatte, der es bestimmt war, ihm das Herz aus dem Leib zu reißen.

Sabrina fläzte sich am Fußende ihres Betts auf dem Bauch, die Füße in die Luft gestreckt, und starrte Iceman an. Er saß auf seinem Stuhl gefesselt da und funkelte sie mit Verachtung in den Augen an. In ihnen lag das Versprechen, dass er sie dafür bezahlen lassen würde.

»Du hättest mich nicht als selbstverständlich hinnehmen sollen«, sagte sie. »Genau das hat dazu geführt, dass du jetzt an diesen Stuhl gebunden bist.« Sie stieß einen angewiderten Laut aus. »Und, gütiger Himmel, es ging alles so einfach. Ich kann gar nicht glauben, dass ich dich für mächtig und sexy gehalten habe.« Sie musterte ihn bösartig. »Jetzt schau dich nur an. Du bist schwach und jämmerlich. Leicht zu überlisten. Warst nichts als heiße Luft.«

Sie erwartete keine Antwort. Nicht mit dem Knebel in seinem Mund. Schweigend mochte sie ihn ohnehin lieber. Sie hatte sich so viel von seinen Versprechungen angehört, dass es für ein ganzes Leben reichte.

Die Türklinke klapperte, und Sabrina richtete sich erwartungsvoll auf. Das hauchdünne rote Seidenkleid, das sie trug, hatte sie eigens für Tad ausgesucht. Zuerst hatte sie ihn gehasst. Aber das hatte sich geändert, so wie sich die Sache mit ihrer Sehnsucht nach Iceman geändert hatte. Sie wollte ihn. Wollte, was er ihr geben konnte: die Möglichkeit, sein Lebensband zu werden und in einem neuen Weltreich zu leben – in Zodius City. An einem Ort, wo man ihre Bemühungen zu schätzen wusste, statt sie zu bestrafen, wie es bei den Renegades der Fall gewesen wäre.

Die Tür wurde geöffnet, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie vor sich Iceman auftauchen sah, der doch fest an den Stuhl gebunden war. Er schlug die Tür hinter sich zu, und binnen eines Wimpernschlags hatte er sich in Tad verwandelt. Ein Glücksschauer durchfuhr sie. Der perfekte Traummann. Er konnte jeder sein, den sie haben wollte. Eine verdammt heiße Sache.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte sie mit gespannter Erwartung. »Hat Sterling dir die Geschichte abgenommen? Hat er geglaubt, dass du Marcus bist?«

»Er hat es nicht nur geglaubt«, antwortete Tad. »Er hat eben in diesem Moment Rebecca Burns bei sich.«

Tad ging zum Nachttisch, öffnete eine Schublade, nahm eine Ampulle Ice heraus und leerte sie. »Sie war so nah, und ich konnte sie nicht anrühren, ohne befürchten zu müssen, ohnmächtig zu werden. Kein Wunder, dass Adam sie tot sehen will. Sie ist eine Bedrohung.«

»Nehmen alle GTECHs Ice

»Sie wissen nichts von den besonderen Fähigkeiten, die es ihnen verleihen kann«, gab er zurück. »Also, warum sollten sie?«

Sie legte den Kopf schief. »Und du willst auch nicht, dass sie es wissen, nicht wahr? Dir gefällt es, etwas zu sein, das sie nicht sind.«

Er setzte sich und gab ihr keine Antwort, sondern nur ihre eigene Ampulle Ice, zusammen mit einer Dosis Eclipse. Die sie gern nehmen wollte, aber … sie warf ihm einen zweifelnden Blick zu. »Ich dachte, du hättest gesagt, Eclipse würde mich töten.«

»Es nicht zu nehmen, könnte dich ebenfalls töten«, gab er zu bedenken. »Das Lebensband wird dich von deinem Verlangen nach Drogen befreien. Bis dahin musst du stark bleiben.«

Sie wusste nicht, wie man ein Lebensband knüpfte, aber sie wollte unbedingt ein Mitglied der Elite von Adams Welt werden, und genau das hatte ihr Tad versprochen. Aufregung machte sich in ihr breit. »Und wann wird es so weit sein?«

»Wenn ich ihm von Eclipse erzähle«, antwortete Tad und half ihr, die Ampulle an ihren Mund zu führen. »Wenn die Zeit dafür gekommen ist.« Er hob die Ampulle über ihren Lippen an und drückte den Eclipse-Stern gegen ihre Hand.

Wonne strömte in einem wahren Regenbogen aus Farben über sie hinweg, eine süße Wonne, die einem Orgasmus verdammt nahe kam. Sie kletterte auf seinen Schoß, musste ihrer Lust ein Ventil bieten. Während sie ihm die Hände um den Hals legte, schaute sie zu Iceman hinüber. Sie wollte, dass er zusah.

Aber bei alledem hatte sie ihre Fragen nicht vergessen. »Wann ist denn die Zeit dafür gekommen?«

Tad strich ihr grob über die Brüste, wie um ihre Größe zu prüfen. »Adam straft gnadenlos, wenn er nicht alles, was er will, bekommt, und zwar, wann er es will. Und er belohnt es großzügig, wenn alles nach seinen Wünschen geht. Wir werden ihm von deiner Bereitschaft erzählen, ein Lebensband einzugehen, wenn wir ihm die Neuigkeit überbringen, dass die Ice-Todesfälle ein Ende gefunden haben. Genau wie Rebecca Burns’ Leben.«

Sie biss sich auf die Unterlippe und lächelte, schmiegte sich gegen seine Lenden. »Ich kann dich auch jetzt belohnen.«

Das Zimmertelefon läutete, gleichzeitig auch ihr Handy. Sie verdrehte die Augen. »Es ist J.C. Er ruft andauernd an. Er sagt, er brauche Iceman.«

Tad schob sie von sich. »Sag ihm, er soll heraufkommen«, befahl er. »Vielleicht brauchen wir Madame gar nicht. Sterling ist zusammen mit Rebecca Burns hier in der Stadt. Wir werden ihn von diesen beiden Clannern aus dem Lagerhaus, die sich Sterling neulich nachts vorgeknöpft hat, zu uns locken lassen.«

Gottverdammt, es gefiel ihr wirklich, Madame zu spielen. Sie griff nach dem Telefon. »Er ist hier«, sagte sie zu J.C. und gab ihm gar keine Zeit, selbst das Wort zu ergreifen. »Komm in mein Zimmer. Er will mit dir sprechen.« Sie legte auf.

Tad lächelte. Er ging zu seinem Gefangenen hinüber und fasste ihn ins Auge. In Icemans Blick trat ein verächtlicher Ausdruck. »Ich an deiner Stelle würde mich nicht so ansehen – es sei denn, du willst deine Eier in der Kehle haben.« Er trat gegen den Stuhl, sodass er umfiel, und stieß den Fuß in Icemans Brust. »Andererseits, was spielt es auch für eine Rolle? Ich habe entschieden, wie meine Belohnung dafür aussehen soll, dass ich Adam einen Gefallen tue: dein Leben. Luxuskarossen. Deine Frau in meinem Bett. Jede Menge Geld und Macht. Ich will du sein. Ich bin der neue Iceman.« Tad lächelte. »Was bedeutet, dass der alte sterben muss. Ich knips dir das Licht aus, Marcus.« Tad zermalmte seine Brust mit dem Fuß.